Frau Nasila sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. Ich dachte, eine alte, runzelige Frau mit einem Turban, langen, krummen Fingernägeln und einer schwarzen Katze auf den Schultern würde mir die Tür öffnen. Aber Frau Nasila sieht eher aus wie eine junggebliebene Sportlehrerin. Sie ist ungefähr fünfzig, trägt eine Jogginghose und eine Sweatshirtjacke und hat ein fröhliches Lachen aus wachen, graublauen Augen. Das Einzige, was auf eine Wahrsagerin hinweisen könnte, sind ihre lackschwarzen Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat.
»Ich freue mich.« Frau Nasila schüttelt meine Hand mit kräftigem Druck.
»Ja, ich mich auch.« Ich folge ihr ins Arbeitszimmer, wo sie mich bittet, auf einem dunkelgrünen Sofa mit goldenen Füßen Platz zu nehmen.
Frau Nasila selbst setzt sich hinter ihren Schreibtisch und wuselt in irgendwelchen Unterlagen herum. »Mit der Ordnung hab ich’s leider nicht so«, murmelt sie. Ich glaube ihr. Der Schreibtisch quillt über vor Papierstößen, Büchern und Akten. »Gleich geht es los. Legen Sie sich doch bitte schon mal hin. Ich muss noch die Fenster verdunkeln.«
»Meine Freundin müsste ...«
»Pscht, jetzt heißt es entspannen. Das ist ganz wichtig.«
Also tue ich, was Frau Nasila sagt, und lege mich lang hin. Das Sofa ist sehr gemütlich, und ich würde am liebsten ein kleines Schläfchen machen, so müde bin ich. Bille und ich saßen letzte Nacht noch bis ungefähr vier Uhr zusammen – und ich wache automatisch immer um sieben auf. Erst der Film, der Überlänge hatte, danach haben wir noch mindestens eine weitere Flasche Wein getrunken. Als Bille dann nach Hause wankte, hab ich noch ein bisschen über Wahrsager im Internet gegoogelt. Unter den Stichworten »Wahrsagerin«, »Frau Nasila« und »Hamburg« konnte ich aber keinen einzigen Eintrag finden. Merkwürdig.
Wo bleibt nur Bille? Vielleicht dauert ein Termin bei ihr länger? Na ja, aber wir können ja auch schon mal ohne sie anfangen.
»Nie finde ich was«, klagt Frau Nasila. »Ein Wunder, dass ich überhaupt meine Termine einigermaßen koordinieren kann.« Sie wirkt tatsächlich ein wenig konfus, während sie aufsteht und die schweren Samtvorhänge zuzieht. Dann geht sie zu einer Stereoanlage, und kurz darauf wabern sphärische Klänge durch den Raum.
Ich merke, dass ich immer müder werde. Ich bin ja auch in den Wechseljahren. Da darf man schon mal müde sein.
»So.« Frau Nasila schiebt nun einen Sessel ans Sofa und setzt sich. »Atmen Sie bitte tief ein und aus. Ganz regelmäßig.«
»Warum soll ich ...«
»Pscht, das ist die vorbereitende Maßnahme. Wir haben doch alles besprochen.«
Was haben wir denn besprochen? Ach so, vielleicht hat Bille ihr am Telefon schon das ein oder andere erzählt, und sie ist bereits über alles im Bilde. Gut. Je schneller es losgeht, desto besser. Ich atme tief ein und aus und lasse mich von der Musik einlullen.
Ist das eine Triangel?
»Gaaanz tief atmen, gaaanz tief. Ja so ist es gut. Schließen Sie die Augen, lassen Sie los. Und jetzt auuusatmen, jaaaaa, sehr gut machen Sie das. Ein und aus. Sie spüren die Leichtigkeit. Sie spüren, dass Sie fliegen. Sie sehen sich selbst hier liegen. Jaaaa, das ist ganz wunderbar. Ein und aus, ein und aus ...«
Sie streicht mir sanft über die Arme, und ich fühle mich, als wäre ich in Watte gepackt. Das ist zwar eine seltsame Vorbereitung, wie ich finde, aber ich bin ja keine Fachfrau. Vielleicht soll ich mich einfach nur entspannen, damit ich mich gleich im Gespräch über meine Zukunft besser öffnen kann. Das regelmäßige, tiefe Atmen jedenfalls führt dazu, dass ich immer müder werde. Und noch müder.
Irgendwann höre ich Frau Nasilas Stimme nur noch ganz leise. Dafür vernehme ich jetzt ein Rauschen, es klingt ein bisschen so wie ein Wasserfall. Es hört sich gut an. Die Triangel wird leiser, dann lauter, und ich atme und atme.
Dann sehe ich plötzlich eine Straße, auf der Leute entlanglaufen und jubeln. Sie schwenken Fahnen und scheinen sich zu freuen. Ich kenne diese Menschen nicht, aber die Begeisterung wirkt ansteckend. Ich atme ein und aus, ein und aus, und mit einem Mal macht sich ein ganz leichtes, glückliches Gefühl in mir breit. Es ist sehr angenehm, und ich glaube tatsächlich, dass ich fliege. Ich fliege, ja! Nun wird der Wasserfall leiser, der Jubel der Menschen dafür lauter, und die Jubelschreie werden deutlicher. Nur, was bejubeln die Leute?
Ich konzentriere mich und strenge mich an, um die Worte zu verstehen. Dann rempelt mich doch tatsächlich jemand an. Es ist ein Mann. Er strahlt übers ganze Gesicht und schreit etwas, das sich so anhört wie ...
»Weltmeister! Wir sind Weltmeister! Bodo, wo bist du denn? Komm her! Weltmeister, Weltmeister, Weltmeister!«
Der Fremde drängelt sich an mir vorbei und fällt einem Freund in die Arme, der eine altmodische Knickerbockerhose trägt. Und eine Baskenmütze. Und Hosenträger.
Während ich von weiteren Vorbeilaufenden angerempelt werde, schaue ich mich irritiert um. Ich muss zugeben, dass ich etwas verwirrt bin. Wo ist Frau Nasila? Wo ist das Geräusch des Wasserfalls und der Triangel? Wo ist das grüne Sofa?
Und wo um alles in der Welt befinde ich mich?
Es ist warm, es scheint Sommer zu sein, wenigstens das ist geblieben. Aber sonst ist irgendwie alles anders. Ich begreife nur noch nicht, was hier vor sich geht. Ich meine, gerade eben lag ich doch noch auf diesem Sofa und habe auf Bille gewartet. Will mich hier vielleicht irgendjemand auf den Arm nehmen? Bin ich das Opfer einer versteckten Kamera oder so geworden? Soll das ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk sein?
Danke, darauf kann ich gut und gerne verzichten.
Rechts von mir befindet sich eine Holzbank, auf die ich mich setze, um mich kurz zu sammeln. Dann schaue ich mich weiter um.
Ja, das ist doch ... das ist doch der Hamburger Hafen. Natürlich ist dies der Hamburger Hafen. Ich bin ja nicht blöd. Aber wo um alles in der Welt ist denn die Rickmer Rickmers? Das Museumsschiff liegt doch seit den achtziger Jahren hier. Und nun ist es weg. Genau so wie die Cap San Diego, das weiße Frachtschiff. Das kann doch gar nicht sein.
Ein Windstoß fährt mir durch die Haare, und ich will eine Strähne zurückstreichen, als ich bemerke, dass ich etwas auf dem Kopf habe. Ich nehme es ab und staune nicht schlecht: ein Hut. Ich habe noch nie einen Hut getragen. Und schon gar nicht einen gelben in Form einer Banane. Nun schaue ich an mir herunter und bin fassungslos. Ich trage derbe, flache Schuhe, meine Beine stecken in Nylonstrümpfen und einem geschmacklosen Rock aus grober Wolle, der bis kurz unters Knie geht. Auch meine Handtasche ist zum Fürchten.
Die vorbeilaufenden Leute scheint das nicht zu kümmern. Sie schreien noch immer »Wir sind Weltmeister!«. Aber wenn ich sie genauer betrachte, sehen die Frauen ziemlich genauso aus wie ich. Die meisten tragen komische Sachen und alberne Hüte.
Ich verstehe das nicht, Deutschland ist doch bei der diesjährigen WM im Halbfinale ausgeschieden. Spanien wurde Weltmeister! Ich meine, hab ich was nicht mitbekommen? Lag ich im Koma?
Langsam stehe ich auf und kneife mir in den Arm. Ich hoffe, dass ich einfach nur eingeschlafen bin und gleich von Bille aus diesem komischen Albtraum geweckt werde. Ich will jetzt aufwachen, sofort. Aber ich wache nicht auf.
Was soll ich bloß tun?
Denk nach, Cosima. Denk ganz ruhig nach! Vielleicht sollte ich einfach nach Hause fahren und entspannen.
Völlig verwirrt nähere ich mich der Haltestelle an den Landungsbrücken. Hier hält angeblich die Straßenbahn der Linie 14, die über die Schanzenstraße bis kurz vor meine Straße fährt, in die Husumer Straße.
Entweder bin ich die letzten Jahrzehnte blind gewesen, oder aber ich werde verrückt. Es gibt in Hamburg doch gar keine Straßenbahn! Warum fährt jetzt plötzlich eine? Seit 1978 gab es hier keine Straßenbahn mehr. Das weiß ich genau.
Was ist hier los?
Ein antiquiertes Klingeln kündigt die Straßenbahn an. Drinnen herrscht Hochbetrieb. Auch hier schreien die Leute ununterbrochen, dass Deutschland Weltmeister ist. Kinder hüpfen vor Begeisterung herum.
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich zu einer Frau, die gerade einsteigen will. »Wir sind also Weltmeister geworden?«
Sie strahlt. »Haben Sie das etwa nicht mitgekriegt? Da reden doch heut alle von. Zum ersten Mal Weltmeister! Das ist wunderbar, so wunderbar, finden Sie nicht auch?«
»Zum ersten Mal ...«, sage ich langsam und steige mit ihr in die Bahn. »Zum ersten Mal, das war doch 1954.«
Sie runzelt die Stirn. »Es ist ja auch 54.«
»Sie meinen ...«, nun wird mir kalt. »Dass heute, an diesem Tag ... Also, dass wir uns im Jahr 1954 befinden?«
Die Frau schüttelt ungläubig den Kopf. »Geht’s Ihnen vielleicht nicht so gut?«, fragt sie dann.
»Doch, doch, ich bin nur ein bisschen durcheinander.«
»Ja, den Eindruck hab ich auch. Ich meine, zu fragen, ob wir 54 haben, das ist doch merkwürdig.«
»Da haben Sie sicher recht.« Ich nicke und muss mich festhalten, als die Bahn anfährt. »Also ... äh ... Welches genaue Datum haben wir denn?«
»Na, heut ist der vierte Juli«, sagt sie verwundert. »Und bevor Sie fragen, es ist Sonntag.« Dann dreht sie sich von mir weg, schiebt sich durch die Menge und murmelt irgendwas vor sich hin. Ich glaube Worte wie »geisteskrank« oder »verrückt« zu hören.
Und ich belausche noch andere Gespräche.
»Die Christiansens haben jetzt ein Auto«, sagt eine Frau neben mir, die abgearbeitete Hände hat und irgendwie verhärmt aussieht. Obwohl sie mit Sicherheit nicht älter als fünfunddreißig ist, sieht sie aus wie fünfzig. Ihre Haare sind grau gesträhnt, in ihren Mundwinkeln befinden sich Falten. Ich schaue mich weiter um. Fast alle Frauen im Bus sehen so aus. Irgendwie abgearbeitet und verlebt. Sie tun mir leid.
»Kein Wunder, er ist doch Bankdirektor«, antwortet das Gegenüber der Frau. »Der hat’s doch dicke. Und wenn man sich überlegt, dass du da putzt und dann hat die Gnädige noch ein Kindermädchen, eine Köchin und was weiß ich nicht alles.«
Die faltige Frau Nummer eins nickt. »Sie hockt den ganzen Tag rum, spielt mit ihren Damen Karten und lässt sich von vorn bis hinten bedienen. Und er wird immer fetter.«
»Ist ja auch kein Wunder«, lästert die andere. »Wenn man alles nur mit Sahnesoße frisst. Und jeden Tach Fleisch.«
»Hätt’ ich auch gern.«
»Na, ich auch. Aber unsereins kann schauen, dass er Kartoffeln auf den Tisch bringt.«
»Na ja, sind wir froh. Wenigstens geht’s halbwegs bergauf.«
»Ja, für einige, aber nicht für alle.«
Dann sagen sie nichts mehr.
Ich starre aus dem Fenster der Straßenbahn und fühle mich aufgrund der ganzen alten Autos und den merkwürdig gekleideten Menschen wie in einem Fünfziger-Jahre-Film mit Heinz Rühmann oder so.
***
An der Haltestelle Curschmannstraße steige ich aus und muss nur ein paar Meter bis zur Husumer Straße gehen, denn hier wohne ich. Im fünften Stock eines schönen Altbaus. Ich mag meine Wohnung sehr und möchte jetzt nur noch in meine eigenen vier Wände.
Aber etwas macht mich nervös: In der geschmacklosen Handtasche suche ich vergeblich nach meinem Schlüsselbund mit dem Bärchen-Anhänger. Ich finde zwar einen Schlüssel, der passt aber nicht ins Schloss, ich kann so oft probieren, ihn hineinzustecken, wie ich will. Nichts tut sich. Das Schloss scheint viel größer zu sein.
Ratlos bleibe ich vor meiner eigenen Haustür stehen und schaue auf die Klingelschilder. Behm, Henkel, Hallge ... Die wohnen hier doch alle gar nicht. Und da, wo mein Schild ist, steht Petersen.
In diesem Moment öffnet sich die Tür, und zwei Jungen im Alter von ungefähr sieben Jahren rasen an mir vorbei. Sie tragen kurze Hosen und Sandalen. Und sie sehen aus wie die Kinder aus einem schwarz-weißen Heimatfilm.
Im Treppenhaus schlägt mir ein merkwürdiger Geruch entgegen. Ich kann Bohnerwachs wahrnehmen, diverse Essensgerüche und Kohle. Und noch etwas anderes, das ich allerdings nicht zuordnen kann.
Langsam steige ich die Treppe hoch. Die Stufen knarzen bei jedem Schritt. Merkwürdig, in der Mitte, wo der Boden schon abgetreten ist, lag heute Morgen noch Linoleum. Ich habe diesbezüglich schon mehrfach mit der Hausverwaltung telefoniert, weil ich es so schade finde, dass man das Holz nicht mehr sieht. Irgendwann wollte man das entsprechend renovieren. So schnell hätte ich das den Handwerkern gar nicht zugetraut.
Genau dasselbe an den Wänden: Heute Morgen war da noch Rauputz, jetzt schaue ich auf wunderhübsch gemalte Jugendstilornamente. Auch darüber hatte ich mit der Verwaltung gesprochen. Es ist doch ein Jammer, dass die alte, ursprüngliche Bemalung einfach übertüncht wurde.
Im ersten Stock fällt mir neben einer Wohnungstür ein offener Schuhschrank auf, den es hier bisher auch noch nicht gab. Nun erklärt sich auch der Geruch, den ich eben nicht zuordnen konnte. Irgendwie sieht alles ... neuer aus als heute Morgen. Als hätte man während meiner kurzen Abwesenheit renoviert, von den ausgetretenen Treppenstufen jetzt mal abgesehen.
Im fünften Stock angekommen, bleibe ich vor meiner Wohnungstür stehen und starre das goldene Namensschild an: Petersen.
Mein Herz rast, was ich schwachsinnig finde. Ich muss doch nicht vor den Bewohnern meiner eigenen Wohnung Angst haben.
Ich atme tief ein und tief aus und drücke dann den Klingelknopf.