Leben

Neues Feuerspeien

Sie kennen diese Liebesgeschichte. Ein edler Ritter erspäht am fernen Fenster einer furchteinflößenden Burg eine holde Maid. Über die verblühte Heide hinweg wechseln sie verständnisinnige Blicke. Es funkt auf den ersten Blick. Und so prescht der edle Herr Ritter mit eingelegter Lanze auf die Burg zu. Kann er einfach so hingaloppieren und die holde Maid entführen? Nicht ganz. Erst muss er am Drachen vorbei. Oder? So eine Burg wird immer von einem ausgesucht fiesen Drachen bewacht, und der Ritter muss sich grundsätzlich dem Drachen stellen und ihn erschlagen, wenn er hier irgendwen entführen will. Wie jeder treue Ritter im Dienste der Leidenschaft stellt er sich dem Drachen im Kampfe, alles der holden Maid zuliebe. »Holde Maid« steht übrigens für »attraktive Jungfrau«. Man sollte sich also nicht naiv was in die Tasche lügen, wofür der Recke wirklich in den Kampf zieht. Sie können davon ausgehen, dass er sich nicht mit einem von der Maid gehauchten »mein Held« abspeisen lässt, wenn der Drachen erst mausetot ist. In der Regel läuft die Geschichte übrigens so, dass der edle Herr Ritter Leben und Lanze gegen den Drachen nicht riskiert, um die attraktive Jungfrau zu »retten«, sondern um sie zu »erringen«. Und jeder Ritter, egal aus welcher Epoche, kann Ihnen flüstern, was »erringen« hier bedeutet.

Für manche meiner Ritterfreunde ist das heterosexuelle Aids-Gespenst gleichbedeutend mit einem sexuellen Weltuntergang – eine brutale Vertreibung aus dem sorglosen Paarungsparadies der letzten dreißig Jahre. Andere verstehen HIV makaber, aber optimistischer, als eine Art Test, von welchem sexuellen Schrot und Korn unsere Generation eigentlich ist; diese Typen applaudieren dem eigenen sorglosen Matratzensport als einer Art medizinischer Waghalsigkeit, die die Unbezwingbarkeit des erotischen Geistes bekräftigt. Als Beispiel eine Stelle aus dem Brief eines optimistischen Freundes über Aids: »Jetzt hat die Natur also ein neues Hindernis für zwischenmenschliche Beziehungen erschaffen, und doch lässt sich das romantische Verlangen nicht unterkriegen. Es trotzt allen – menschlichen, moralischen und viralen – Auslöschungsversuchen. Und das ist eine wunderbare Sache. Der menschliche Fickwille kann einen faktisch doch anspornen, weil er sich allen Hindernissen zum Trotz behauptet. We shall overcome, um’s mal so zu sagen.«

So spricht ein wahrer Kavalier, keine Frage. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich fürchte, einige unserer Ritter von heute unterschätzen sowohl die Gefahren als auch die Vorteile von Aids. Sie begreifen nicht, dass HIV durchaus die Lösung der Sexfrage in den Neunzigern sein könnte. Und meiner Meinung nach begreifen sie es nicht, weil ihnen nicht aufgeht, worum es bei der ewigen Erzählung der erotischen Leidenschaft eigentlich geht.

Der erotische Wille existiert »Hindernissen zum Trotz«? Gehen wir noch mal zurück zu dem Ritter und der holden Maid, die sich da tief in die lüsternen Augen sehen. Der Ritter kommt also auf die Burg zugaloppiert, Mammutlanze im Anschlag. Nur denken wir uns jetzt mal, dass da keine Gefahr besteht, kein Drache zum Fürchten, Stirnbieten, Bekämpfen und Erschlagen. Stellen Sie sich vor, der Ritter macht sich völlig unbehindert auf die Hatz nach der Maid – es gibt keinen Drachen; das Burgtor ist unversperrt; die Zugbrücke wird automatisch herabgelassen wie ein Garagentor in der Vorstadt. Dahinter steht die holde Maid, hat einen Teddy von Victoria’s Secret im Arm und lockt ihn mit dem Zeigefinger zu sich. Bin ich der Einzige, der hier einen Anflug von Enttäuschung auf Herrn Edelritters Antlitz entdeckt, ein leicht enttäuschtes Abschlaffen der Lanze? Hat diese Erzählung noch den leidenschaftlichen, erotischen Drive der ersten Version?

»Der menschliche Fickwille«? Ficken kann jedes Tier. Aber nur Menschen können sexuelle Leidenschaft erfahren, was etwas fundamental anderes ist als der biologische Paarungsdrang. Und sexuelle Leidenschaft hat als entscheidende psychische Kraft im menschlichen Leben Jahrtausende überdauert – nicht trotz, sondern dank Hindernissen. Der gute alte Koitus wird an genau den Punkten erotisch aufgeladen und seelisch wirksam, an denen Hindernisse, Konflikte, Tabus und Konsequenzen ihn zu einer zweischneidigen Angelegenheit machen – bedeutsamer Sex ist Überwindung und Unterwerfung, Transzendenz und Überschreitung, triumphierend, schrecklich, rauschhaft und traurig. Paaren können sich auch Schildkröten und Schnaken, aber nur der menschliche Wille kann trotzen, überschreiten, überwinden, lieben: entscheiden.

Aus der Sicht der Geschichte waren Natur und Kultur immer genial darin, Hindernisse zu errichten, die der Entscheidung für die Leidenschaft ihren Preis und ihren Wert gaben: religiöse Verbote; Strafen für Ehebruch und Scheidung; ritterliche Keuschheit und höfische Schicklichkeit; das Stigma der unehelichen Geburt; Anstandsdamen; Komplexe von Heiliger & Hure; Syphilis; Engelmacherinnen; Vorschriften eines »moralischen« Kodex, der Sinnlichkeit so sehr tabuisierte wie Stuhlgang und Ketzerei … von der Körperangst der Viktorianer bis zur Anstandsregel ›Ein Fuß bleibt immer auf dem Boden‹ in der Frühzeit des Fernsehens; vom automatischen Verderb ›gefallener‹ Frauen bis zum Petting auf dem Rücksitz, wo die Freundinnen den Freunden verweigerten, worum die flehten, um nicht ihren Respekt zu verlieren. Schon klar, aus der Sicht des Jahres 1996 wirken die meisten dieser alten Sexdrachen albern und grausam. Aber vergessen wir nicht, dass etwas sehr laut für sie sprach: Solange die Drachen herrschten, hatte Sex absolut nichts Sorgloses. Historisch gesehen war menschliche Sexualität immer eine todernste Angelegenheit – und je wilder die Drachen, desto wichtiger der Sex; je höher der Preis der Entscheidung, desto höher die erotische Spannung, die das Ergebnis der Entscheidung umgab.

Und dann kippten die Drachen scheinbar auf einen Schlag aus den Latschen und krepierten. Ungefähr zum Zeitpunkt meiner Geburt war das die sexuelle »Revolution« der Sechziger. Science-Fiction-mäßige Fortschritte bei Verhütungsmaßnahmen und Medikamenten gegen Geschlechtskrankheiten, Feminismus als politische Kraft, Fernsehen als Institution, der Aufstieg einer Jugendkultur mitsamt hormonintensiver Kunst und Musik, Bürgerrechtsbewegung, Rebellion als Mode, enthemmende Drogen, die moralische Kastrierung von Kirchen und Sittenrichtern. Bikinis, Miniröcke. »Freie Liebe.« Die Burgtore wurden weniger aufgeschlossen als aus den Scharnieren geschossen. Sex bekam endlich etwas Zwangloses, »Unblockiertes«, ein Verlangen neben anderen: sorglos. Den größten Teil der Rebellion verlebte ich zahnlos und in Windeln, aber es muss urplötzlich das Paradies gewesen sein. Eine Zeit lang.

Die große Party der Revolution habe ich nicht bewusst mitbekommen, aber den anschließenden Kater durfte ich voll und ganz auskosten – die erotische Malaise der Siebziger, als Sex, getrennt von Kosten und Konsequenzen, in der Kultur eine Art Sättigungspunkt erreichte – Swingerpaare und Bars für die Fleischbeschau, Whirlpools und Erhard Seminar Training, gynäkologische Doppelseiten im Hustler, Drei Engel für Charlie, Herpes, Kinderpornos, Stimmungsringe, Teenagerschwangerschaften, Plato’s Retreat, Disco. Ich erinnere mich nur zu gut an Auf der Suche nach Mr. Goodbar und dessen finsteres Porträt von Leere und Selbsthass, die ein Jahrzehnt des zügel- und sorglosen Fickens hinterlassen hatte. Im Rückblick wird mir klar, dass ich in einer Kultur geschlechtsreif wurde, der die Drachen zu fehlen begannen, deren Tode sie angeblich erst befreit hatten.

Wenn ich das halbwegs richtig auf die Reihe kriege, könnten die sorglosen Ritter meiner eigenen faden Generation Aids durchaus als einen Segen auffassen, als ein Geschenk der Natur, das eine kritische Balance wiederherstellen könnte oder das unbewusst von der kollektiven erotischen Verzweiflung nach dem Überangebot der Sechziger heraufbeschworen wurde. Denn der Drache ist wieder da und speit ein Feuer, das man lieber nicht ignoriert.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Niemand würde je behaupten, eine tödliche Seuche wäre eine feine Sache. Nichts Natürliches ist gut oder schlecht. Natürliches ist einfach; gut oder schlecht sind erst die verschiedenen Entscheidungen der Menschen für oder gegen das, was ist. Aber unsere Geschichte zeigt, dass eine erotisch aufgeladene Existenz – aus egal welchen Gründen – Hindernisse für die Leidenschaft braucht; Entscheidungen müssen ihren Preis haben. Dass Hunderttausende von Menschen auf entsetzliche Weise an Aids sterben, scheint ein grausam hoher und ungerechter Preis für ein neues erotisches Hindernis zu sein. Aber natürlich ist er auch nicht ungerechter als die Millionen, die an der Syphilis zugrunde gegangen sind, an inkompetenten Abtreibungen und »Verbrechen aus Leidenschaft«, und natürlich ist er auch nicht grausamer, als dass den Menschen gewohnheitsmäßig das Leben zerstört wurde, weil sie »gefallen« waren, »Unzucht getrieben«, »gesündigt«, »Bastarde« auf die Welt gebracht hatten oder infolge von hirnverbrannten religiösen Vorschriften in lieblosen Ehen voller Missbrauch gefangen waren. Ich zumindest finde das nicht natürlich.

Wir müssen uns einem neuen Drachen stellen. Sich einem Drachen zu stellen, heißt aber nicht, sich unbewaffnet vor ihm in die Brust zu werfen und seine Mom zu beleidigen. Und die erotische Aufladung der Gefahr, die Sex und HIV umgibt, heißt nicht, dass wir uns dem Sportvögeln weiterhin im Namen des »Muts« oder des romantischen »Willens« hingeben können. Das Geschenk von Aids besteht in der energischen Erinnerung daran, dass Sex absolut nichts Sorgloses an sich hat. Und ein Geschenk ist das, weil die Macht und die Bedeutung der menschlichen Sexualität mit unserer Einsicht in ihre Ernsthaftigkeit zunehmen. Das war von Anfang an das »Schlechte« an sorglosem Sex: Sex ist nie schlecht, er ist aber auch nie sorglos.

Unsere sexuelle Einsicht in das, was ist, kann mit der gewissenhaften Kondomverwendung anfangen – als Liebesbeweis uns selbst und unseren Partnern gegenüber. Langsam etabliert sich aber eine tiefere und weit tapferere Erkenntnis, womit wir es bei diesem Drachen zu tun haben; sie ist alles andere als ein Weltuntergang und trägt viel dazu bei, die erotische Spannung des zeitgenössischen Lebens zu steigern. Dank Aids erweitern wir unser Vorstellungsvermögen in Bezug auf das, was »sexuell« ist. Zuinnerst wissen wir, dass die eigentliche Anziehungskraft der Sexualität mit dem Kopulieren so viel zu tun hat wie die Anziehungskraft guten Essens mit Stoffwechsel und Kalorienverbrennung. Es klang und klingt banal, aber bei wahrer Sexualität geht es um unsere Probleme, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, Brücken über die Abgründe zwischen getrennten Individuen zu schlagen. Zu guter Letzt geht es bei Sexualität um Fantasie. Weil mutige Menschen Aids als Teil des Lebens akzeptieren, erkennen wir langsam, dass hocherotisch aufgeladener Sex alle möglichen Formen annehmen kann, die wir vergessen oder vernachlässigt haben – nicht genitale Berührungen, am Telefon oder per Brief; in Gesprächsnuancen; in einem Gesichtsausdruck; in einer Körperhaltung, einem bestimmten Händedruck. Sex kann überall und immer dort sein, wo wir sind. Wir müssen uns nur wirklich diesem Drachen stellen und dürfen weder hysterischem Entsetzen noch kindischem Verdrängen nachgeben. Im Gegenzug kann der Drache uns wieder beibringen, was wahre Sexualität bedeutet. Das ist weder belanglos noch beliebig. Feuer ist tödlich, aber wir brauchen es. Entscheidend ist, wie wir ans Feuer kommen. Man muss nicht nur anderen Menschen Respekt entgegenbringen.

1996