Kapitel 6

Die Lust auf eine weitere Gastwirtschaft ist mir vergangen, also laufe ich langsam in Richtung Kiez zurück und lande irgendwann in der Silbersackstraße. Vor der Kultkneipe »Silbersack« bleibe ich stehen und frage mich, ob die hier wohl wenigstens Nüsse oder Salzstangen haben. Mit oder ohne Mayonnaise ist mir egal. Mein Magen knurrt mittlerweile so laut, dass ich damit Kampfhunde verscheuchen könnte.

Ich gehe rein, schmeiße ein »Hallo« in die Runde und setze mich in die hinterste Ecke an den Tresen. Es sieht hier gar nicht so abgewrackt aus, wie ich es in Erinnerung habe. Eigentlich ist es sogar gemütlich. Und da hängt ja auch ein großes Tuch mit der Aufschrift: »5 Jahre Silbersack«. Fünf Jahre? Also gibt es den Silbersack seit 1949 ... Bevor ich endgültig durchdrehe, bestelle ich lieber was zu essen.

»Lütt un lütt?« Als sich die Wirtin vor mir aufbaut, traue ich meinen Augen nicht. Es ist Murmel! Meine Murmel! Jetzt wird alles gut.

Schlagartig bin ich so erleichtert, dass ich anfange zu heulen. »Murmel!«, schreie ich und springe auf. »Bin ich froh, dich zu sehen! Murmel, was machst du hier? Was ist eigentlich los? Wo bin ich? Und warum ist Bille in meiner Wohnung und erkennt mich nicht?« Meine Stimme überschlägt sich, und die anwesenden Männer glotzen blöd, aber das ist mir egal.

»Ich versteh nicht«, sagt Murmel vorsichtig und ist schon einen Schritt zurückgewichen.

Nein, bitte, bitte nicht! Bitte lass sie mich erkennen. Ich trete auch wieder in die Kirche ein.

Aber Murmel erkennt mich nicht, auch nicht, nachdem ich zwanzig Mal hintereinander »Ich bin’s doch, Cosima, Cosima, Cosima!« gerufen habe.

Ich geb’s auf. Es ist sinnlos.

»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich resigniert. »Ich habe Sie mit jemandem verwechselt. Ich bin ein wenig kurzsichtig.«

»Schon gut.« Murmel kommt wieder näher. »Was wollen Sie denn trinken?«

Merkwürdig, keine Spur mehr vom Akzent einer deutsch-deutschen Polin.

»Gibt’s auch was zu essen?«, frage ich vorsichtig.

Murmel guckt mich stirnrunzelnd an. »Das ist eine Kneipe«, stellt sie klar, greift dann aber unter den Tresen und legt etwas vor mich hin. Es ist ein in Papier eingepacktes Butterbrot. Sie hat mir wohl angesehen, dass ich halb verhungert bin. Dass sie ihr Brot mit mir teilt, ist wirklich nett. Murmel eben.

»Danke.« Hastig wickele ich das Brot aus. Sie hält mich bestimmt für eine Idiotin. Himmel, schmeckt das gut. Nie hätte ich gedacht, dass ein simples Butterbrot so lecker sein könnte!

Ich bestelle ein Bier, dann geht es mir besser. Die anwesenden Männer haben natürlich immer noch nur das eine Thema, nämlich den WM-Sieg. Ihre missbilligenden Blicke versuche ich zu ignorieren.

Murmel steckt sich eine Zigarette an. Auch das ist mir neu. Überhaupt sieht sie ganz anders aus als die Murmel, die ich kenne. Meine Murmel trägt weite Hosen und Strickjacken oder ausgeleierte T-Shirts, dazu meistens bequeme, flache Schuhe. Meine Murmel hatte es am liebsten ruhig und gemütlich und harmonisch. Chaotisch war sie allerdings auch. Da fällt mir gerade eine Geschichte ein:

Murmel war sehr stolz darauf, dass sie mal in der Zeitung stand. Nicht, weil sie sich in einem Artikel über den Weltfrieden oder den Euro geäußert hätte, sondern wegen folgender Begebenheit, die sich im Hamburger Hafen abgespielt hatte: Murmel war im Nordsee-Restaurant, suchte sich mit drei Portionen Tintenfischringen und ihrer Freundin einen Tisch, um sich dann auf einen der Aluminiumstühle niederzulassen. So weit, so gut. Man aß und plauderte, und als Murmel aufstand, um sich noch eine Portion Tintenfischringe mit Remouladensoße zu holen, musste sie feststellen, dass ihr Hintern im Stuhl eingeklemmt war. Er steckte zwischen den Lehnen fest und bewegte sich keinen Deut.

Murmel verfiel in Panik, da war Polen offen. Denn immer, wenn Murmel sich aufregt, spielt ihr Wasserhaushalt verrückt, und ihr ganzer Körper schwillt an, was dazu führte, dass sich die Stuhllehnen immer tiefer in ihr Fleisch gruben, was wiederum zur Folge hatte, dass Murmel anfing zu schreien.

Ihre Freundin war recht konfliktscheu und ist damals einfach gegangen, was Murmel ihr bis heute nicht verziehen hat.

Murmel war hilflos den anderen Gästen ausgeliefert, wurde von Touristen fotografiert – einer setzte ihr sogar eine Baseballkappe mit dem Hamburger Wappen auf den Kopf – und musste letztendlich von einem Mitarbeiter des Restaurants mit Hilfe einer Säge aus dem Stuhl befreit werden. Zufällig war der Reporter einer renommierten Tageszeitung anwesend. Eigentlich sollte er über einen Finnwal berichten, der sich in die Elbe verirrt hatte, interviewte und fotografierte dann aber Murmel, und am nächsten Tag konnte man schwarz auf weiß nachlesen, was passiert war. Murmel gab an, dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen zu sein, in letzter Sekunde sei sie reanimiert worden. Seitdem isst sie keinen Fisch mehr. Aber sonst alles. Von daher hatte der Reporter seinen Wal ja irgendwie doch bekommen.

So ist sie, meine Murmel.

Die Murmel von 1954 ist zwar immer noch recht füllig, doch besser gekleidet. Nicht unbedingt elegant, eher zweckmäßig, wie eine Frau, die sich durchbeißen muss und sich nicht scheut, zuzupacken. Ihre schwarzen Haare hat sie streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Die Fingernägel sind kurz, die Hände rissig und abgearbeitet. Ich selbst stecke nach wie vor in diesem unsäglichen unförmigen Rock. Auf den Bananenhut habe ich heute Abend verzichtet. Die Nylons haben schon eine riesige Laufmasche. Trotzdem schwitze ich darin wie verrückt. Natürlich hätte ich auf die Strümpfe verzichten können, habe mich aber nicht getraut. Gut möglich, dass man hier als Frau ohne Strümpfe gesteinigt wird.

Ich werde mir morgen ein neues Paar kaufen müssen. Hoffentlich sind die nicht so teuer.

Herrje, ich brauche dringend Geld!

Ob ich Murmel mal nach einer Stelle im Silbersack fragen soll? Vielleicht kann ich hier als Kellnerin arbeiten. Das sollte ich ja gerade noch hinkriegen.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Frau ... äh ... Ach, wie heißen Sie eigentlich?«

»Mein Name ist Belinda Lotz«, erklärt Murmel. »Aber alle nennen mich Lili. Obwohl mir das nicht gefällt. Mir wäre etwas Bodenständigeres lieber.«

»So was wie Murmel?«

Sie kichert. »Ja, Murmel ist gut. Passt zu mir.«

»Dann kann ich Sie ja Murmel nennen.«

»Warum nicht? So haben Sie mich vorhin ja auch schon genannt.«

Sehr gut. Und ich muss mich nicht an einen neuen Namen gewöhnen. »Gut, und ich heiße Cosima. Cosima von Troplowitz.« Vielleicht klingelt’s ja jetzt bei ihr.

»Cosima also. Oder hast du auch einen Spitznamen?«

Mist.

»Äh, nein.«

»Sagen wir trotzdem Du?«

»Gern.« Sie tut es ja schon. Ich werde gerne geduzt. Da fühle ich mich automatisch jünger. Aber ich weiß natürlich, dass die Zeiten, in denen mir in der Metzgerei ein Stück Fleischwurst in die Hand gedrückt wurde, endgültig vorbei sind. Aber wenigstens ging es mir bislang nicht so wie einer Bekannten, die mal für die Mutter ihres eigenen Mannes gehalten wurde.

»Wo ist dein Mann?«, fragt Murmel plötzlich, und, wie mir scheint, mit einem lauernden Unterton in der Stimme.

»Ich hab keinen.« Schnell schlinge ich den Rest vom Brot runter, nicht dass sie ihre Großzügigkeit gegenüber einer mannlosen Frau bereut.

»Ist er gefallen?«, fragt sie und stellt einem anderen Gast eine Flasche Bier hin.

»Nein, ich bin geschieden.«

»Was?«

»Geschieden«, wiederhole ich. Das weißt du doch, denke ich verzweifelt. Nein, sie weiß es eben nicht. Mein lieber Schwan, bin ich durcheinander.

»Ach«, sagt sie. »Das ja interessant. Ich kenne niemanden, der geschieden ist. Ist ja nicht üblich.«

»Ist es nicht?«

»Nein. Das müsstest doch gerade du wissen.« Wieder schaut sie mich an. »Hahahaha«, denke ich und schweige.

»Aber ich habe damit kein Problem.« Sie lächelt breit und beginnt Gläser zu polieren.

Erleichtert nehme ich einen Schluck Bier. Wenigstens verachtet sie mich nicht.

Murmel beugt sich über den Tresen. »Ist keine gute Zeit für Frauen«, sagt sie leise. »Erzähl mir mehr von dir.« Sie ist neugierig.

»Tja.« Ich überlege. »Was möchtest du denn wissen?«

Murmel lacht. Irgendwie wirkt sie vollkommen anders als die Murmel, die ich kenne. Erwachsener und vor allem sehr viel fleißiger, so wie sie bei den Gläsern zupackt. Ganz so, als würde sie sich immer durchsetzen, auch den Männern gegenüber. Aber das muss man wohl, wenn man als Frau in dieser Zeit eine Kneipe führt.

»Ich interessier mich für alles«, sagt Murmel. »Also? Wo fangen wir an? Warum bist du geschieden?«

»Es hat einfach nicht gepasst«, sage ich lahm, während Murmel mir eine weitere Flasche Bier hinstellt. Wenn das so weitergeht, werde ich bald hickenhackenvoll sein. Aber ich habe ja auch einen schwierigen Tag hinter mir.

Jetzt kichert Murmel. »Das ist ja lustig ausgedrückt. Was hat denn nicht gepasst?«

»Ich glaube, er hat mir nicht gegönnt, dass ich beruflich erfolgreicher war als er.« Das habe ich Murmel zwar alles schon erzählt, aber bitte, dann eben nochmal.

»Wie erfolgreicher?« Sie wirkt irritiert, und kurz darauf dämmert mir auch, warum. In den 50er Jahren ist es relativ ungewöhnlich, dass eine Frau überhaupt einen Beruf hat, von einer Kneipenwirtin mal abgesehen.

»Ach, es kamen viele Dinge zusammen«, versuche ich abzuwiegeln und widme mich wieder meinem Bier.

»Eine Scheidung ist ziemlich ungewöhnlich.« Murmel flüstert mir zu: »Für mich war das auch nichts, immer nur Hausfrau zu sein, Tag und Nacht mit Lockenwicklern und Schürze herumzulaufen, Kartoffeln zu schälen und den Boden zu wischen. Tscha. Aber was sollte ich machen?«

»Du hast hier aber auch einen anstrengenden Job.«

»Es ist nicht einfach.« Murmel seufzt. »Wir Frauen brauchen ja für alles die Zustimmung des Mannes. Man kann ja noch nicht mal selbst Rechnungen oder Verträge unterschreiben oder was auch immer. Vor ein paar Jahren habe ich noch Trümmer geschleppt, da hat auch keiner gefragt, ob ich das alleine hinbekomme, aber als die Männer aus dem Krieg zurückkamen, übernahmen sie wieder das Kommando. Einfach so. Noch nicht mal Danke haben sie gesagt, dafür, dass wir Jahre lang alleine die Stellung gehalten haben. Das Land wieder aufgebaut. Kinder großgezogen.« Sie wird laut. »Ja, Kinder, Kinder, Kinder. Je mehr Kinder, desto besser, hieß es damals im Krieg. Aber daran, dass diese Kinder auch was essen müssen, hat keiner gedacht.«

Murmel hat sich so sehr in Rage geredet, dass sie nun rote Flecken im Gesicht hat. Einige Männer haben ihre Gespräche unterbrochen und stieren beunruhigt zu uns rüber.

Aber ich habe den Eindruck, dass die Männer Respekt vor ihr haben. Sie sieht auch wirklich ziemlich energisch aus mit ihrem roten Kopf und ihren schwarzen, zurückgekämmten Haaren, die nur wenige graue Strähnen durchziehen.

»Ich bin deutsch-deutsche Polin«, erklärt Murmel feierlich und prostet mir zu. Wenigstens das ist geblieben. Wir trinken, und eine kurze Pause entsteht.

»Was meintest du vorhin damit, dass Frauen keine Verträge unterschreiben dürfen?«, frage ich dann. So gut kenne ich mich in dieser Zeit ja nicht aus. Aber inzwischen bin ich neugierig geworden.

»Was soll ich damit gemeint haben?« Murmel sieht mich an, als hätte ich eine große Warze auf der Nase. »Du stellst ja eigenartige Fragen. Aber irgendwie ... irgendwie finde ich dich sympathisch.«

»Das freut mich.« Immerhin ist Murmel der einzige Mensch, den ich momentan hier kenne. Außer Bille natürlich, aber die zählt nicht.

Eine Handvoll Gäste betritt den Silbersack. »Ich muss hier mal weitermachen«, sagt Murmel und wendet sich den Neuankömmlingen zu. »Lütt un lütt?«

Nachdem sie die Bestellungen aufgenommen hat, verschwindet Murmel in ein Hinterzimmer. Als sie wiederkommt, schiebt sie mir unauffällig ein gebundenes Buch über den Tresen.

Ich habe einen Faible für alte Bücher, vorzugsweise Lexika, und freue mich immer, wenn ich eine schöne Rarität im Antiquariat finde.

Aber das hier ist hochaktuell, für die 50er Jahre jedenfalls.

Ich nehme das Buch in die Hand und blättere darin herum. Es wurde von einem gewissen Hans-Otto Meissner geschrieben und heißt Man benimmt sich wieder.

Wieder?

Das Buch beginnt mit einem Dialog zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Herrn. Sie sitzen im Zug, und das Mädchen wird von dem Mitreisenden darüber aufgeklärt, dass der Mann von heute keine »Skistiefel-Trampler« möchte. Was soll das denn sein?, frage ich mich und nehme noch einen Schluck Bier. Ich blättere weiter und lese gebannt: »Die Unterschrift auf dem Standesamt ist wohl das größte aller Opfer, das ein Mann für eine Frau bringen kann!«

Ich fasse es nicht! Ich werfe einen Blick ins Impressum. Dieses Buch ist von 1954, also aus diesem Jahr. Aber es ist bereits die zehnte, ich wiederhole, die zehnte Auflage. Was hat der Autor denn für ein Frauenbild? Mir schwillt der Kamm. Mit vor Wut funkelnden Augen blicke ich mich um.

Ich habe ja schon häufiger etwas über diese Zeit gelesen, aber sich jetzt selbst in dieser Epoche zu befinden und so ein Buch in den Händen zu halten, ist etwas völlig anderes.

Das nächste Kapitel lautet: Etikette neu. Aufgebracht wühle ich mich durch die Seiten. »Frauen sind von Natur aus anschmiegsam. Und so wollen sie sich ganz in den schützenden Mantel der männlichen Herrlichkeit begeben. Für diesen Schutz liefern sie uns den Gegenwert: ihr immerwährendes Fürunsdasein, ihre unermüdliche Sorge, ihre stete Bereitschaft zur Harmonie ...«

Gleich muss ich mich übergeben.

Und dann lese ich noch, dass der Mann seiner Frau abends ruhig mal ein kleines Blumensträußchen für zwanzig Pfennig oder ein Schokoladenei mitbringen soll. Und er soll sie loben, etwa mit den Worten: »Sag mal, wie machst du das eigentlich, dass der häusliche Laden immer so klappt? ... Erstaunlich, wie unter deinen Händen die mickrigsten Pflanzen gedeihen.«

Ist das zu fassen? Und dann ist die Frau dankbar, schnurrt sanft wie ein Kätzchen und nimmt es ohne Murren hin, dass der Alte sich drei Minuten später darüber beklagt, dass sie zu viel für einen Liter Milch oder zehn Eier ausgegeben hat, oder wie?

Die Verfasser dieser Zeilen können von Glück sagen, dass sie nicht vor mir stehen. Denen würde ich was erzählen!

»Schweine«, zische ich.

Murmel tätschelt meinen Arm.

»Das ist doch nicht zu glauben«, erkläre ich. »Also, wenn ein Mann so mit mir umgehen würde, der wüsste ein paar Sekunden später nicht mehr, wie er heißt.« Ich bin so was von wütend.

»Dann bist du eine Ausnahme«, seufzt Murmel und wischt mit einem Lappen über den Tresen. »Aber der Großteil der Frauen nimmt es hin.«

»Ja, dann muss man sie zum Widerstand ermuntern.«

Nun legt Murmel ihren Lappen zur Seite und sieht mich skeptisch an. »Und was würde das nützen? Gar nichts. Die meisten Frauen können sich doch nicht beklagen, sie waren im Krieg gut versorgt und mussten nicht ständig Kohl essen. Die wissen nicht, wie es ist, wenn man Brot klauen muss. Aber ich, ich weiß das ... Diese Frauen wären doch dumm, wenn sie ihr gemütliches Leben aufs Spiel setzen würden.«

»Das ist lächerlich«, protestiere ich. »Wenn eine Frau zum Beispiel nachweisen kann, dass ihr Mann sie betrügt, dann ...«

»Die Polizei glaubt eher einem Mann als einer Frau«, wirft Murmel ein. »Davon mal ganz abgesehen: Wo sollte eine Frau denn hin, wenn sie schuldig geschieden würde?«

»Mir tun die ganzen Frauen einfach leid, die sich abrackern und keine Rechte haben.« Ich trinke mein Bier aus.

»Ja, es ist wirklich ungerecht«, bekräftigt Murmel meine Aussage. »Natürlich ist es schön, dass wieder Frieden herrscht. Die Kriegsjahre waren schlimm, keine Frage. Aber ein bisschen mehr Gerechtigkeit ist ja wohl nicht zu viel verlangt.« Jetzt macht auch Murmel ihrer Empörung Luft. »Ich meine, es gibt so viele Frauen, die mit sechs Kindern in einer winzigen Wohnung hocken und zusehen müssen, wie sie mit ihrem Wirtschaftsgeld zurechtkommen. Die jeden Tag eine warme Mahlzeit auf den Tisch bringen und ihre Männer bei Laune halten müssen, sofern sie überhaupt noch einen Mann haben. Viele sind ja gefallen. Das ist doch kein Leben. Jedenfalls keines, das ich führen möchte.«

»Vielleicht könnte man ja etwas für diese Frauen tun, damit es ihnen bessergeht«, sinniere ich vor mich hin.

Murmel sieht mich kampfeslustig an. »Das ist mein Reden. Und du, liebe Cosima, scheinst mir genau die Richtige dafür zu sein. Du lässt dir nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen. Du bist eine starke Frau, so wie ich. Das ist wichtig. Weißt du, mein Mann ist aus dem Krieg nicht heimgekehrt. Er ist gefallen, man weiß nicht mal genau, wo. Also hab ich die Ärmel hochgekrempelt und alleine weitergemacht. Die Idee mit der Kneipe hatte ich schon länger. Und nun war der richtige Zeitpunkt gekommen, sie zu eröffnen. Davon kann ich gut leben. Und ein neuer Mann kommt mir nicht ins Haus. Mir geht es gut alleine. Na ihr!« Sie nickt drei Männern zu, die gerade hereinkommen. Sie sehen gefährlich aus. Den Typen möchte ich nicht im Dunklen begegnen.

»Das sind gute Jungs«, sagt Murmel und holt wieder Bier. »Die würden alles für mich tun, nicht wahr, Gurgel?« Einer der Männer nickt. »Schlotzo und Hänschen ebenfalls. Denen hab ich nach dem Krieg geholfen, und wenn ich mal in Not bin, sind die drei zur Stelle, das weiß ich. Also, Cosima ...« Sie senkt die Stimme und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Gehen wir es an?«

Ich nicke entschlossen. »Wir gehen es an.«