»Setz dich, Cosima«, sagt Murmel. »Ich hol uns einen Sekt.«
Sekt? Um diese Uhrzeit?
Andererseits brauche ich jetzt eine Stärkung, und Sekt ist immer gut.
Ihre Wohnung liegt direkt neben dem Silbersack. Als ich ihr Wohnzimmer betrete, fühle ich mich in einen Streifen aus den fünfziger Jahren katapultiert.
Da stehen Nierentischchen, eine bunte Tütenlampe und eine Fernseh-Musikbox-Kombination mit kleinen Vasen drauf, in denen Plastikblümchen stecken. Den Teppich ziert ein Muster aus abstrakten Kringeln und Strichen. Die rosa Couch und die hellblauen Sesselchen scheinen nur darauf zu warten, dass ein Pin-up-Girl auf ihnen Platz nimmt. Auf dem ovalen Couchtisch steht ein Zigarettenspender in Fußballform, und es gibt sogar hier das klassische Ölbild mit dem röhrenden Hirschen drauf, sowie eine Kuckucksuhr. Die Tapete ist rosa strukturiert, die Vorhänge sind pistaziengrün. Überall stehen dickblättrige Topfpflanzen in bunten Übertöpfen herum.
Trotz allem wirkt es heimelig und gemütlich.
Nach Pauls überraschender Rückkehr wusste ich einfach nicht, wohin ich gehen sollte. Also bin ich ein bisschen in der Gegend herumgelaufen und stand schließlich vor dem Silbersack.
Die Kneipe hat natürlich noch geschlossen, aber Murmels Vermieter fegte gerade vor der Tür und hat mich zu ihrer Wohnung geführt. Natürlich nicht, ohne mich kritisch zu mustern.
»Der verlorene Sohn ist also heimgekehrt«, sagt Murmel, nachdem ich ihr von den jüngsten Ereignissen berichtet habe. »Und jetzt darf er wieder in seinem Bettchen schlafen.«
»Du bist zynisch«, stelle ich fest. »Immerhin hat er einiges durchgemacht.«
»Das haben die Trümmerfrauen auch«, erwidert Murmel giftig. »Aber denen wird nicht gedankt. Sobald die Männer wieder heimkommen, geht alles von vorne los.« Sie schnaubt verächtlich.
»Ich verstehe dieses Mann-Frau-Ding nicht.«
»Aber du bist doch eine gestandene Frau.«
»Trotzdem, ich möchte nicht wissen, was in den deutschen Betten so abgeht.«
»Du weißt doch, wie es ist: Die Frau geht als Jungfrau in die Ehe, der Mann hat selbstredend vorher seine Erfahrungen gesammelt und sich die Hörner abgestoßen.«
Ups. Ich wusste gar nicht, dass Murmel so reden kann. Die Wörter betont sie so giftig wie jemand, der erzählt, wie er sich mit der Pest infiziert hat.
»Und dann hat der Mann die Aufgabe, seine Gattin in Sachen Lust und Liebe einzuweisen. Da die meisten Frauen aber von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, ist das mehr als problematisch. Aufgeklärt sind die allerwenigsten. Viele Mädchen, die zum ersten Mal ihre Periode haben, denken, sie sind unheilbar krank und müssen sterben, trauen sich aber nicht, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Lieber quälen sie sich jeden Monat mit der Ungewissheit herum.« Sie schüttelt den Kopf. »Das ist doch verantwortungslos. Wenn du mich fragst, sind wir Frauen trotzdem das stärkere Geschlecht. Die meisten Männer sind doch Weichlinge, auch wenn sie vom Gesetz geschützt werden.«
»Ein Hoch auf die Gleichberechtigung«, lalle ich und wünsche mir eine zweite Flasche Sekt. Seit 1949 gibt es sie offiziell, aber Murmel ahnt ja nicht, dass die Frauen auch noch fünfzig Jahre später schlechter bezahlt werden als die Männer.
»Dem Mann stehen nach wie vor alle wichtigen Entscheidungen zu. Wahl des Wohnorts und der Wohnung zum Beispiel.« Murmel springt auf und geht ins Nebenzimmer.
Mit einem Buch in der Hand kommt sie zurück.
»Da, lies selbst!«, sagt sie, schlägt es auf und schiebt es mir über den Tisch.
»Der Mann von heute hat die totale Verfügungsgewalt über seine Frau. Er bestimmt in der Ehe den Wohnort, und nur er entscheidet über Erziehungsfragen der Kinder, er ist allein für die Regelung der Finanzen zuständig und kann Verträge, die die Frau geschlossen hatte, kündigen. Die Frau ihrerseits ist verpflichtet, die Hausarbeit zu verrichten und den Anweisungen ihres Mannes zu folgen.«
»Aber dass er seine Frau schlägt, das sollte doch verboten sein!« Ich muss wieder an Frau Müller denken.
»Seit 1928 ist es verboten, dass der Mann seine Frau züchtigt. Interessiert aber niemanden. Willst du noch Sekt?« Sie geht in die Küche und kommt kurz darauf mit einer neuen, gekühlten Flasche wieder.
»Ich bin wirklich froh, dass wir uns wiedergetroffen haben, Murmel.«
Sie sieht mich fragend an, und da ich keine weiteren Fragen beantworten will, rufe ich schnell: »Prost! Auf die Frauen!«
»Auf die Frauen!«
Nach der zweiten Flasche ist auch Murmel angeschickert.
»Aber es gibt doch auch Frauen, die sich gewehrt und gegen die sexuelle Unterdrückung gekämpft haben«, sage ich später. »Beate Uhse hat erst als Pilotin gearbeitet. Im Krieg haben es die Besatzungsmächte dann verboten.«
»Wer ist Beate Uhse?«, will Murmel wissen.
Zufällig bin ich letztens bei Google auf einen interessanten Artikel über Beate Uhse gestoßen und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Eine faszinierende Frau.
»Die hat schon einiges bewegt«, erzähle ich Murmel. »Im Krieg hat sie sich mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser gehalten. Angst hatte sie keine, sie fand es eher aufregend.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab’s gegoogelt ... äh, ich meine, irgendwo gelesen.« Nun bin ich richtig in Fahrt. »Beate Uhse hat die Frauen befragt, um herauszufinden, was sie wollen. Das war vor ... ähm, erst kürzlich.« Jetzt fällt mir alles wieder ein. »Einerseits wollten sie Sex, andererseits keine Kinder. Über Verhütung wussten sie so viel wie die Männer über Einfühlungsvermögen. Also hat sie den Frauen geholfen und eine Broschüre rausgebracht. Für ein paar Pfund Butter hat ihr das jemand gedruckt. Die Broschüre hieß Schrift X. Verhütung nach Knaus-Ogino. Sagt dir das was?«
Murmel schüttelt den Kopf.
»Macht ja nichts. Es hat was mit dem Eisprung zu tun«, sage ich. »Und bald schon wird es die Pille geben und ...«
Ich beiße mir auf die Zunge. Ich höre besser auf mit den Weissagungen, sonst erklärt Murmel mich noch für verrückt und schmeißt mich am Ende raus.
»Jedenfalls hat diese Broschüre von Beate Uhse fünfzig Pfennig gekostet und wurde über dreißigtausendmal verkauft«, erkläre ich weiter. »Und so hatte sie ein gutes Startkapital, um ihr erstes Geschäft zu eröffnen.«
»Geschäft?« Jetzt ist Murmel ganz Ohr.
»Sie hat Kondome und Bücher verkauft. Ihr erstes Versandhaus wurde ... äh, vor drei Jahren aufgemacht.« Glücklicherweise bin ich trotz Sekt noch in der Lage zu rechnen.
***
Es ist schon fast neun als ich bei den Müllers vor der Tür stehe.
Da ich nicht offiziell gekündigt habe, besitze ich noch einen Schlüssel.
Leise öffne ich die Haustür und lausche. Nichts. Absolut ruhig. Nach einer gründlichen Inspektion der Wohnung bin ich sicher, dass niemand zu Hause ist.
Ich werde einfach schnell meine Sachen holen und dann verschwinden. Murmel hat mir angeboten, bei ihr zu schlafen. Allerdings geht das wohl nur für eine Nacht, weil sie wenig Platz hat. Außerdem gibt es in ihrer Wohnung derzeit kein fließend Wasser.
Als ich am Bad vorbeikomme, halte ich inne. Ob ich schnell noch heimlich duschen soll?
Vorsichtig spähe ich ins Bad und sehe eine Wanne, ein Waschbecken und selbstverständlich auch einen Boiler.
Schnell trete ich ein und schließe die Tür hinter mir. Nach einer gefühlten Ewigkeit kann ich endlich mit dem Boiler umgehen, und das Wasser heizt auf.
Bitte, bitte, lieber Gott, lass die Müllers jetzt nicht heimkommen!
Der Boiler gibt blecherne und gluckernde Geräusche von sich. Ein bisschen hört es sich so an, als würde ein Mensch in diesem Boiler sitzen und von innen dagegenklopfen.
Einen Duschvorhang gibt es leider nicht, lediglich eine verkalkte Handbrause, aus der es nur tröpfelt. Wahrscheinlich baden die Müllers nur einmal pro Woche – nacheinander im selben Wasser und brausen sich danach nicht ab. Eine eklige Vorstellung, aber dass man in dieser Zeit das Badewasser für mehrere Familienmitglieder nutzte, hab ich schon mal gelesen. Erst der Vater, dann die restlichen Personen. Natürlich, der Mann zuerst.
Wenig später knie ich in der Wanne und wasche mich mit einem Stück Kernseife. Hoffentlich bleibt das Wasser eine Zeitlang warm. Mit der Seife wasche ich auch meine Haare, weil ich nirgendwo Shampoo entdecke.
Als ich fertig bin, drehe ich das Wasser ab und will gerade aus der Wanne klettern, da geht die Tür auf.
Vor mir steht Herr Müller.
Er ist puterrot im Gesicht und sieht mich überrascht an. Es könnte natürlich sein, dass er lediglich außer Atem ist. Ich glaub’s aber nicht.
»Oh!« Das ist alles, was ich herausbringe. Und fast sage ich noch: »Ich bin nackt!«, kann mich aber gerade noch beherrschen.
»Soso«, keucht Herr Müller. »War es nicht abgemacht, dass das Bad nicht benutzt werden darf?«
»Es tut mir wirklich leid, Herr Müller, es kommt nicht wieder vor.«
Ich fühle mich nackt. Könnte daran liegen, dass ich nackt bin. Wo sind denn hier bloß die Handtücher? Kann er nicht wenigstens so tun, als würde er wegschauen? Nein, er glotzt mich an wie die Schlange das Kaninchen. Das ist langsam unverschämt.
Plötzlich regt sich Herr Müller doch. Aber anstatt endlich das Bad zu verlassen, kickt er die Tür mit dem Fuß hinter sich zu und kommt näher.
»Muss dir nicht leidtun«, sabbert er. »Musst nur ein bisschen nett zu mir sein, dann ist die Sache vergessen.«
Nett sein? Ich glaube, ich hör nicht richtig!
Herr Müller streckt die Hände aus und will mir an den Busen fassen, was ich unter gar keinen Umständen zulassen werde. AUF GAR KEINEN FALL!
»Lassen Sie das!«, rufe ich. »Finger weg!«
»Ach, Täubchen, nun hab dich mal nicht so.« Er schwitzt mittlerweile so sehr, dass ihm der Schweiß über Stirn und Wangen rinnt und dann auf den Boden tropft. Außerdem stinkt er. »Alleinstehend bist du, da kannst du doch froh sein, mal was zwischen die Beine zu bekommen.«
Nun sehe ich rot. Was bildet er sich ein?
»Ganz sicher nicht, Herr Müller«, sage ich empört. »Und schon mal gar nicht was von Ihnen.«
»Nun werd mal nicht frech«, weist er mich zurecht. »Du blödes Weibsbild tust jetzt, was ich dir sage, sonst setzt es was, klar?«
»Sie drohen mir?«
Er zuckt mit den Schultern. »Nenn es, wie du’s willst.«
Sehe ich da Speichel in seinen Mundwinkeln? Das ist ja widerlich!
Ich bin immer noch nackt und fühle mich sehr unwohl, trotzdem werde ich nicht zulassen, dass mich dieser Lustmolch weiter belästigt.
»Geben Sie mir ein Handtuch«, fordere ich.
»Einen Scheiß werd ich! Wo ich doch hier grad so leckeres Fleisch vor mir hab.«
Ich werde rot vor Zorn. »Wenn Sie nicht auf der Stelle diesen Raum verlassen, schrei ich die ganze Nachbarschaft zusammen!«
»Schrei ruhig«, erwidert Herr Müller seelenruhig. »Das ist man hier im Haus gewohnt. Du bist ’ne Frau, Schätzchen. Und ich bin ein Mann. So ist das nun mal.«
Ich werde panisch, während er einen weiteren Schritt auf mich zumacht.
»Schade eigentlich, dass du nicht meine Frau bist, dann würde ich dir mal zeigen, wie es in einer guten deutschen Ehe so läuft. Da hast du nämlich weniger als nix zu sagen.«
Pah! Das könnte diesem Arschloch passen, dass ich mich so behandeln lasse wie seine Frau. Bestimmt nicht.
Ich schlage seine Hand weg, aber trotzdem kommt er näher und näher.
»Nun halt mal still, Kleine«, zischt Herr Müller mit dreckiger Stimme. »Dann besorg ich’s dir so richtig!«
Was Herr Müller nicht wissen kann: Die Frau von heute absolviert einen Selbstverteidigungskurs, um Schmierlappen wie ihm so richtig eins auf die Zwölf zu geben.
Wie gut, dass ich eine Frau von heute bin!
Keine Sekunde zu früh holt meine Faust aus.
***
Einatmen.
Ausatmen.
Ich sitze auf Pauls Bett und versuche, Luft zu bekommen. Nachdem ich Herrn Müller mit einem Schrubber k. o. geschlagen habe, bin ich aus dem Badezimmer gestürmt. Notgedrungen habe ich meine dreckigen Klamotten wieder angezogen, diesmal allerdings ohne Strümpfe. Die müssen erst gewaschen werden, davon mal abgesehen, dass sie kaputt sind. Außerdem schwitze ich schon wieder.
Dieses Arschloch! Was bildet der sich eigentlich ein?
Seinen dämlichen Gesichtsausdruck, als ich ausgeholt und ihm eins auf die Zwölf gegeben habe, werde ich so schnell nicht vergessen.
Ein paar Sekunden später (Tritt in den Unterleib, gezielter Handkantenschlag) krümmte er sich auf dem gekachelten Boden und wimmerte »Mutti, Mutti«.
Jetzt höre ich den Schlüssel in der Tür. O nein, Frau Müller kommt heim.
»Ja, Vati, was hast du denn gemacht?«, höre ich sie rufen und halte die Luft an. Sie wird sich doch wohl nicht auf seine Seite schlagen? Paul scheint nicht bei ihr zu sein.
Auf Zehenspitzen schleiche ich zur Zimmertür und öffne sie einen Zentimeter, damit mir nichts entgeht.
»Ich bin ausgerutscht«, jammert Herr Müller. »Der Boden war nicht richtig gewischt, da war noch Seife drauf. Du hast Schuld.«
»Ach, das tut mir ja so leid. Soll ich dir ein Bier holen?«
Was? Ich kotze gleich.
Jetzt hilft sie ihm auf und stützt ihn. Dann trippelt Mutti in die Küche, um Bier zu holen. Herr Müller schlurft den Flur entlang ins Wohnzimmer. Kurz darauf ist das Ploppen einer Flasche zu hören.
»Das ist ja gar nicht richtig kalt!«, brüllt er seine Frau an, und das Geräusch einer Ohrfeige ertönt.
Ich bin so wütend, dass mir die Luft wegbleibt.
Schleunigst packe ich meine Siebensachen zusammen und flitze zur Tür.
Hier bleibe ich keine Sekunde länger.