Die Amerikanische Akademie für Notfallmedizin bestätigt: Jedes Jahr werden ein bis zwei Dutzend erwachsene US-Amerikaner in die Notaufnahmen eingeliefert, weil sie sich kastriert haben. Meist mit Küchenwerkzeugen, manchmal mit Drahtzangen. Überlebende Patienten beantworten die naheliegende Frage in der Regel damit, ihr Geschlechtstrieb sei zu einer Quelle unerträglicher Konflikte und Ängste geworden. Der Wunsch nach vollkommener Triebbefriedigung bei gleichzeitiger realer Unmöglichkeit vollkommener Triebbefriedigung zu jedem beliebigen Zeitpunkt habe eine Spannung produziert, die sie nicht mehr aushalten konnten.
Den gut dreißig testosteronisch leidenden Männern, deren Fälle in den letzten beiden Jahren aktenkundig geworden sind, möchten Ihre Autoren diese Reportage widmen. Und den gequälten Seelen, die 1998 eine Autokastration erwägen, möchten wir zurufen: »Stopp! Haltet inne! Legt die Küchenwerkzeuge und/oder Drahtzangen aus der Hand!« Denn wir glauben, wir haben eine Alternative gefunden.
Jedes Frühjahr vergibt die Academy of Motion Picture Arts and Sciences Auszeichnungen für herausragende Leistungen in allen Sparten des Mainstreamkinos. Das sind die Oscars. Das US-amerikanische Mainstreamkino stellt eine eigene große Industrie dar, und die Academy Awards sind ein Teil davon. Die offenkundige Kommerzialisierung und Scheinheiligkeit der AA widern viele der Abermillionen Zuschauer an, die sich zur besten Sendezeit einschalten und die Gala verfolgen. Es ist kein Zufall, dass die Oscars in der Quotenerhebungswoche verliehen werden. Wir schalten praktisch alle ein, obwohl es grotesk ist, einer Branche bei der Selbstbeweihräucherung zuzusehen, sie sei noch eine Kunstform; Zeuge zu werden, wie Leute in 5.000-Dollar-Garderoben von ihren PR-Managern verfasste Klischees von Überraschung und Bescheidenheit aneinanderreihen usw. – der ganze zynische postmoderne Kappes –, aber trotzdem schauen wir anscheinend alle zu. Fiebern mit. Wir schalten ein, obwohl die Verlogenheit wehtut, obwohl Einspielergebnisse am Eröffnungswochenende und Marketingstrategien heute einen höheren Nachrichtenwert als die Filme selbst haben, obwohl Cannes und Sundance reine Industriegebiete geworden sind. In Wahrheit hat all das seine fröhliche Unschuld verloren. Schlimmer noch, es scheint eine riesige unausgesprochene Verschwörung am Werk zu sein, denn wir tun alle so, als gäbe es fröhliche Unschuld überhaupt noch. Finden es komisch, wenn Bob Dole Werbung für Visa macht und Gorbatschow Pizza Hut anpreist. Der ganze Mainstream-Starrummel will nur noch Kasse machen, gratuliert sich aber die ganze Zeit dazu, so zu tun, als würde er nicht Kasse machen. Im Grunde ist uns aber allen klar, dass die Sache zum Himmel stinkt.
Ihre Autoren haben in aller Bescheidenheit eine Alternative anzubieten.
Jeden Januar richtet die anspruchsloseste Stadt von ganz Amerika die Annual AVN Awards aus. AVN steht für Adult Video News. Was das Magazin Variety für die Film- und Unterhaltungsbranche ist, ist Adult Video News für die US-amerikanische Pornoindustrie. Die dicke, schön gestaltete Zeitschrift kostet 7,95 $ pro Heft, besteht zu rund 80% aus Werbung und richtet sich an den Porno-Einzelhandel. Die Auflage liegt bei schätzungsweise 40.000 Exemplaren.
Die Kreativität der Unterhaltungsbranche in Sachen Bilanztrübung ist zwar legendär, aber es ist doch eine weltweit anerkannte Tatsache, dass die Pornobranche der USA mit 3,5–4 Milliarden Dollar Jahresumsatz, Verleiheinkünften, Kabelgebühren und Einnahmen aus Videokabinen eine noch größere und effizientere Goldgrube als das amerikanische Mainstreamkino ist (dessen Jahresumsatz auf 2–2,5 Milliarden Dollar geschätzt wird). Den Mittelpunkt der Pornobranche der USA bildet das San Fernando Valley um Los Angeles, nur eine Hügelkette von Hollywood entfernt.[775] Es gibt Insider, die die Pornobranche Hollywoods bösen Zwilling nennen, für andere ist sie der große rote Sohn des Mainstreams.
Es ist kein Zufall, dass es die Adult Video News – eine teure Hochglanzzeitschrift, deren Artikel bessere Infomercials sind – und ihre jährlich verliehenen Preise seit 1982 gibt. In die frühen Achtziger fällt schließlich das Aufkommen von Videorekordern und Videotheken, denen die Pornobranche ungefähr genauso viel zu verdanken hat wie der Profifootball dem Fernsehen.
Aus der AVN-Pressemitteilung vom 12.11.1997 (auch unter www.avn.com zu finden):
Heute wurden die Nominierungen der 15. Annual AVN Awards bekannt gegeben.[776] Die diesjährige Preisverleihung begeht das 15. Jubiläum der AVN und feiert »Geschichte« [sic!].
Auf zwei Abende verteilt werden Auszeichnungen in rekordverdächtigen 106 Kategorien verliehen.
Die Pornoindustrie hat 1997 fast 8.000 Pornos herausgebracht, darunter über 4.000 »Erstveröffentlichungen« (Nicht-Kompilationsfilme). AVN hat im vergangenen Jahr jede Neuveröffentlichung in allen Kategroien [sic!] begutachtet und über 30.000 Sexszenen registriert.[777]
Im Vergleich dazu qualifizierten sich im Vorjahr rund 375 Filme für die Academy Awards, die diese Juroren [sic – man darf wohl annehmen, dass es sich um andere Juroren als die AVN-Juroren handelte] sehen mussten. AVN musste eine mehr als zehnmal so große Menge an Erstveröffentlichungen begutachten, um über die Nominierungen zu entscheiden [Sprachgebrauch und Redundanz sic; 4.000 durch 375 ist aber tatsächlich mehr als zehn].
Aus der Dankesrede von Tom Byron, Samstag, 10. Januar 1998, Caesars Forum Ballsaal, Caesars Palace Hotel und Kasinokomplex, Las Vegas, Nevada, nach der Verleihung des AVN-Preises 1998 für den Männlichen Performer des Jahres (mit Gefühl vorgetragen): »Ich möchte jeder schönen Frau danken, in die ich je meinen Schwanz gesteckt habe.« [Lachen, Johlen, Ovationen.]
Aus der Dankesrede von Jeanna Fine, ebd., nach der Verleihung des AVN-Preises 1998 für die Beste Nebendarstellerin für ihre Rolle in Rob Blacks Miscreants: »Meine Güte, wofür ist der? Für Miscreants? Meine Güte, das war auch so ein Film, wo ich das Skript gelesen und gedacht hab, ›Ach du Scheiße, dafür komm ich in die Hölle‹. [Lachen, Johlen.] Aber das macht nichts, denn alle meine Freunde werden auch da sein.« [Schallendes Gelächter, Johlen, Applaus.]
Aus dem Verleihungspausengeplänkel von Bobby Slayton, Profikomiker und Conférencier der AVNAs 1997: »Ich weiß aber, dass ich gut aussehe, quasi jünger, weil ich mich jetzt an ein altes griechisches Rezept halte – für jedes graue Haar, das ich finde, fick ich meine Frau in den Arsch. [Kein Lachen, vereinzeltes Stöhnen.] Ihr könnt mich mal. Das ist ein prima Witz. Ihr könnt mich mal.«
Bobby Slayton, ein Dice-Clay-Verschnitt mit Reibeisenstimme, der jede einzelne weibliche Performerin als »die Frau, für die ich mir den Schwanz abschneiden werde« ankündigte und der die diensthabenden Printmedienfuzzis sowohl durch seine Witze mit Bart als auch durch seine Ähnlichkeit mit jedem einzelnen Hochhaus-Koksdealer verblüffte, den wir je gekannt haben, fehlt gottlob bei der Awards-Gala 1998. Der diesjährige Conférencier ist Robert Schimmel, der Sketche für In Living Color geschrieben hat und regelmäßig in der Howard Stern Show zu sehen ist. Er sieht aus wie ein verwahrloster, aber tief gebräunter Wallace Shawn und ist genauso heiser wie B. Slayton, nur viel besser. Pantomimisch führt er vor, wie jemand mit einer Gummipuppe zu schlafen versucht, die er aus Faulheit nur halb aufgeblasen hat. Er stellt sein eigenes kümmerliches Getröpfel den vulkanischen Orgasmen gewisser gut bekannter männlicher Performer gegenüber[778] und vergleicht ihre Ergüsse mit automatischen Rasensprengern, deren Akustik er unheimlich gut nachahmt. 1998 sitzen alle Printmedienfuzzis zusammen an Tisch 189 ganz hinten im Ballsaal. Die meisten dieser Journalisten arbeiten für Männerzeitschriften, die im Kiosk eingeschweißt an der Kasse liegen; wahrlich ein weltläufiger Zynikertrupp, aber zwei davon – die unter den Pseudonymen Harold Hecuba und Dick Filth arbeiten – bringt Schimmel dermaßen zum Wiehern, dass die Leute vom benachbarten Anabolic-Video-Tisch schon genervt zu uns rübersehen. Bei einer Schote über vorzeitigen Samenerguss kriegt Dick Filth, Tatsache, ein Stück Sushi in den falschen Hals.
… aber das passiert alles bei der Hauptveranstaltung am Samstagabend. Und diesem Höhepunkt am Samstag gehen Festivitäten sonder Zahl voraus.
Die Pornobranche ist vulgär. Sieht das jemand anders? Eine Kategorie der AVN Awards heißt »Bester Analsexfilm«; eine andere lautet »Beste Gesamtkampagne Marketing – Firmen-Image«. Irresistible, 1983 mit Preisen in mehreren Kategorien ausgezeichnet, wird in Adult Video News seit fünfzehn Jahren in Folge Irresistable buchstabiert. Die Branche ist nicht nur vulgär, sie ist berechenbar vulgär. Alle Klischees stimmen. Der typische Pornoproduzent ist wirklich ein hässlicher Giftzwerg mit schlecht sitzendem Toupet und Klunkern am kleinen Finger. Der typische Pornoregisseur ist wirklich ein Mann, der das Substantiv Klasse verwendet, wenn er Raffinesse meint. Das typische Pornosternchen ist wirklich eine Lady im Elastan-Abendkleid mit flächendeckend tätowierten Armen, die gleichzeitig raucht, Kaugummi kaut und Journalisten erzählt, wie dankbar sie ist, dass Wadcutter Productions Ltd. die Kosten ihrer Brustvergrößerung übernommen hat. Und die das ernst meint. Das ganze Wochenende der AVN Awards ist eine ironiefreie Zone, wie Dick Filth einmal sagt.
Aber wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass vulgär im Lexikon viele Definitionen hat und dass nur ein paar davon mit Anzüglichkeiten oder Abgeschmacktheit zu tun haben. Im Grunde bedeutet vulgär nur populär im Großmaßstab. Es ist das semantische Gegenteil von elitär oder versnobt. Es ist Pseudobescheidenheit. Es geht um Einschaltquoten, Barnums Gesetz, dass die Idioten nicht aussterben, und den Reingewinn. Es geht ums ganz große Geschäft.
1995 brachte sich der vierunddreißigjährige Pornodarsteller Cal Jammer um. Im letzten Jahrzehnt haben die Sternchen Shauna Grant, Nancy Kelly, Alex Jordan und Savannah Selbstmord begangen. Savannah und Jordan waren 1991 bzw. 1992 mit den AVN Awards für das Beste Neue Starlet ausgezeichnet worden. Savannah brachte sich um, nachdem ein Autounfall sie leicht entstellt hatte. Alex Jordan wurde berühmt, weil sie ihren Abschiedsbrief an ihren Lieblingsvogel richtete. Teammitglied und Darsteller Israel Gonzalez brachte sich 1997 im Lagerhaus eines Pornounternehmens um.
Die von L.A. aus agierende Selbsthilfegruppe PAW (Protecting Adult Welfare) betreibt eine Krisen-Hotline für Angehörige der Pornoindustrie. Letzten November wurde in einer Bowlingbahn im kalifornischen Mission Hills eine Benefizaktion für PAW in Form eines nackt ausgetragenen Bowlingturniers abgehalten. Dutzende von Darstellerinnen waren bereit mitzumachen. Zwei- oder dreihundert Pornofans kamen und zahlten dafür, sie nackt bowlen zu sehen. Weder Produktionsfirmen noch deren Manager nahmen teil oder spendeten. Die Aktion erbrachte 6.000 Dollar, was etwas weniger als zwei Millionstel des Jahresumsatzes mit Pornografie entspricht.
Wenn Sie Casino, Showgirls, Bugsy usw. gesehen haben, dann wissen Sie, dass es eigentlich drei Las Vegasse gibt. Das Binion’s, wo immer die World Series of Poker ausgetragen wird, steht für das »Alte Vegas« um die Fremont Street herum. Die Bauarbeiten an der Zukunft von Las Vegas ganz am Ende vom Strip sind noch immer nicht abgeschlossen; am Stadtrand (wo in den USA grundsätzlich die Malls hochgezogen werden) entsteht ein Haufen freizeitparkähnlicher, eher »familienorientierter« Veranstaltungsorte, wie Robert De Niro sie am Ende von Casino so denkwürdig beschreibt.
Das Las Vegas aber, das die meisten von uns vor Augen haben, Vegas in Reinkultur, besteht aus dem runden Dutzend Hotels, die die Mitte vom Strip flankieren. Vegas Populi: die opulenten, verschachtelten, grellbunten, ekstatisch dekadenten Hotels, die Cathedra des Glücksspiels, des Nachtlebens und des Live-Entertainments mit den ausgelassensten Mikrofonschwingern. Das Sands. Das Sahara. Das Stardust. MGM Grand, Maxim. Alles in Steinwurfweite. Jahresstromkosten für Neon weit im siebenstelligen Bereich. Harrah’s, Casino Royale (mit dem dazugehörigen, rund um die Uhr geöffneten Denny’s), Flamingo Hilton, Imperial Palace. Das Mirage mit dem immer angestrahlten großen gestuften Wasserfall. Circus Circus. Treasure Island mit seiner komplexen Fassade aus Decks, Takelage, Besanmasten und Baumniederhaltern. Das Luxor in seiner Form einer babylonischen Zikkurat von anno dazumal. Barbary Coast mit dem Schild LÖSEN SIE IHREN GEHALTSSCHECK EIN – GEWINNEN SIE BIS ZU 25.000 DOLLAR. Diese Hotels sind das Vegas, wie wir es kennen. Das Land von Lola und Wayne. Von Siegfried und Roy, Copperfield. Revuegirls mit turmhohen Frisuren. Sinatras Sandkasten. Die meisten in den Fünfzigern und Sechzigern erbaut, der Ära des Mafia-Schicks und Blütezeit der Unterhaltungsindustrie. Halbstündiges Schlangestehen am Taxistand. Rauchen nicht nur erlaubt, sondern fast Pflicht. Toupets und Tagungsnamensschildchen und Frauen mit Pelzen in allen Farben des Regenbogens. Ein Museum, das die größte Colaflasche der Welt ausstellt. Das Harley-Davidson-Café mit seinem riesigen Hobel im Giebel; Bally’s Hotel & Casino mit seinen phallischen Elektrosäulen, die epilepsieverursachend synchron blinken. Eine Stadt, die so tut, als wäre sie nichts als sie selbst, eine riesige Maschine des Tauschs – Spektakel gegen Geld, Sensationen gegen Geld, Geld gegen mehr Geld, Lust gegen was immer sie morgen abstrakt kosten mag.
Vergessen wir aber nicht das pars pro toto und Herzstück von Vegas schräg gegenüber vom Bally’s: Caesars Palace. Die Graue Eminenz. Von vorn bis hinten so groß wie zwanzig Walmarts. Echter Marmor und falscher Marmor, Teppiche, auf denen man in Ohnmacht fallen kann, ohne sich blaue Flecken zu holen. Allein 12.000 Quadratmeter Kasinofläche. Kuppeldecken, Lichtgaden, Tonnengewölbe. Im Caesars Palace ist Amerika zum neuen Rom geworden: Eroberer seiner eigenen Menschen. Ein Reich des Egos. Es ist atemberaubend. Im winterlichen Nieselregen fängt das Neon an zu bluten. Das alles ist so schön, dass es kaum auszuhalten ist. Für eine moderne Porno-Preisverleihung kommt kein anderer Veranstaltungsort infrage als das Caesars von Las Vegas – hier sind die Annual AVN Awards nur ein Spektakel mehr. Die Starlets werden von weit mehr Touristen und Tagungsteilnehmern erkannt, als man erwarten würde. Im ganzen Hotel riskiert man zweite Blicke. Selbst wenn sie nur herumstehen oder Münzen in Spielautomaten werfen, werden die Darsteller zur Hauptattraktion. Las Vegas lässt sich keine Chance entgehen.
Die Verleihung der AAVNAs wird immer während der Internationalen Messe für Unterhaltungselektronik (alias CES) abgehalten, die dieses Jahr vom 8. bis zum 11. Januar stattfindet. Die CES ist eine ganz große Sache und kombiniert Tagung und Talentschau der Hellsten und Schnellsten in der Welt der Unterhaltungstechnologie. Steve Forbes ist da und Thomson von DSS. Sun Microsystems stellt auf der diesjährigen CES sein PersonalJava 1.0 vor. Am Samstagmorgen spricht Bill Gates vor ausverkauftem Haus. Wichtige Unternehmer aus den Bereichen Fernsehen, Kabel und Merchandising diskutieren auf einem Podium die kurzfristige Realisierbarkeit von HDTV. Ein Forum zum Problem der Retouren durch verärgerte Kunden hat 1.500 Sitze, und es gibt nur noch Stehplätze. Die CES als Ganzes ist größer als die Heimatstädte Ihrer Autoren. Sie erstreckt sich über vier verschiedene Hotels und hat über 10.000 Stände, die einfach alles anbieten, vom »Weltweit Ersten Volltext-Pager in einer Armbanduhr« bis zur ersten selbstheizenden Satellitenschüssel aller Zeiten (»Die Lösung für Schnee und Eis!«).
Der mit Abstand beliebteste Anlaufpunkt der CES, der jedes Jahr deutlich über 100.000 Besucher zählt, ist aber die Messe für Pornosoftware[779], auch wenn die CES selbst die Pornomesse als das schwarze Schaf der Familie behandelt und ins ehemalige Parkhaus vom Sands Hotel verbannt. Diesen Komplex erreicht man von allen anderen CES-Messehallen aus nur mit dem Bus, und es ist ein riesiger fensterloser Betonklotz, der während der Öffnungszeiten der Messe Agoraphobie und Klaustrophobie zugleich erzeugt. Auf einem großen Schild steht, dass der Zutritt erst ab 21 Jahren gestattet ist. Drinnen liegt der Altersdurchschnitt bei 45, es gibt fast nur Männer, und praktisch jeder trägt irgendein Tagungsnamensschild. Jede Produktionsfirma der Pornobranche, von Anabolic bis Zane, hat hier einen Stand. Die Stände der großen Konzerne wuchern, haben unzählige Displays und erinnern an kleine Einkaufszentren. Die Spitzendarstellerinnen der Pornobranche sind oft Vertragsspielerinnen, die ausschließlich für eine bestimmte Produktionsfirma arbeiten, und bei der Awards-Gala am Samstagabend wirken viele Starlets so geschafft und zickig, weil sie dann schon 72 Stunden an den CES-Ständen ihrer Firmen hinter sich haben, den ganzen Tag auf schwindelerregend hohen Absätzen herumgestöckelt sind, Autogramme gegeben, für Fotografen posiert und Männerfleisch in allen Farben und Formen gedrückt haben.
Den Lärmpegel der CES 1998 beschreibt man am besten so: Stellen Sie sich vor, der Weltuntergang kommt in Form einer Cocktailparty. Männliche Fans bewegen sich zu dritt oder in größeren Gruppen durch das fraktale Labyrinth der Messestände. Ihre Mienen erinnern an Mittelschüler vor einem Schlüsselloch – ein Ausdruck, der auf Gesichtern mit Hängebacken und Stirnglatzen etwas Surreales bekommt. Einige sind Video-Einzelhändler; die meisten nicht. Die meisten sind Hardcorefans, das Rückgrat der Branche. Viele von ihnen erkennen nicht nur praktisch alle Darstellerinnen, sie kennen auch ihre Namen, Künstlernamen und Lebensläufe.
Es dauert im Durchschnitt zwei Stunden und zwölf Minuten, um die Pornomesse der CES zu durchqueren, wenn man mit im Schnitt vier Verzögerungen durch schikanöse Abbiegungen rechnet oder weil man sich doch nach dem barocken deckenhohen Standspiegel umdreht, der bei Heatwave Video das Display von Texas Dildo Masquerade verdoppelt. Ihre Autoren sind in Begleitung von Harold Hecuba und Dick Filth unterwegs, die sich netterweise als Führer und Dozenten angeboten haben, und hier folgt ein Sammelsurium der Dinge, die uns beim ersten Durchgang ins Auge fallen:
Bei Arrow Video posiert ein B-Starlet im Stringtanga für ein Foto und räkelt sich auf dem Schoß eines Mobiltelefonhändlers aus dem vorstädtischen Philadelphia, der so fett ist, dass er eine eigene Postleitzahl braucht. Der Mann, der knipst und dessen Namensschild Hi sagt und dass er Sherm heißt, spricht das Starlet als »Babe« an und sagt, sie soll sich doch mal so hinsetzen, »dass wir da unten ein bisschen mehr Busch zu sehen kriegen«. Bei Elegant Angel isst ein Starlet mit Kunstharzflügeln auf dem Rücken ein Milky Way und signiert Videohüllen. Neben dem Stand von Caballero Home Video steht der Schauspieler Steven St. Croix und sagt, ohne sich an jemand Bestimmtes zu richten: »Lassen Sie mich hier raus, ich muss hier dringend weg.«[780] Alle Pornovideotheken haben einen ganz bestimmten Geruch – eine Mischung aus billigem Magnetband und Desinfektionsmittel –, und das ganze ehemalige Parkhaus vom Sands stinkt danach. Asiatische Geschäftsleute bewegen sich in dichten, anmutigen Rudeln durch die Gänge und befleißigen sich großer Fröh- und Höflichkeit. Am Stand von Sin City sprayt ein junger Mann in einem farbenfrohen Frankenstein-T-Shirt Comicflammen auf die Brüste einer Schauspielerin. Die Schauspielerin – unbekannt; nicht mal Filth und Hecuba kennen ihren Namen – hat normalgroße Brüste, und die beiden locken kein großes Publikum an. Produzent/Regisseur Max Hardcore dagegen zieht scharenweise Leute an, denn an seinem MAXWORLD-Stand hockt eins seiner Mädchen auf dem Tisch und masturbiert mit dem Griff einer Reitgerte. Die Werbeplakate für Max’ Videos zeigen ihn mit einem über die Schultern gelegten Mädchen in Minishorts vor den Skylines verschiedener Städte; die Slogans unten auf den Plakaten lauten »HIER WERDEN HÜBSCHE MÄDCHEN BRUTAL IN DEN ARSCH GEFICKT! HIER GIBT’S CUMBESPRITZTE MÄDCHEN, DIE SO DOOF SIND, DASS SIE’S NICHT BESSER VERDIENT HABEN!«. Max ist eine Geschichte für sich, sagt Harold Hecuba. D. Filth und ein Pornomanager, der von Kopf bis Fuß dunkle Schottenkaros trägt, rauchen Zigarren und prüfen an den Aschekegeln immer wieder, wessen gleichmäßiger abbrennt. Viele Männer aus der Branche und sogar ein paar Starlets rauchen Zigarren. 1998 ist eindeutig das Jahr der Zigarre. Die Starlets tragen alle entweder extrem förmliche Cocktailkleider oder aber verkürzte Ensembles aus Latex/Vinyl/Elastan. Die Absätze sind durch die Bank spitz und ultrahoch. Manche Starlets tragen so viel Make-up, dass sie wie einbalsamiert wirken. Sie neigen zu komplexen Frisuren, die aus sieben Meter Entfernung echt was hermachen, aus nächster Nähe aber trocken und tot aussehen. Jemand, der entweder der Gelegenheitsschauspieler Jeff Marton ist oder Gregory Dark, der Regisseur und Erfinder des Genres »Bizarrer Schund«, führt Taschenspielertricks mit seinem Markenzeichen vor, einem Fedora.[781] Egal wer von beiden er ist, er trägt ein Ziegenbärtchen. Harold Hecuba hat auch eines; Dick Filth hat eher einen Soul Patch. H.H. und D.F., langjährige Branchenbeobachter, kennen alle Welt und werden permanent angehalten und ins Gespräch verwickelt. (Diese Verzögerungen, bei denen Ihre Aut. betreten danebenstehen und so tun, als würden auch sie hier Leute kennen und nur darauf warten, sie in der Menge zu erblicken, um ihrerseits in ausgiebige Gespräche verwickelt zu werden, sind beim Adult-CES-Durchquerungsdurchschnitt von 132 Minuten nicht mitgerechnet.) Dieses Jahr stellen gut 75 Prozent der Männer in der Pornoindustrie und ihrem Umfeld Ziegenbärtchen zur Schau.[782]
Am Stand von Outlaw Video wird ein Starlet, das ein Spaghettiträgerkleid aus Goldlamé trägt, Kaugummi kaut und große blaue Blasen poppen lässt, von einem behinderten Fan gefilmt, dessen Kamera und Parabolmikrofon an der Armstütze seines Rollstuhls festgeschraubt sind; das Starlet deutet auf die Tätowierungen am linken Arm und erklärt anscheinend deren Ursprünge und Kontexte. Im Standlabyrinth von Vivid Video[783] hat Taylor Hayes wahrscheinlich die längste Autogramm- und Fleischdrückschlange im ganzen Sands-Parkhaus. Taylor ist eine berauschende Schönheit – sie sieht aus wie eine leicht verdorbene Cindy Crawford –, und ein an der Decke über den Vivid-Ständen hängender übergroßer Bildschirm überträgt Filmausschnitte, wie sie spärlich bekleidet im Trockeneisnebel tanzt. Auf dem Boden neben dem Tresen sind Videokassetten aufgetürmt worden, und ein Hüne mit Schirmmütze und Kreditkartenlesegerät flankiert Taylor, die jeden Fan wie einen lange verloren geglaubten Verwandten begrüßt. Laut Dick Filth ist Taylor sowohl ein wirklich netter Mensch als auch ein vollendeter Profi.
Der Stand von XPlor Media – einer Firma, die mit ihrer »Southern Belles«-Videoserie und einer Website mit dem Motto ORGIE FÜR DEN WELTFRIEDEN bekannt geworden ist – ist fesselnd, weil anscheinend alle Führungskräfte unter 25 sind, und es herrscht die Stimmung einer Studentenverbindung, die seit drei Tagen durchfeiert. Ein junger Kahlkopf hat in Embryonalstellung auf dem Tisch das Bewusstsein verloren, und irgendein Witzbold hat ihm alle möglichen Federn und schlaffe Doppeldildodinger aus Plastik an den Kopf geklebt. Die beiden Regisseure, denen XPlor zugleich gehört, sind Brüder, scheckheftgepflegte Erben aus den Ballungsräumen in Connecticut hinter New York City namens Farrel und Moffitt Timlake. Besonders Farrel, der 12-Loch-Doc-Martens und Cargohosen trägt sowie etwas, das entweder ein sehr dünner Parka ist oder ein sehr dickes Sweatshirt, dessen Kapuze immer oben bleibt, ist bei der ’98er CES eine Cause célèbre, weil er anscheinend mit den beiden Typen befreundet ist, die South Park machen, und man munkelt, die seien in Vegas und hätten Eintrittskarten für das Awards-Bankett am Samstagabend.[784]
Ausnahmslos jeder schwitzt. Mit Ausnahme von ganz wenigen Ständen behandeln die Vertragsstarlets die Fans mit derselben geistesabwesenden Höflichkeit und denselben maskenhaften Gesichtern, die auch Flugbegleiterinnen und Restaurantkellnerinnen zu Gebote stehen. Wie gelangweilt die Darstellerinnen sind, erkennt man daran, wie sich ihre Mienen aufhellen, wenn sie Bekannte sehen. Weit über die Hälfte der aktuellen Superstars der Branche ist jetzt in dieser Messehalle.[785] Der berühmt-berüchtigte T.T. Boy ist da, steht mit seinem Markenzeichen herum, dem stechenden Blick, jener Boy, der angeblich immer mit einer Halbautomatik am Dreh auftaucht und den der New Yorker 1995 in einem Artikel vorstellte, der mit Sätzen wie »Die Dreharbeiten eines Pornos sind ein komplex abgestecktes Ökosystem« gespickt war. Vince Vouyer (sic!) steht ebenso zur Verfügung wie Seth Gecko, Jake Steed, Serenity, Missy und Nick East. Der zeitlose Randy West ist da, der dauergebräunt und mit Haaren wie gefrorener Gischt nach einem Surfer aussieht, der nebenbei als Mafiakiller jobbt. Jon Dough – ’96 und ’97 der Gewinner der begehrten Statuette für den Besten Schauspieler (Video) – pendelt zwischen verschiedenen Ständen und stellt wie immer den Gesichtsausdruck eines Menschen zur Schau, der eine solche Coolness und Distanziertheit entwickelt hat, dass das ganze Leben nur noch ein ausgedehntes Gähnen ist. Auch Mark Davis ist da, der gegenwärtig mit Abstand attraktivste Mann, der glatt als Doppelgänger für Gregory Harrison im guten alten Trapper John, M.D. durchgehen könnte, wenn er nicht diese ultrakurz geschorene Klapsmühlenfrisur (und ein Ziegenbärtchen) hätte.
Und dieses Jahr ist auch Joey Silvera mit seinen zwanzig Berufsjahren auf der CES, allerdings vor allem in seiner Eigenschaft als Regisseur: Silvera ist jetzt für die beliebte Analverkehrreihe »Butt Row« von Evil Angel verantwortlich.[786] Nach den bahnbrechenden Arbeiten von Pionieren wie John Leslie und Paul Thomas sind die meisten männlichen Spitzenstars heute auch Regisseure (sowie über die Label-Boxen »Präsentatoren«) ihrer eigenen Videoreihen; es gibt z.B. »Tom Byron’s Cumback Pussy«, »Jon Dough’s Dirty Stories«, die Reihe »[Diverse europäische Städte] bei Nacht« des staunenerregenden Rocco Siffredi usw. Die Soundso-präsentiert-Reihen scheinen zum Branchentrend zu werden wie Zigarren und Ziegenbärtchen.
Es ist schwer zu beschreiben, mit welchen Gefühlen man Menschen aus Fleisch und Blut anstarrt, die man als Darsteller aus Hardcorepornos kennt. Einem Mann die Hand zu schütteln, dessen Erektionsgröße, -winkel und Gefäßsystem einem intim vertraut sind. Das eigenartige Kennen-wir-uns-nicht-irgendwoher-Gefühl, das einen immer überkommt, wenn man im richtigen Leben auf einen Star trifft, wird hier noch einmal verstärkt und verzerrt. Es ist einfach absurd, die gegenwärtige Branchenkönigin Jenna Jameson zu sehen, die sich am Vivid-Stand in Jordache Jeans und einem Latexbustier gerade ein bisschen entspannt, und schon zu wissen, dass sie ein doppeltes Herz mit dem Schriftzug HEARTBREAKER auf die rechte Pobacke tätowiert trägt und links vom Anus ein kleines haarloses Muttermal hat. Zuzuschauen, wie sich Peter North eine Zigarre anzündet, während einem Erinnerungen an seine artillerieartigen Samenergüsse durch den Kopf gehen.[787] Die Gesichter dieser Menschen beim Orgasmus gesehen zu haben – jenen Blick, wenn sich ein Mensch des Schutzes der Wachsamkeit begibt und so verletzlich ist, dass man ihn jahrhundertelang praktisch heiraten musste, um diesen Blick überhaupt je zu Gesicht zu bekommen.[788] Diese Merkwürdigkeit erklärt vielleicht auch einige der komplexen emotionalen Wechselbeziehungen zwischen Darstellern und Fans bei der Adult CES. Die Stammkunden grinsen vielleicht anzüglich und boxen sich weiter weg in die Rippen, aber wenn sie die Spitze der Schlange erreicht haben und den leibhaftigen Verkörperungen ihrer Fantasiegespielinnen aus dem Videorekorder gegenüberstehen, werden die meisten zu glotzäugigen Schulbuben mit weichen Knien, die belämmert dreinschauen und einen trockenen Mund und Schweißausbrüche bekommen. Dasselbe passiert offenbar in Hunderten von Stripclubs im ganzen Land, wenn Pornostarlets (laut Filth für fünfstellige Wochengagen) als Tänzerinnen mitwirken und sich nach der Show fotografieren lassen und Autogramme geben:
»Meistens werden diese Männer unglaublich nervös, wenn ich auf sie zukomme«, sagte das Starlet Shane mal, das schon lange im Geschäft ist. »Ich lege einem Mann die Arme um die Schultern, und er zittert am ganzen Körper. Die tun so gut wie alles, was ich ihnen sage.« In der ganzen Branche gilt heute diese seltsam umgekehrte Gleichung – es sind die Konsumenten, die sich schämen oder schüchtern wirken, während die Darsteller forsch, ausgeglichen und hundertprozentig professionell sind.
Wir leben nicht mehr in den Achtzigern, und die Mentalität der Meese Commission, die zu einem scharfen Vorgehen gegen Pornovideos führte, ist längst Geschichte. Staatliche Arbeitsgruppen und die Wut von Lehrer- und Elternverbänden richten sich heute gegen das Internet und Kinderpornografie. Aber die heutige Pornoindustrie reagiert hypersensibel auf alles, was in ihrer Wahrnehmung ein faschistischer Angriff auf die vom Ersten Verfassungszusatz garantierten Rechte ist. Vor vielen höherwertigen Pornos ist heutzutage ein eigens gedrehter Trailer zu sehen, genau zwischen der Klausel zur Übereinstimmung des Produkts mit bzw. dem Ausschluss der Haftung für 18 U.S.C. § 2257 und den Werbespots für Telefonsex-Services wie 900-666-FUCK. Vor einer Kulisse aus flatternden Fahnen und dem Lincoln Memorial sagt eine Stimme sinngemäß:
Zensur verstößt gegen die Bill of Rights und gegen die Prinzipien der Gründerväter unseres Landes. Sie ist ein Versuch des Staats, die Moral juristisch einzuschränken und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.[789] Diese neue, »legale« Moral stellt eine Gefahr für alle Amerikaner dar. Wählen Sie Menschen, die dafür eintreten, die Eingriffe des Staats in Ihre Privatangelegenheiten zu kontrollieren. Entscheiden Sie sich gegen die staatliche Kontrolle Ihres Privatlebens. Entscheiden Sie sich gegen Zensur. Nur Sie, die Menschen dieses Landes, können die Ideale Amerikas am Leben erhalten.
Diese Trailer werden angeblich immer entweder von der Adult Video Association oder einer sogenannten Koalition für Meinungsfreiheit finanziert. Beide Organisationen (und inwieweit sie überhaupt voneinander geschieden sind, ist unklar) sind im Grunde Politische Aktionskomitees der Branche. Anders gesagt, die Pornoindustrie hat die politischen Lektionen der Achtziger verinnerlicht und ist heute eine politische Kraft, die genauso energisch Lobbyarbeit macht wie General Motors oder der Tabakkonzern RJR Nabisco.
Feministinnen aller Schattierungen bekämpfen die Pornobranche aus Gründen, die mit den vermeintlichen Folgen der Pornografie für Frauen zu tun haben. Ihre Argumente sind gut bekannt und haben einige Überzeugungskraft. In den Neunzigerjahren beschäftigen sich jetzt aber mehr und mehr Pornografiekritiker mit den mutmaßlichen Folgen für die männlichen Konsumenten. Manche »Maskulinisten« sind der Ansicht, dass viele Männer eine Pornografiesucht entwickeln, die zu schweren psychischen Störungen führen kann. Ein Essayist namens David Mura hat beispielsweise ein Büchlein des Titels A Male Grief: Notes on Pornografy and Addiction veröffentlicht, das esoterisch angehaucht, stellenweise aber ganz interessant ist, wenn der Autor etwa sagt:
In ihrem Wesensgehalt läuft Pornografie darauf hinaus, dass das Bild des Fleischs als Droge genutzt wird, um psychischen Schmerz zu betäuben. Die Droge wirkt aber nur, solange der Mann das Bild anschaut … In der pornografischen Wahrnehmung wird jede Geste, jedes Wort und jedes Bild in erster Linie sexuell verstanden. Liebe und Zärtlichkeit, Achtsamkeit und Mitgefühl, alles wird einer »größeren« Gottheit, einer stärkeren Macht, zugeordnet und ihr unterworfen … Der Pornografiesüchtige will geblendet werden, will in einem Traum leben. Wer der Pornografie hörig ist, verdrängt bewusst alles, was es außerhalb der Pornografie noch gibt, und das umfasst alles von Familienangehörigen und Freunden über den Gottesdienst am letzten Sonntag bis hin zum Nahostkonflikt. In diesem Ausblendungsprozess reduziert der Betrachter sich selbst. Er wird dumm.
Das mag sich nach Spintisieren anhören, bis einem die unheimliche Ähnlichkeit der Augen von Männern in Stripclubs und Massagesalons mit den Augen der Leute auffällt, die die einarmigen Banditen im Kasino vom Sands seit fünf Stunden mit ihren Silberdollars füttern, oder bis man selbst Zeuge der seltsamen Schockiertheit in den Augen der CES-Gäste geworden ist, die die Darsteller »in Fleisch und Blut« vor sich sehen, inklusive Kaugummi, Pickeln am Kinn und all der Menschlichkeit, die man im Film nie zu Gesicht bekommt – und auf die man auch nicht scharf ist.
Vielleicht noch ein paar Bemerkungen zur Atmosphäre der Adult CES, die weit mehr vom kumpelhaften In-die-Rippen-Boxen hat als später die stilisierte Preisverleihung … Harold Hecuba ist ins Gespräch mit einem unbedeutenden Pornoproduzenten vertieft, der erwähnt hat, eine seiner Darstellerinnen müsse wegen eines »Analprolaps« pausieren, ein Leiden, mit dem sich Ihre Aut. auf keinen Fall enger befassen wollen. Wir stehen westlich von einem Redakteur von Digital Horizons, der vorbeischaut, um dieses Jahr mal wieder die legendäre Szene zu inspizieren, und der zwei Männern, die wahrscheinlich ebenfalls Wissenschaftsjournalisten sind, gerade erklärt, wenn er neben Leuten aus der Pornobranche stehe, fühle er sich immer, als habe er gerade eine Astralreise auf einer Cocktailserviette hinter sich. Ungefähr im selben Augenblick erscheint am Stand von Impressive Media Jasmin St. Claire, um das Starlet am Tresen abzulösen, das daraufhin in den Personalbereich hinter dem Stand humpelt; sie (also das humpelnde Starlet) musste (angeblich) mit Silizium eingesprayt werden, um in ihre Hose zu passen. Sofort vergrößert sich die Menschenmenge am Stand von Impressive Media. Jasmin St. Claire trägt ein Ensemble von Jackett und Minirock aus rotem Vinyl. Wenn ein Pornostarlet in einem Raum auftaucht oder sonst irgendwo auf der Bildfläche erscheint, strahlt es eine unverkennbare Energie aus – man verdreht unwillkürlich den Kopf in seine Richtung. Es ist, als würde die Illustration eines Flipperautomaten oder einer Graphic Novel im dreidimensionalen Raum Gestalt annehmen und auf einen zukommen. Wie sich zeigt, kann man tatsächlich das Gefühl haben, die eigenen Augäpfel würden aus den Höhlen hervortreten. So richtig schräg ist dann aber erst, dass Jasmin St. Claire im strengen Sinne gar nicht mal so schön ist, oder jedenfalls nicht heute. Ihre Haare hat sie auf diese billige, unechte Goth-Manier schwarz gefärbt und so unglaublich viel Make-up aufgetragen, dass sie an eine Krähe erinnert. (Außerdem ist sie leicht x-beinig, bringt aber natürlich die erforderlichen Haubitzenbrüste mit.) St. Claires Geleitschutz zum Impressive-Stand besteht aus zwei baumlangen Kerlen, deren Mienen förmlich »Fahndungsfoto!« rufen. Das muss bei Pornostarlets auch noch erwähnt werden – sie sind nie allein. Sie werden immer von mindestens einem und manchmal bis zu vier Männern mit eiskaltem Blick begleitet, was an ein kostbares Vollblut erinnert, das unter einer Seidendecke auf den Rennplatz geführt wird.
Nur fürs Protokoll: Jasmin St. Claires Kultstatus bei der CES ’98 geht darauf zurück, dass sie den »World Gang Bang Record«[790] überboten hat, als sie sich 1996 in World’s Biggest Gang Bang 2 von Amazing Pictures hintereinanderweg 300 Männern gestellt hat. Da die meisten dieser 300 Männer Amateure waren, Pornofans, die nur eine Bewerbung und einen negativen AIDS-Test vom Gesundheitsamt vorlegen mussten, erfreut sie sich seither fast legendärer Beliebtheit – »der Pornostar des kleinen Mannes« –, und am Impressive-Stand hat sich eine unglaublich lange Schlange von Fans mit Kameras und signierbaren Devotionalien gebildet, die St. Claire vorläufig aber ignoriert, weil H. Hecuba und sie nach doppelten Wangenküssen über den sockenlosen Docksiders des bewusstlosen jungen Kahlkopfs einen Dialog führen, der (also der Kahlkopf jetzt) von unbekannten Scherzbolden vom benachbarten XPlor-Tresen hierherverschleppt oder -geschleift worden ist. Nachdem Ihre Autoren angemerkt haben, wie herzerfrischend sie es fänden, dass in der Pornoindustrie anscheinend alle befreundet seien, sogar Kritiker und Darsteller, zerreißt sich Dick Filth das Maul darüber, wie Jasmin St. Claire Harold Hecuba bei einer Branchen-Soiree vor Jahren mal erwürgen wollte, eine verwickelte Anekdote, die Sie, wenn Sie wollen, unten als Fußnote[791] finden. Sieben Meter weiter, drüben bei XPlor, stellt Farrel Timlake derweil etwas vor, was der Prototyp und die weltweit einzige autorisierte Kenny®-Actionfigur der demnächst auf den Markt kommenden Merchandising-Kollektion von South Park sein soll – 35 cm groß, eher schwer für eine Puppe, mit aufgesetzter Kapuze und verhülltem Gesicht (nicht unähnlich Kapuze und Gesicht von F. Timlake) –, und unterhält die von IM rübergeschwappten Messegäste, indem er die Glieder der Puppe so verdreht, dass sie »einen Joint durchzieht«.
Ähnlich wie Gangs, Polizei, Schausteller auf dem Jahrmarkt und gewisse andere kulturell marginalisierte Gilden ist die Pornoindustrie der USA abgesondert und isoliert auf eine Weise, die an Highschools erinnert. Es gibt Cliquen, Anticliquen, Allianzen, Abtrünnige, Gerüchteküchen, legendäre Fehden, öffentliches Blutvergießen sowie komplexe Hierarchien von Popularität und Einfluss. Man ist in oder out. Die Darsteller sind als Kernbrennstoff der Branche natürlich in. Studio-Manager und Produzenten sind trotz ihrer Finanzkraft nicht besonders in, und die Regisseure (besonders die, die selbst nie Initiationsriten von Sex vor laufender Kamera vollzogen haben) sind weniger in als die Darsteller. Filmkritiker und Branchenjournalisten sind noch weniger in als die Manager, und branchenfremde Journalisten sind megaout und gehören einer ähnlich unberührbaren Kaste an wie die anonyme Masse der Pornofans (die branchenintern als Wichte bezeichnet werden[792]).
Das Vorangehende soll auch erläutern helfen, wie genau es dazu kam, dass Ihre Autoren in der Privatsuite von Pornotitan Max Hardcore im Sahara landeten und im Wohnbereich der Suite mit Max, Mitgliedern seines Teams, den Pornostarlets Alex Dane und Caressa Savage sowie zwei Amas abhingen – soll heißen, eigentlich waren Harold Hecuba und Dick Filth eingeladen worden, am Freitagnachmittag in der Suite abzuhängen, aber Ihre Aut. klammerten sich wie Papusen an ihre Rücken, und der stämmige Produktionsassistent von MAXWORLD konnte die Tür nicht schnell genug zuknallen.
Rein logistisch gesprochen, waren Ihre Aut. also ein paar Stunden lang in.
Für Otto Normalverbraucher ist es eine angespannte und emotional verwickelte Angelegenheit, mit Pornostarlets in einer Hotelsuite abzuhängen. Erstens lässt sich nicht ausblenden, dass man diverse intime Aktivitäten und Körperteile dieser Starlets in Videos gesehen hat und (paradoxerweise) schüchtern reagiert, wenn man sie live trifft. Hinzu kommt eine komplexe erotische Spannung. Da die Welten der Pornofilme so sexualisiert sind, da jedermann sich immerzu am Rande des Koitus bewegt und da es scheinbar nur des kleinsten Anstupses oder Vorwands bedarf – ein stecken gebliebener Fahrstuhl, eine nicht abgeschlossene Tür, eine hochgezogene Augenbraue, ein fester Handschlag –, um alle Welt in eine verknäulte Menge aus Gliedmaßen und Körperöffnungen zu verwandeln, kommt eine bizarre unterschwellige Erwartung/Furcht/Hoffnung auf, genau das könne jetzt in Max Hardcores Hotelzimmer passieren. Ihre Aut. können gar nicht genug betonen, dass das eine Wahnvorstellung ist. Die unterschwellige Erwartung/Furcht/Hoffnung ist genauso gerechtfertigt, wie wenn man beim Zusammensein mit Ärzten auf einer Medizinertagung erwarten würde, dass die Anwesenden beim geringsten Anlass in hektischer Betriebsamkeit Kernspintomografien und Epiduralanästhesien veranlassen. Und doch ist diese Spannung mit Händen zu greifen, obwohl die Schauspielerinnen von ihrem Tag auf der CES sichtlich erschöpft und ein bisschen weggetreten sind[793] sowie, wie sich herausstellt, etwas wund – wie sich zeigt, dreht Max Hardcore eines seiner »Gonzo«-Pornospektakel direkt hier auf der Internationalen Messe für Unterhaltungselektronik 1998, nimmt die CES als Aufhänger und Kulisse, und die Mädchen hatten abwechselnd CES-Standdienst, Spielereien mit Reitgerten und einen straffen Filmdrehplan. (Max stellt beim Filmemachen gern vor vollendete Tatsachen und ist noch nicht dazu gekommen, mit dem CES-Management darüber zu plaudern, dass die größte Unterhaltungselektronikmesse der Welt in einem »HIER WERDEN HÜBSCHE MÄDCHEN BRUTAL IN DEN ARSCH GEFICKT«-Video namentlich zu sehen ist.)
Max Hardcore – alias Max Steiner alias Paul Steiner, geb. Paul Little – ist 1,68 groß und bringt durchtrainierte 61 Kilo auf die Waage. Er ist zwischen 40 und 60 Jahre alt und hat verblüffende Ähnlichkeit mit einem muskulösen und borderline-psychotischen Henry Gibson. Er trägt einen schwarzen Cowboyhut und eines der weltweit wenigen langärmligen Hawaiihemden. Als sein Produktionsassistent den Eingang endlich freigegeben hat und die Vorstellungsrunde losgeht (H.H. schafft es, den Namen seiner Zeitschrift in ein und demselben Satz gleich mehrmals unterzubringen), erweist sich Max als leut- und redseliger Gastgeber, der unter den Anwesenden erst mal freigebig Wodka in Plastikbechern verteilt, bevor er mit Ihren Aut. die für Max drängendsten und relevantesten Fragen der diesjährigen AVN Awards diskutiert, und diese Fragen betreffen die Karriere, Reputation, Lebensgeschichte und allgemeine Weltanschauung des Max Hardcore.
Dank der Pionierarbeit von (je nach Gesprächspartner) Max Hardcore oder John (»Buttman«) Stagliano ist »Gonzo« eines der beliebtesten und lukrativsten Pornogenres des Jahrzehnts geworden. Es ist quasi eine Mischung aus MTV-Doku und dem Höllenflügel von Boschs Triptychon Der Garten der Lüste. Ein Gonzofilm spielt grundsätzlich bei einem deutlich erkennbaren Schauplatz oder Ereignis – den studentischen Frühlingsbacchanalien in Daytona Beach, dem Filmfestival in Cannes u.ä. Es gibt immer einen den ehernen Kräften des Samenstrangs folgenden »Moderator«, der in eine Handkamera spricht: »Heute sind wir hier also beim Cannes Film Festival, und ich glaube, wir dürfen uns auf einige Aufregung gefasst machen. John Travolta und Sigourney Weaver sollen in der Stadt gesichtet worden sein, dann ist da der weltberühmte Strand, und wie ich gehört habe, gibt es an diesem Strand jede Menge bildschöne kleine Mädchen, also machen wir uns doch mal dorthin auf den Weg.« (Das war sinngemäß die Ansage zu einem jüngeren Max-in-Cannes-Gonzo, eine unverwechselbare Anmoderation, die, wie Max mit einem 56-Zähne-Grinsen sagt, »immer barmherzig kurz« ist – und bitte beachten Sie die »Kleine Mädchen am Strand«-Kiste, denn auch das gehört zu Max’ professionellen Markenzeichen –, die Infantilisierung der Frauen in seinen Videos als dramatischer Gegenpart zu seiner eigenen Filmfigur, die immer eine Art degenerierter Onkel oder Stiefvater ist.) Dann macht sich die wackelige, aber immer gestochen scharfe Kamera zum Meer, zur Mall, zur CES oder sonst wohin auf, nimmt attraktive Frauen[794] ins Visier, während der Moderator stöhnt und sich vor Geilheit die Finger anknabbert. Moderator und Kamera gehen alsbald auf die observierten Frauen zu und knüpfen kurze Gespräche voll anzüglicher Blicke und zweideutiger Witzchen an. Manche Interviewpartner sind tatsächlich Privatpersonen, manche sind aber immer »Verdeckte«, wie Max sie nennt, also professionelle Pornodarstellerinnen. Der Betrachter erhält also die klassische Studentenverbindungsfantasie, dass man nach einem Minimum an Aufreißersprüchen, wie man sie in Singlebars hört, und dem Abchecken einer attraktiven Frau sofort zu wildem und stellungsreichem Sex mit ihr übergeht, was ein Kumpel gleichzeitig alles auf Video festhält.[795]
Es ist eine umstrittene Frage, wer genau das Gonzo-Genre nun eigentlich erfunden hat, festhalten kann man aber, dass Max Hardcore als Regisseur aus mehreren Gründen berühmt geworden ist: (1) ist er unglaublich diszipliniert in Bezug auf Budgets und taktische Logistik, was so weit geht, dass er sein Team und seinen Mitarbeiterstab zwingt, identische Jumpsuits aus scharlachrotem Nylon zu tragen, in denen sie wie eine Skinationalmannschaft aussehen – Max’ Dreharbeiten werden (von Max) als »praktisch schon Militäreinsätze« beschrieben; (2) beschäftigt er nicht nur Verdeckte, sondern schafft es manchmal, die echten, realen, zivilen »kleinen Mädchen« am Strand oder in der Mall zu überreden, in das spezielle MAXWORLD-WOHNMOBIL mitzukommen und beim Analsex vor der Kamera mitzumachen[796]; (3) war er im »Mainstream«-Bereich (im Gegensatz zu fetischistischen Pornos) der erste Regisseur, der an Frauen Misshandlungen und Erniedrigungen verübte, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Nachdem Max Ihren Autoren ausführlich seine Berufung und die Nebenjobs geschildert hat, über deren Umwege er in der Pornoindustrie gelandet ist (eine so unglaubliche Mär, dass man sich das Faktenprüfen und den Versuch eines Abdrucks von vornherein abschminken kann), setzt er uns hinsichtlich Punkt (3) darüber in Kenntnis, dass er schon immer die »Speerspitze« der Branche war und dass andere, weniger kühne und originelle Filmmacher seine Erniedrigungen von Frauen schon immer und systematisch für die Erniedrigungen in ihren eigenen miesen Filmen abgekupfert haben.[797] (Harold Hecuba und Dick Filth sind oft genug Zeugen von Max’ Schwadronieren geworden und haben sich aus der Diskussion ausgeklinkt – D.F. ist schon verdächtig lange auf der Toilette, und H.H. sitzt bei den Schauspielerinnen auf dem Sofa und analysiert, was für Folgen es für NBC hat, wenn sich Seinfeld 1998 aus dem Geschäft zurückzieht.)
Allein und auf einem unübersehbaren Ehrenplatz, einem furnierten Regal über der Minibar der Hotelsuite, steht eine richtige Statuette der AVN Awards. Sie ähnelt den Oscar-/Emmy-/Clio-Figurinen, streckt aber die Arme nach oben aus (wodurch sie ein bisschen wie Nixon auf dem Höhepunkt des Parteitags der Republikaner 1968 aussieht), und der Guss hat etwas seltsam Mattes, das an kubisches Zirkonium erinnert. Ob die Figur schwer und massiv oder hohl wie Pokale der Little League ist, bleibt unklar – wir werden nicht eingeladen, sie zu berühren oder in die Hand zu nehmen. Eine der Amas auf dem Sofa lacht oder weint wegen einer Bemerkung von Harold Hecuba; sie hat die Hände vors Gesicht geschlagen, und ihre entblößten Schultern beben. Es wäre ein fantastischer Zufall, wenn auf dem riesigen Bildschirm gerade die Seinfeld-Folge wiederholt würde, in der alle versuchen, sich vom Masturbieren abzuhalten, aber man kann nicht alles haben.
Von einem Ihrer Aut. gefragt, wofür er mit dem AVN Award im Regal ausgezeichnet worden sei, schlägt sich Max Hardcore auf den Schenkel: »Das Scheißding hab ich geklaut.« Von mittelweit weg gemustert, merkt man jetzt auch, dass das Metallschildchen mit dem MAX HARDCORE am Sockel der Trophäe nicht von einem professionellen Graveur bearbeitet worden ist. Mehr noch, da ist jemand mit einem Schraubenzieher am Werk gewesen. Max führt die Gaunerei aus: Von den Awards selbst seit Jahren unerklärlicherweise ausgeschlossen, verließ er letztes Jahr die Bühne (als Moderator wird er jedes Jahr wieder angefragt, was er für eine AVN-Methode hält, noch Salz in die Wunde zu streuen) und erspähte in den Kulissen einen großen Karton mit ungravierten und unbenutzten AVN-Preisfiguren.[798] Woraufhin er sich mit seinen heutigen Worten sagte: »Was soll’s, ich hab schließlich eine verdient«, eine schnappte, unter seinen riesigen Stetson schob und sich bei einer ganzen Reihe anschließender Awards-Partys beömmelte, eine illegitim erworbene Trophäe unter dem Hut zu haben. Max’ ganzes Team belacht die Anekdote schallend, die Schauspielerinnen aber nicht.
Alex Dane erzählt Harold Hecuba gerade, dass sie einen streunenden Hund bei sich aufgenommen habe. Richtig aufgeregt beschreibt sie ihn, und einen Augenblick lang könnte man sie für vierzehn halten; der Eindruck verblasst nach wenigen Sekunden, ist aber herzzerreißend. Die eine Ama erzählt, sie habe hochmoderne Brustimplantate bekommen, deren Größe sie variieren könne, indem sie durch kleine Ventile in den Achselhöhlen Flüssigkeit hineinpumpe oder ablasse; vielleicht verwechselt sie die Mienen Ihrer Autoren mit Ungläubigkeit, jedenfalls hebt sie die Arme über den Kopf, und zum Vorschein kommt etwas, das tatsächlich nach Ventilen aussieht.
Vieles an der heutigen Pornoindustrie scheint eine unbeholfene Parodie von Hollywood und der ganzen Nation zu sein. Die Spitzendarstellerinnen sind Karikaturen sexueller Verführungskraft. Die Brustprothesen, gelifteten Pobacken und (ohne Scheiß) künstlichen Wangenknochen sind nichts als Zuspitzungen einer Mentalität, die schon ganze Industriezweige für Liposuktion und Kollagenimplantate hervorgebracht hat. Die gynäkologisch explizite Sexualität von Jenna, Jasmin u.a. gleicht einer Mad-Parodie der »brünstigen« Sexualität von Sharon Stone, Madonna und anderen Mainstream-Ikönchen.[799] Ganz zu schweigen davon, dass die Pornoindustrie viele psychologische Abnormitäten übernimmt, für die Hollywood berühmt ist – die Eitelkeit, die Vulgarität, das krasse Kommerzdenken –, und sie nicht nur offen ausstellt und grotesk verzerrt, sondern in diesen Grotesken dann auch noch zu schwelgen scheint.
Der gute alte Max Hardcore ist beispielsweise ein lupenreiner Psychopath – was vor der Kamera Teil seiner Gonzofigur ist –, der reale Max/Paul Steiner ist aber ebenfalls einer. Sie hätten das in der Hotelsuite erleben müssen. Max sitzt in Hut und spitzen Cowboystiefeln da und hält Hof, wirkt zugleich gebieterisch und stumpfsinnig, während seine Gefolgsleute in ihren roten Anzügen auf Kommando drauflosfeixen und eine Highschool-Abbrecherin ihre Ventile vorführt. Ungelogen, die ersten zehn Minuten des improvisierten Interviews im Sahara gehen dafür drauf, dass eine Zeitschrift namens Icon herumgeht, die laut Max ein Porträt von ihm bringen wird – wir sollen im Heft blättern und uns positiv zu Inhalt und Layout äußern, und Max sieht einen genauso supergespannt an wie Eltern, die einem gerade unerbetene Schnappschüsse ihres Sprösslings aufgedrängt haben. Das ist jetzt die eigentliche Chronologie. Es folgt ein Sturzbach an autobiografischen Hintergrundinformationen, und Ihre Aut. haben beschlossen, Max die Genugtuung zu versagen, sie hier wiederzugeben. Dann kommen eine Art weltanschaulicher und gonzotheoretischer Max-Grundkurs für Neueinsteiger sowie die Anekdote der Statue. Der Wodka steht oben im Regal, und die Plastikbecher sind verstaubt. Dann sagt das eine Starlet, es hat Hunger; Max besteht darauf, es ins Restaurant vom Sahara zu eskortieren, und will, dass alle mitkommen, und dann stehen die Amas, die Teammitglieder und Ihre Aut.[800] wie bestellt und nicht abgeholt am Pult des Oberkellners, während Max das Starlet höchstpersönlich an einen Tisch führt, ihm den Stuhl zurechtschiebt, eine Serviette in den Ausschnitt stopft, ein Scheinbündel mit Klammer hervorzieht und dem ganzen Restaurant mitsamt Foyer mit Stentorstimme verkündet, er »komme im Voraus für alle Schäden auf, die das Mädchen anrichtet«. Er schiebt dem Oberkellner ein paar Scheine in die Tüchleintasche vom Smoking, und dann lässt er sie sitzen, scheucht uns alle in den Fahrstuhl zurück, haut ungeduldig auf den Knopf für seine Etage, und als sich der Lift nicht sofort in Bewegung setzt, hüpft er vor Wut buchstäblich auf und ab wegen der Verzögerung; wir hetzen alle in die Suite zurück, weil Max plötzlich eingefallen ist, dass er Ihren Aut. unbedingt einen Ausschnitt aus den diese Woche abgedrehten Szenen zeigen will, der seine spezifische Pornogenialität seiner Meinung nach besser zusammenfasst als jede noch so genaue Erklärung … aber kaum sitzt er wieder, fängt er an, hektisch in einem Notizbuch zu blättern.
»Die Sache ist, wir haben so ein kleines Mädchen in den [berüchtigten MAXWORLD-]Wohnwagen mitgenommen, und nach ein bisschen Gesichtsficken[801] und Arscherweiterung und na ja, den üblichen Verkommenheiten, kriegen wir sie dazu, sich einen Kuli, nee, wie heißen die gleich …«
Teammitglied: »Filzstift.«
Max: »… sich einen Filzstift in den Arsch zu stecken und dann … dann hat sie das hier geschrieben«, hält das aufgeschlagene Notizbuch hoch und lässt es wieder rumgehen:
steht da in einer angesichts der Entstehungsumstände beeindruckend lesbaren Handschrift[802]. Dick Filth erkundigt sich schelmisch nach künftigen Filmplänen, ob man das Mädchen nicht mit einer Schreibmaschine … aber Max lacht nicht (uns ist schon aufgefallen, dass Max nur über Witze lacht, die er selbst erzählt hat), also lacht auch sonst keiner.
Das meiste hiervon wird von Premiere wahrscheinlich gestrichen, aber erwähnt sei es doch. Als der von dieser Zeitschrift mitgeschickte Fotograf, der es im Kielwasser von H.H. und D.F. ebenfalls in die Suite geschafft hat, laut darüber nachdenkt, ein paar hübsche Aufnahmen von Preisträgerinnen mit ihren Trophäen im Arm zu machen, weiß Max sofort, was auf dem idealen Coverfoto für diesen Essay zu sehen sein muss: Max Hardcore mit mehreren AVN-Trophäen in den Armen, die er, sein Ehrenwort, alle ehrlich gewinnen oder halt auf andere Weisen an sich bringen wird, und er sitzt in einem majestätischen und echt hübschen Sessel mitten auf dem palmengesäumten Boulevard des berühmten Las Vegas Strip – damit der Fotograf jede Menge verschwommenes Neon und angemessen phallische Gebäude im Hintergrund aufs Bild bekommt –, während sich eine Entourage leicht geschürzter Starlets verzückt über ihn drapiert, ihm zu Füßen liegt oder beides. Hier ist unbedingt anzumerken, dass keinerlei ironische Gänsefüßchen zu hören sind, und Max’ Gesicht zeigt keine Spur von Verlegenheit, Beschämung oder Befangenheit, während er uns die Szene ausmalt; er ist ungefähr so ernst, wie Irving Thalberg immer gewesen sein muss.[803] Ihre Autoren setzen sich sofort lautstark für Max’ Idee ein, weil sie sich sagen, dass so ein Foto die perfekte Illustration für die Geschichte wäre, wie Max genau dieses Foto vorschlägt – d.h., es würde den Größenwahn des Mannes viel besser auf den Punkt bringen als eine bloße Nacherzählung –, aber der Fotograf von Premiere ist kein Schauspieler und verbirgt seinen Widerwillen gegen Max’ Selbsteinschätzung so stümperhaft, dass die Atmosphäre in der ganzen Suite steif und feindselig wird, der Rest vom Interview verläuft so ziemlich im Sande, und im Rückblick meint Dick Filth, wir hätten es, in seinen Worten, nicht geschafft, »in den Kern davon einzudringen, was es heißt, Max Hardcore zu sein«[804].
Die Verleihung der 15. Annual AVN Awards wird auf zwei Abende in Folge aufgeteilt, eine Taktik, der die richtigen Oscars nach Meinung von Max. H. nacheifern sollten: »Dann hat man den ganzen Mist am ersten Abend vom Tisch – die beste Aufmachung, Marketing, den besten Schwulen, den ganzen Scheiß. Wer will so Scheiß denn über sich ergehen lassen?«
Die in einem anderen, etwas kleineren Ballsaal von Caesars Palace abgehaltene Awards-Gala am Freitagabend hat tatsächlich ein strammes Tempo. Zu den ephemeren Kategorien gehören Beste Videografie, Bestes Drehbuch, Beste Ausstattung, Beste Musik. Die Nominierten jeder Kategorie werden im Programm aufgeführt, aber nur die Sieger werden auf die Bühne gebeten, es werden immer gleich vier auf einmal genannt, vom Applaudieren wird abgeraten, und immer wieder sagt der Conférencier zu den Siegerquartetten: »Es wäre schön, wenn Sie schnell hochkommen und uns helfen, die Sache am Laufen zu halten.« Am Freitag besteht das einzige Essen aus großen Gemüseplatten mit Dips, und gleich daneben gibt’s Getränke für Barzahler. Moderator ist nicht der Medienstar Robert Schimmel, sondern ein hypomanischer Typ namens Dave Tyree, dessen eingeworfene Sprüche mit 78 U/min kommen und dieses Kaliber haben: »Wenn Gott nicht wollte, dass wir wichsen, hätte er uns kürzere Arme gegeben.« Gekommen sind vielleicht tausend Leute, die meisten nur unwesentlich fein gemacht, man wird keinen Tischen zugewiesen, und alle spazieren durch den Ballsaal, unterhalten sich und widmen den Vorgängen auf der Bühne dieselbe Aufmerksamkeit, die man in einer Cocktailbar für den Pianisten aufbringt.
F. »4.000.000.000 Dollar und 8.000 Veröffentlichungen im Jahr – warum ist Pornografie in diesem Land so beliebt?«
A. F.J. Lincoln, Regisseur und Rekrut in der AVN Hall of Fame: »Ich find’s von jeher komisch, dass Pornos nur für Erwachsene da sein sollen. In Wirklichkeit werden wir da alle wieder Kinder. Wir wälzen uns herum und werden dreckig. Das ist ein Sandkasten für Erwachsene.«
A. Steherveteran Joey Silvera: »Alter, mal ehrlich – Amerika will wichsen.«
A. Branchenjournalist Harold Hecuba: »Das ist die heutige Wirkung von Barnums Gesetz. Den Hass und die Misogynie des durchschnittlichen Amerikaners kann man gar nicht überschätzen.«
A. Pornostarlet Jacklyn Lick: »Ich glaube, viele Fans sind sehr einsame Menschen.«
F. »In Hardcoreszenen sind selten Kondome zu sehen.«
A. Harold Hecuba: »Gab noch nie welche. Die törnen nur ab. Die Branche will schließlich Fantasien ausmalen.«
F. »Aber schon allein wegen möglicher Geschlechtskrankheiten – diese ganzen Analfaxen und so. Macht man sich in der Branche Sorgen wegen HIV?«
A. Harold Hecuba: »Wegen Aids nicht mehr so. Alle werden regelmäßig getestet.«
F. »Und was ist mit Herpes?«
A. H.H.: »Herpes grassiert.«
Vince Vouyer, der letztes Jahr mit dem Award für die Beste Sexszene in einem Film ausgezeichnet wurde, heißt, wie sich herausstellt, in Wahrheit John LaForme. Rhetorische F.: Wenn man laut Taufschein John LaForme heißt, warum um Gottes willen braucht man dann ein Pseudonym?
Tom Byron beschreibt die Fähigkeit, praktisch auf Zuruf anschwellen und ejakulieren zu können, als eine »Kontrollübung wie Meditation oder Surfen. Das hat was von einem Kunstturner, der auf dem Schwebebalken bleibt. Wenn man genug trainiert, kann man alles.«[805]
Der ehemalige Steher und heutige Regisseur Paul Thomas gehörte zur Originalbesetzung von Jesus Christ Superstar am Broadway.
Der durchgeknallt wirkende und dauergeile Hüne Mike Horner, der dreimal den Best Actor Award davongetragen hat und einen Ehrenplatz in der AVN Hall of Fame[806] einnimmt, ist ein klassisch ausgebildeter Opernsänger.
Das verstorbene Starlet Nancy Kelly hieß in Wahrheit Kelly Van Dyke. Sie war die Tochter des Fernsehkomikers Jerry Van Dyke und damit zwangsläufig die Nichte von Dick Van Dyke.
Die exotische Debütdarstellerin Midori, ’98 eine der Nominierten in der Kategorie AVNA Bestes Neues Starlet, ist die Schwester des in den Achtzigern bekannten Popstars Jodi Whatley. Midori hat öffentlich verlauten lassen, sie sehe zeitgenössische Pornografie im gehobenen Marktsegment als Sprungbrett in eine Mainstream-Karriere, vergleichbar einer Miss America oder ein paar Staffeln bei Saturday Night Live. Harold Hecuba stuft Midoris Karrierestrategie als »gewaltige Fehlentscheidung« ein.
Gene Ross, Vizepräsident und Chefredakteur von Adult Video News, der 1998 den schon erwähnten Preis für den Besten Regisseur im Bereich Video an Rob Black und Miscreants übergibt, bejubelt Black als »einen Mann, der aus Arschlöchern, Zwergen und Bratfisch eine Liebesgeschichte macht«[807].
Aus dem Artikel im New Yorker von 1995 über die psychosexuelle Notlage des Stehers im Pornogeschäft: »Die Cal Jammers, die zu dieser Feminisierung gehören, haben das Gefühl, sie hätten die Mauern der weiblichen Zierde erstürmt, um die Privilegien der Männlichkeit zurückzuerobern, nur um festzustellen, dass sie sich in einem Labyrinth der Gender-Ironie verirrt haben.«
John »Buttman« Stagliano – Firmenchef von Evil Angel Inc., der von US News & World Report als »landesweit führender Regisseur von Hardcorevideos« bezeichnet wurde – hat nicht nur öffentlich bekannt gegeben, dass er HIV-positiv ist, sondern auch, dass er sich bei einem transsexuellen Prostituierten in São Paulo infiziert hat, mit dem er 1995 ungeschützten Analverkehr hatte. Ihm liegt daran, dass die Leute keinen falschen Eindruck bekommen: »Ich stehe nicht besonders auf Männer, aber ich stehe auf Schwänze. Verbotene Tabus führen nur zu Neurosen, und die führen dazu, dass ich mich ohne Kondom in den Arsch ficken lass.«
Sind die AVN Awards womöglich eine abgekartete Sache? Max Hardcore (nicht vergessen: der mit der entwendeten Trophäe) nennt die Awards-Verleihung »einen totalen Interessenkonflikt«. Die Adult Video News, führt er aus, sind absolut abhängig vom Werbeaufkommen[808], und sie stehen »unter Druck der Branchenriesen wie Vivid und VCA, die das quasi abnicken müssen«.
Ellen Thompson, Mitherausgeberin von AVN und Awards-Jurorin, die unter dem Nom de Guerre Ida Slapter abstimmt[809]: »Das bekommen wir schon seit Jahren zu hören. Meines Wissens wird im Mainstream dieselbe Kritik laut. Ich möchte niemanden beleidigen, aber manchmal gibt es Missgunst. Was sollen wir dazu sagen? Vivid und VCA bringen gute Produkte auf den Markt. Wir stimmen nach bestem Wissen und Gewissen gerecht ab.«
Dick Filth: »Das Gesamtbild, das von tonnenweise Anekdoten abgerundet wird, läuft darauf hinaus, dass das Ganze von A bis Z eine gezinkte, abgekartete Sache ist.«
Samstag ist der große Abend. Das Bankett, die Bühnenunterhaltung, die wichtigen Auszeichnungen. Sehen und gesehen werden. Glücksspieler, Tagungsgäste und Wichte aller Geschmacksrichtungen ballen sich am Taxistand vom Caesars und verfolgen die Ankunft der Starlets. Es gibt Videorekorder und Blitzlichter, aber keine richtigen Paparazzi. Die Darsteller kommen teilweise in Limos, teilweise in blitzenden phallischen Sportwagen, und wieder andere tauchen plötzlich aus dem Nichts auf. Hier gibt es noch mehr Starlets, als sich auf der CES getummelt haben, und alle sind aufgebrezelt bis Oberkante Unterlippe. Es gibt kirschrote Riemchen, birnenfarbene Bodysuits aus Elastan mit Peeptoe-Pumps aus burgunderrotem Wildleder. Es gibt platingraue Lameekleider mit Schlitzen bis zur zehnten Rippe. Weniger bedeckte als lackierte Kehrseiten sollten Spuren von Höschen oder wenigstens Stringtangas zeigen, die aber durch Abwesenheit glänzen. Es gibt lindgrüne Vinylbodys, Schlaghosen aus Toile-de-Jouy, Korsetts und Miniröcke, die in Beschaffenheit und Länge an Ballett-Tutus erinnern. Strumpfhalter blitzen auf, und Spitzenbodys schattieren nicht direkt blickdichte Blusen. Diverse Garderoben trotzen den Grundgesetzen der modernen Physik. Frisuren türmen sich zu komplexen Strukturen. Alle Starlets haben sich bei Männern eingehakt, die aber nie Pornodarsteller sind. Die durchschnittliche Absatzlänge liegt bei zehn Zentimetern und mehr. Ein Zivilist am Taxistand brüllt, Tatsache, die Wendung »Va Va Voom«, die Ihre Autoren außer in Sinatra-Filmen noch nie gehört haben. Brüste haben einheitlich zeppelineske Formen und drohen, ihre Einhegungen zu sprengen. Max Hardcore kommt unter einem Stetson von der Farbe heller Schokomilch, und seine anpassbare Ama – in einer Art scharlachrotem Cowboyanzug, der hauptsächlich aus Fransen besteht – hat ihre Brüste bis zum maximalen Fassungsvermögen aufgepumpt.
Bei den Stehern ist bei den 15. Annual AVNAs eindeutig Schwarz angesagt. Viele Männer tragen schwarze Smokings, schwarze Krawatten und schwarze Frackhemden. Einer trägt einen Paisleyanzug, der entweder aus Serge besteht oder aus irgendwelchen Polstereimaterialien. Ein anderer kommt auf silbernen Plateausohlen und trägt eine silbrige Weste ohne Hemd darunter. Die XPlor-Boys kommen in Sweatshirts von Calvin Klein und stylishen Armyhosen und haben eine große Entourage dabei, unter die sich der Beraterstab von South Park gemischt haben kann, aber nicht muss. Der Typ am Arm von Morgan Fairlane hat einen riesigen und rasiermesserscharfen Iro wie ein britischer Punk der späten Siebziger.
Im Hotel bildet sich eine spontane Cocktailparty in der weiten Marmorhalle vor dem Caesars Forum, dem größten und dem Vernehmen nach mondänsten Ballsaal vom Caesars Palace. Stämmige Kasinoangestellte kontrollieren Eintrittskarten und treten sehr abschreckend auf, wenn sich jemand ungeladen einschmuggeln will. Im hektischen Geschiebe kommt es zu weit mehr Körperkontakten, als die CES-Wichte sich je erträumen könnten. Auf Inseln aus grellem Jupiterlampenlicht befragen Reporter von Kabelfernsehsendern verschiedene Darsteller zu der (sic:) aufregenden Atmosphäre, die in der Luft liegt. Geheimnisvoll gebündelte Koaxialkabel kriechen unter den Türen zum Forum hervor, ziehen sich durchs gesamte Foyer und verschwinden um die Ecke. Ein Verdacht, den wir schon die ganze Woche gehegt, aber als unverifizierbar ad acta gelegt hatten, wird jetzt schlagartig verifiziert, als einer Ihrer Aut. versehentlich gegen ein Starlet geschubst und von ihren Brüsten in die Seite gestoßen wird, was wehtut. Viele Leute haben Drinks in Plastikgläsern, ohne dass man wüsste, wo sie die herhaben. Die Starlets lassen sich abwechselnd in Sachen atmosphärische Aufregungsluft interviewen, während die Steher die Kameras scheuen wie die Mafiosi. Fernsehscheinwerfer sind für Teints alles andere als vorteilhaft. In ihren schwarz-in-schwarzen Smokings sehen etliche männliche Insider – darunter beispielsweise John Leslie und Tony Tedeschi – fahl und teigig aus, als wären sie krank. Nick East verwendet volle 5,5 Minuten verzückter Konzentration auf die Nagelhaut seines linken Daumens. Etwas überraschend ist, dass viele Spitzensteher der Branche klein sind – 1,68, 1,70[810] – und von ihren Begleiterinnen überragt werden. Dick Filth bestätigt, dass der gegenwärtige Branchenstandard von 1,68 ein gewaltiges Zeugungsglied auf Video – einem Medium, das mit der Perspektive alle möglichen Verrücktheiten anstellt – noch gewaltiger aussehen lässt.
Die 195 Dollar für den Empfang am Samstagabend mussten im Voraus bezahlt werden. Es ist unklar, ob es Gratiskarten für Insider gab, Journalisten zahlen jedenfalls den vollen Preis. Unsere Eintrittskarten weisen uns Tisch Nr. 189 zu. Verkauft wurden 2.500 Karten, und da zu Recht bezweifelt werden darf, dass irgendjemand ohne Karte den eiskalten Augen der Kasinoangestellten entgangen ist, darf die Gästezahl des heutigen Abends getrost mit 2.500 beziffert werden.
Der »Caesars-Forum«-Ballsaal ist ein riesiges L mit der Bühne im – sozusagen – Gelenk; die eine Hälfte des Publikums der 15. Annual AVN Awards ist für die andere Hälfte also geometrisch unsichtbar. Man hat dieses Problem mit sechs segelgroßen Videoleinwänden gelöst, die auf strategische Punkte im Saal verteilt von der Decke hängen. In den fast zwei Stunden[811] zwischen Saaleinlass und Beginn der eigentlichen Awards-Verleihung zeigen diese Leinwände abwechselnd Kurzausschnitte aus Pornoklassikern[812] (vergessen Sie nicht, dass das Thema der 15. AAVNAs »Geschichte des pornografischen Films« lautet) und Liveaufnahmen diverser Menschen, die gerade hereinkommen und Grimassen für die ferngesteuerten Kameras schneiden, die AVN über den Saal schweifen lässt.
Sowohl Harold Hecuba als auch Dick Filth haben sich mit Ferngläsern bewaffnet (H.H.s in einem richtig offiziell aussehenden Etui der Audubon Society), was rätselhaft wirkt, bis wir alle Tisch 189 erreichen, der ganz, ganz hinten im nördlichen Abschnitt des L-Ballsaals steht, Hunderte von Metern entfernt von auch nur der nächsten Videoleinwand. »Die Printmedienfuzzis stecken sie immer ganz hinten ins Land der Wichte«, erklärt Hecuba. Das ist die unangenehme Überraschung Nr. 1. Die unangenehme Überraschung Nr. 2 ist das Abendessen für 195 Dollar, das sich als Büfett mit Warmhaltetischen entpuppt, und wenn Sie sich jetzt eine kosmopolitane und multikulturelle Krankenhauskantine vorstellen, liegen Sie goldrichtig.[813] Etliche männliche Insider, fällt uns jetzt auf, haben ihre eigenen Picknickkörbe mitgebracht.
Neben uns geht ein Mann tellerbeladen auf einen Tisch zu. Er trägt einen Ganzkörperanzug aus Leopardenfell, und wenn er Bekannte erkennt, lässt er sich das anmerken, indem er auf sie zeigt, statt ihnen zuzuwinken. An seinem Arm hängt eine Ama in einem Bodystocking, der anscheinend aus einem dicht gewobenen Netz besteht. Zwei Vertragsstarlets von Astral Ocean Cinema tragen identisch kupferfarbene und perlenbesetzte Abendkleider mit Myriaden von Längsschlitzen in den Front-, Rücken- und Seitenpartien der Röcke, und als sie zu ihrem Tisch gehen, sehen ihre oberen Hälften normal aus, und ihre unteren Hälften scheinen durch unendlich viele Perlenvorhänge zu gleiten. Die ganze Szenerie ist unbestritten überwältigend. Der Durchschnittsamerikaner bekommt kaum je Aerobicstulpen auf zehn Zentimeter hohen Stöckelschuhen zu sehen. Die Decke vom Caesars Forum hat die Farbe verdorbener Baisers; sie hat vierundzwanzig Kronleuchter, deren Design an konzentrisch geöffnete Fächer erinnern soll, aber eher wie Schamlippen oder sehr gut organisierte Pilze aussieht. Joey Buttafuoco ist da und begleitet[814] Al Goldstein von Screw, der einen speziellen AVN-Preis dafür erhält, sein Lebenswerk der Verteidigung des Ersten Verfassungszusatzes gewidmet zu haben. Schwarz ist dieses Jahr so durchschlagend in, dass sogar die gestärkten Leinenservietten auf allen Gedecken schwarz sind. Alle Weingläser zieren kleine mattierte Kameen von J. Caesar. Humorlose Männer mit Walkie-Talkies bewachen die fünf Notausgänge des Ballsaals – im Vorjahr gab es anscheinend Probleme mit Angestellten vom Caesars Palace, die sich eigenmächtig in die Gala schlichen. Die Videoleinwände zeigen jetzt den Höhepunkt von Debbie Does Dallas, wo der kleine Nebbich, der im Film die Wichte der Welt repräsentiert, endlich mit Bambi Woods Sex hat, und dann blitzt auf der Leinwand ein »NÄCHSTER?« auf. Die Jungs von South Park sind in der Tat vor Ort, drüben an Tisch 37 mit Farrel und der Clique von XPlor. Das Gerücht kursiert, Paul Thomas Anderson, der Regisseur von Boogie Nights, hätte eine Karte für die Gala und könnte noch auftauchen.[815]
In unserer Nähe kommt Nr. 182 einem Insidertisch noch am nächsten, er ist laut Tischschild für Anabolic Video reserviert (kein Branchenriese), aber gegenwärtig sitzt da nur eine helikoidal frisierte und missmutig kauende Dina Jewel (die Harold Hecubas Luftkuss geflissentlich übersieht) in Gesellschaft eines jungen Mannes, bei dem man sich nur zu gut vorstellen kann, wie er jemandem im Moshpit einen Kopfstoß verpasst. D. Filth vertraut Ihren Autoren an, dass dieser Mann von Anabolic ein enger Freund von Steher Vince Vouyer (noch einmal sic) ist, der seinerseits ’98 nicht für viele Awards nominiert ist, weil er einen Gutteil des vergangenen Jahres vor Gericht und/oder in Haft verbracht hat, weil er Beihilfe zum Betrieb eines Hostessenservice geleistet hat, der nach dem Dafürhalten der Strafverfolgungsbehörden kein authentischer Hostessenservice war.
Es stellt sich heraus, dass Hecuba und Filth Ihren Autoren die unangenehme Überraschung Nr. 3 verschwiegen haben, die die größte Geschmacklosigkeit von Bankett und Gala anlässlich der 15. AAVNA à 195 Dollar pro Person darstellt: Getränke sind nicht inbegriffen. Und das gilt nicht nur für Alkohol; selbst ein mickriges Sodawasser mit Limette[816] kostet sechs Dollar. Was die Sache noch schlimmer macht: Man kann auch nicht anschreiben lassen – man muss beim Ober bar bezahlen, wenn man das mickrige Sodawasser mit Limette bestellt, und das Wechselgeld bringt er einem (theoretisch) zusammen mit dem Getränk. Jedes einzelne Getränk, das an einem der rund 375 Sechs-bis-acht-Personen-Tische im Ballsaal bestellt wird, erfordert also eine separate und erinnerungsbedürftige Transaktion, und diese wird erschwert, wenn Leute auch für manche Tischnachbarn Getränke bestellen, für andere aber nicht usw.[817] Die ganze Entgeltliche-Getränke-Situation nervt ungeheuer, nicht nur wegen der sündhaft teuren Eintrittskarten, sondern auch, weil die zu hundert Prozent aus dem Nahen Osten stammenden Kellner des Ballsaals (anständige und eilfertige Männer, keine Frage, die von Wichten mit Zigarren an den Nachbartischen wegen der umlagefinanzierten Getränkepolitik einiges an Beschimpfungen einstecken müssen, obwohl sie ja nichts für ihre Vorschriften können und obwohl es auch ihnen voll Rohr auf den Sack gehen dürfte, den Überblick über die Bestellungen von und das Wechselgeld für sechs bis acht Leute[n] pro Tisch behalten zu müssen[818]) über nur rudimentäre Zweitsprachenkenntnisse des Englischen verfügen und sowohl Getränkebestellungen als auch Zahlungsmittel ständig durcheinanderbekommen. Dick Filth beugt sich herüber und ruft: »Jetzt seht ihr wohl, warum die Branche zig Milliarden im Jahr macht – die Spendierhosen sind immer in der Reinigung!«[819]
Die Menge verweilt bei Kuchen, süß genug, um einen Diabetiker zur ewigen Ruhe zu singen, trinkt Kaffee und Verdauungsschnäpschen à neun Dollar und macht weitere neunzig Minuten lang brüllende Konversation, bevor das Saallicht runtergedimmt wird und die Verleihung der 15. Annual AVN Awards beginnt. Dann folgt ein kaleidoskopischer Fluss gestelzter Dankesreden, zotiger Einzeiler, epilepsieverursachender Blitzlichter und Spots, die die gewundenen und abklatschergespickten Pfade der Sieger auf die Bühne verfolgen; alles ist vertreten, von exemplarischen Preisverleihungsergüssen bis hin zu Augenblicken nahezu perikleischer Eloquenz, als da wären:
»Verehrte Mitglieder von MENSA und Shakespeare-Aficionados!«, intoniert Al Goldstein von Screw, 62, korpulent, mit weißem Bart und verrücktem Haarschnitt, gekleidet in ein Sakko mit Schößen in verschiedenen Primärfarben – das genaue Ebenbild jenes alten Mannes aus der Nachbarschaft, vor dem uns Mutter immer gewarnt hat und dem wir als Wölflinge nie Minzschokolade verkaufen durften. Goldstein sonnt sich im Ruhm eines Special AVN Achievement Award, den er seines Erachtens schon lange verdient hat. »Ich möchte meiner Mutter danken, die die Beine breit gemacht und das alles hier ermöglicht hat.« Viele Leute spenden stehende Ovationen – Goldstein ist eine Pornoikone. Er hat Screw als Fotokopie vertrieben, als die meisten Anwesenden im Saal noch mit ihren Zehen gespielt haben. Ein Leben als Ninja für den Ersten Verfassungszusatz. Er labt sich am Applaus, liebt ihn, und es fällt nicht schwer, ihn irgendwie fast schon ein bisschen zu mögen. Er ist ein Paradebeispiel der Unverfrorenheit der heutigen Pornografie, die Inkarnation der aktuellen Einstellung »Na klar bin ich Abschaum, aber unter all eurer Heuchelei seid ihr das auch, und ich steh wenigstens dazu und hab meinen Spaß«:
»Ich bezeige meine Ehre allen Frauen mit IQs in den Dreißigern und allen Männern mit Dreißig-Zentimeter-Schwänzen. Die wahren Helden sind die Schwänze und Mösen, die vor der Kamera ficken. Das sind die wahren Helden.« Goldstein wird zu seinem Platz weniger zurückgeleitet als auf den Schultern getragen.
Vorausgegangen sind Robert Schimmels Intro und eine zwanzigminütige »Musikalische Verbeugung vor der Geschichte des Pornofilms«, bei der Oben-ohne-Tänzerinnen ein Potpourri aus Disco, New Wave und so weiter vorführen.[820] Die Band ist eine Gurkentruppe, deren Sound schlecht verstärkt wird, alle tragen ausgestellte Kragen und Dauerwellen aus Beton – als würde man die letzte Staffel von Drei Mädchen und drei Jungen durch ein geliehenes Fernglas anschauen. Die Bühne wird von automatischen Suchscheinwerfern beleuchtet, deren Farbwechsel keinem nachvollziehbaren Schema gehorchen.
Die Show der 15. AAVNA dauert insgesamt 3,5 Stunden und hat verblüffende Ähnlichkeit mit einer vulgären und extrem gut finanzierten Highschool-Versammlung. Die Mischung aus aufdringlicher Selbstbeweihräucherung[821] und tollpatschiger Choreografie ist oft so verquer, dass sie schon wieder etwas Liebenswertes bekommt. Für jede Preisübergabe gibt es mindestens sechs Moderatoren, die anscheinend nie wissen, wer gerade mit der Bekanntgabe eines Nominierten an der Reihe ist, und es gibt immer ein paar, die nicht nah genug ans Mikro gehen, um sich verständlich zu machen, und es gibt immer ein paar andere, die zu nah ans Mikro gehen, sodass es zu einer dröhnenden Rückkopplung kommt, die in den ersten Reihen die Menschen mitsamt Cocktails von den Stühlen fegt. Satyr von Wicked Pictures, nominiert in Unmengen von Kategorien, wird wiederholt »Satter« ausgesprochen. Die Preisträger sollen nach ihren Dankesreden links von der Bühne abgehen, aber selbst Sieger, die schon in früheren Jahren immer wieder auf dieser Bühne gestanden haben, vergessen das, versuchen, nach rechts abzugehen, und kollidieren mit den Hostessen, die sie dann nach links eskortieren. Manche Moderatoren bauen auswendig gelernte Antidrogensprüche in ihre Ansagen ein, während andere Moderatoren neben ihnen zucken und schniefen – nicht viele, aber doch ein paar –, ganz offensichtlich zugekokst bis an die Kiemen.
Das Neutralste und Ergiebigste, was sich über die ganze Angelegenheit sagen lässt, ist wahrscheinlich, dass sie immer wieder unfreiwillig komisch ist. Mit Preisen ausgezeichnete Steher danken ihren Regisseuren und Agenten allen Ernstes dafür, dass sie ihnen die Chance gegeben haben, ›ihren Mann zu stehen‹, ›sich gesundzustoßen‹ oder ›im Kommen zu sein‹, und merken anscheinend gar nicht, was für Zweideutigkeiten sie da von sich geben. Hinten bei uns am Journalistentisch sitzt jetzt eine vielleicht vierzigjährige Frau im Armani-Kostüm, die für ABC Radio einen Kurzbeitrag über die Preisverleihung macht; den größten Teil des Abends sitzt sie nur in sich zusammengesunken da, die Stirn in die Hand gestützt, und ihr Aufnahmegerät ist nicht mal eingeschaltet. Dick Filth verbringt die ganze zweite Stunde der Show damit, einen Kellner ausfindig zu machen, der ihm noch Getränkewechselgeld schuldet. Gene Ross von AVN würdigt den Männlichen Darsteller des Jahres ’98 mit den Worten: »Man hat noch nicht richtig gelebt, wenn man nie Tom Byrons verschrumpelte Eier auf einem 70-Zoll-Bildschirm gesehen hat.« Rob Blacks Miscreants ist in einer Kategorie nach der anderen nominiert, und jedes Mal kommt es auf der Bühne unweigerlich zu hektischen Gremiendiskussionen über die korrekte Aussprache des Titels, und dann erkundigen sich ein paar Moderatoren mit Bühnenflüstern, wer zum Geier mit diesem Übeltäter denn gemeint sein soll.[822]
Fairerweise sei dazugesagt, dass die Titel etlicher nominierter Produkte wirklich verwirrend sind. Triple Penetration Debutante Sluts 4 tritt – neben Wild Bananas on Butt Row und 87 and Still Banging’ – für die Unverschämteste Sexszene an, zieht dann aber den Kürzeren gegen eine Szene aus dem Video My Girlfriend’s Girlfriend, die im Programm den Titel »Anal Food Express«[823] trägt. Paul Thomas’ Bad Wives wird Bester Film. Evil Angels Buda wird Bester auf Video gedrehter Film. Die Statuette für die Beste Ausländische Veröffentlichung geht an einen europäischen Film mit dem Titel President by Day, Hooker by Night. Bad Wives gewinnt auch Trophäen für Dyanna Lauren als Beste Schauspielerin/Film, für Melissa Hill als Beste Nebendarstellerin/Film und für Lauren und Steven St. Croix in der Kategorie Beste Analsexszene/Film[824]. Die Ehre für das Beste Kompilationsvideo geht an The Voyeur’s Favorite Blow Jobs & Anals. David Cronenbergs Mainstream Crash gewinnt aus heiterem Himmel etwas namens Bester Alternativer Pornofilm. Stephanie Swift wird Beste Schauspielerin/Video und erzählt der Menge: »Danke, ihr alle. Mein Gangbang war voll der Bringer.«[825]
Zum riesigen und grausamen Entzücken von Tisch Nr. 189 gewinnt Max Hardcore überhaupt nichts.
Ein Schauspieler namens Jim Buck wird AVNs Schwuler Darsteller des Jahres, und Ihre Aut. setzen sich wirklich und wahrhaftig kerzengerade hin, als der Mensch, der die Bühne betritt, um den Preis entgegenzunehmen, ein pinker Leptosom von 1,47 ist, einen Eton-Kragen trägt und selbst bei 125-facher Vergrößerung wie ein zwölfjähriger Junge aussieht. Und wie sich herausstellt, ist es ein zwölfjähriger Junge: Jim Bucks kleiner Bruder. »Jim kann heute Abend nicht hier sein, weil er bei einem Shakespeare-Festival in New Orleans auftritt«, sagt der kleine Junge (die Mienen glupschäugiger Ungläubigkeit seitens der Autoren – Shakespeare-Festival? … schickt einen vorpubertären Verwandten, um einen Preis für die abgefilmte Güte widernatürlicher Unzucht in Empfang zu nehmen? – werden von Hecuba und Filth mit verträumtem Schulterzucken quittiert), »aber ich bin hier, um mich in seinem Namen bei Ihnen zu bedanken und um Ihnen zu sagen, dass Jim alles, was er kann, mir zu verdanken hat«. [Hemmungsloses Lachen des Publikums, frenetischer Beifall und ein einmaliges spastisches Krampfen der zusammengesunkenen Lady von ABC Radio.]
Zu einer seltsamen und traumatisierenden Erfahrung, die einer Ihrer Aut. nicht mal versuchsweise beschreiben wird, kommt es am Pissoir der Herrentoilette zwischen den professionellen Stehern Alex Sanders und Dave Hardman. Wir begnügen uns mit der Andeutung, dass der Drang fast übermächtig wird, zu ihren Penissen hinüber-/hinunterzulinsen, und dass die Motive hinter diesem Drang so komplex sind, dass sie eine Anurie zur Folge haben (die das Trauma noch mal verschärft). Lassen Sie sich gesagt sein, dass männliche Pornostars um sich herum dieselbe schleierhafte affektive Intimsphärenblase erzeugen, die alle Männer vor allen Pissoirs der Welt erzeugen. Die Pissoirzone der Herrentoilette im Caesars Forum ist ein einziges Phobienfest, verlassen Sie sich drauf. In der Zone von Waschbecken, Spiegeln und Handtüchern bekommt man dagegen ein unbezahlbares Püree aus Insiderjargon und Fachsimpelei, das dank der Echolalie der Kacheln und des Übermaßes an Sechsdollardrinks extra nachhallt. Ein gewesener Darsteller und gewordener Regisseur erzählt einem Kollegen von einem aufregenden neuen Projekt:
»Hab da diese Russin gefunden, die ist vielleicht neunzehn, spricht kein Wort Englisch, was hierfür [= das aufregende Projekt] perfekt ist.«
»Nimmste die mit? Wenigstens in einer Szene?«
»Nee. Darum geht’s doch grade. Ich bin der Regisseur. Das ist jetzt mein Gehänge.«
»Aber Mann, die musste doch einfach mitnehmen. Und wenn’s nur eine Szene ist. Neunzehn, kein Englisch. Die hat doch garantiert ein so großes Arschloch« [veranschaulichende Geste nicht gesehen, da der Lauscher noch komplex traumatisiert vor dem Pissoir steht].
»Na, mal sehen.« [Einvernehmliches Lachen mit der Herzlichkeit echter Freundschaft und Kollegialität; exeunt.]
Die Planer der Awards Show haben ihr Handwerk offenkundig zu Füßen der Oscar-Verleihungen gelernt. Nicht nur werden die hoch gehandelten AVNAs bis zum Ende aufgespart – wobei während der ersten beiden Drittel des Abends ab und zu Lockartikel wie die Beste Nebendarstellerin eingestreut werden, damit die Leute[826] bei der Stange bleiben –, sondern die endlosen Listen der Kategorien und Nominierten werden auch mit kleinen musikalischen Interludien durchsetzt. Zwischen meistverkauftem Video und Bester Ausländischer Veröffentlichung beispielsweise tritt Dyanna Lauren auf und singt ihre Eigenkomposition »Psycho Magnet«, eine Hardrockballade über das Leben eines Pornostars, der ständig von geisteskranken Wichten belauert und belästigt wird. Die Thesenführung des Songs kommt Ihren Aut. leicht holprig vor, aber Lauren stolziert, verrenkt sich und unterstreicht ihre Phrasierung mit Aufwärtshaken in die Luft wie eine echte MTV-Diva. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Lauren auch bei massiver Verstärkung und direkter digitaler Synthese die Stimme einer Katze mit angezündetem Fell hat. Dick Filth gibt zu bedenken, das gelte auch für Alanis Morissette, und H. Hecuba schaltet sich ein und ruft: »Über die Gesangs- und Tanzeinlagen hier könnt ihr sagen, was ihr wollt, aber die lassen alles, was Wahlberg und Reilly in Boogie Nights anstellen, alt aussehen!«
Hecubas Behauptung scheint eine Weile unanfechtbar, aber unmittelbar vor der Kategorie Bestes Boxset-Coverkonzept wird für einen Mann in vorgerückten Jahren mit fliehendem Kinn und zu kleinem Porkpie-Hut, wie Art Carney ihn in den Honeymooners immer trug, ein Flügel auf die Bühne geschoben. Der Entertainer wird als »Doctor Dirty« vorgestellt, »der versauteste Musiker in der Musikgeschichte«, und schmettert obszöne Parodien aktueller Schlager, die Tisch Nr. 189 an ein Mad-Heft erinnern, bei dessen Produktion sämtliche Mitarbeiter im selben Augenblick den Verstand verloren hatten. »Hab im Knast zu viel poussiert,/und mein Arschloch moussiert,/der Gupsch tropft mir aus der Hintertür« sind die einzigen hängen gebliebenen Versfetzen, aber auch Titel wie »Sit on a Happy Face« oder »It’s a Small Dick After All« erweisen sich als unerträglich unvergesslich. Niemand im Umkreis unseres Tischs hat je von Doctor Dirty gehört, aber praktisch alle stimmen darin überein, dass er der Tiefpunkt der ’98er-Gala ist und in der Kategorie Widerlichste AVNA-Einlage seit Menschengedenken in ernsthafte Konkurrenz zu Scotty Schwartz’ halb nackter Wiedergabe von »Thank Heaven for Little Girls« von 1997 tritt. Auf dem Höhepunkt der Festlichkeiten ’98 kommen Midori[827] und zwei weitere Starlets als »The Spicy Girls« auf die Bühne und legen eine Art Rap im Viervierteltakt hin, an dessen Ende so gut wie alle Pornodarstellerinnen aus dem Publikum[828] auf der Bühne sind, lasziv tanzen und den AVN-Kameras Luftküsse zuwerfen. Diese weibliche Bambule krönt die Awards anscheinend jedes Jahr.
Und noch etwas findet jedes Jahr statt. Ins AVN-Video der Gala wird es nie aufgenommen, bildet aber eine Tradition, die endlich erklärt, warum die armen Kellner des Ballsaals fünf Stunden lang Beschimpfungen über sich ergehen lassen und auf der Suche nach Wechselgeld herumwuseln. Wenn die Awards-Show vorbei ist und das Saallicht wieder angeht, posieren ein paar Starlets mit den Kellnern vom Forum für obszöne Schnappschüsse. Dieses Jahr werden viele Bilder ganz hinten, in der Nähe unseres Tischs aufgenommen. Ein Kellner steht da und legt Leanna Hart einen Arm um die Schultern, sie zieht die Steuerbordseite ihres schulterfreien Taftkleids runter, der Kellner darf ihre rechte Brust umschließen, und der Tisch 189 zugewiesene Kellner[829] macht das Foto. Ein anderer Kellner stellt sich hinter Ann Amoré – eine sehr ansehnliche schwarze Lady mit 125-cm-Oberweite und flächendeckenden Gangtätowierungen auf beiden Armen –, beugt sich über sie, sie bückt sich und entlässt ihre Brüste aus ihrer Einhegung, der Kellner betatscht sie und tut so, als würde er sie von hinten nehmen, während die Kamera seines Freundes aufblitzt. Was die Kellner mit den Fotos anfangen, ist schwer zu erraten, aber sie sind sichtlich begeistert, und die Sternchen sind geduldig und auf ähnlich ausdruckslose und distanzierte Weise verbindlich wie gegenüber den Wichten auf der Porno-CES.
Auch der Aufbruch nach Ende der AAVNA-Gala ist ein zäher Prozess, denn erneut füllt sich das weite Foyer vor dem Ballsaal mit Branchenangehörigen, die irgendwie vergessen haben, ihre Gläser mit Caesar-Caméen auf den Tischen stehen zu lassen, und jetzt in Grüppchen herumstehen, sich gegenseitig gratulieren und Pläne schmieden, zu welchen Insiderpartys man später noch gehen könne. Der schleppendste und schaurigste Teil des Hinausgehens ist aber die Durchquerung des langen Glasvestibüls zum Seitenausgang des Hotels. Unmengen von Fans, Angestellten von Caesars Palace und allerlei anderen Zivilpersonen haben sich dort versammelt und lassen nur einen schmalen Durchgang für die Galagäste, die diesen Spießrutenlauf praktisch im Gänsemarsch absolvieren müssen. Es ist spät, alle sind müde, und die Menschenmenge zeigt alles andere als die ehrfürchtige Zurückhaltung der Zuschauer vorhin am Taxistand. Jetzt muss anscheinend jeder einzelne Wicht seinen lautstarken Kommentar zu den vorbeiziehenden Stars absondern, und das Ergebnis ist eine schräge Mischung aus Vergötterung und Gespött:
»Ich liebe dich, Brittany!«
»Wie bist du in das Kleid reingekommen, Baby?«
»Schau mal hierher!«
»Weiß deine Mutter, wo du jetzt gerade steckst?«
Ein rot angelaufener Mann in den Dreißigern mit einem Plastikbecher Bier in der einen Hand zwickt mit der anderen ganz bewusst die Ama vor uns in die Brust. Ohne aus dem Tritt zu geraten, schlägt sie seine Hand weg. Ihr Gesicht können wir nicht sehen und wissen nicht, ob es überhaupt eine Reaktion zeigt, können es uns aber denken.
Dick Filth geht hinter uns und hat jedem Ihrer Aut. eine Hand auf eine Schulter gelegt (wir schleifen ihn praktisch hinaus). Allen dröhnen noch die Ohren, und Filth weiß, dass er quasi brüllen muss:
»Soll ich euch was sagen?«, ruft er, »im Februar werden dann die XRCO Awards verliehen. Die X-Rated Critics Organization Awards, ja? Die sind nicht in Vegas, sind nicht abgekartet und schaffen es trotzdem, genauso lächerlich zu sein.«
1998