»Ich finde das so schrecklich«, sage ich später zu Murmel, nachdem ich ihr von Bille erzählt habe. Wir hocken im Silbersack und trinken Bier. Auf den Schreck musste ich mich erst mal in ihre Kneipe begeben.
»Ja, da bist du nicht die Einzige.« Murmel nickt bestätigend. »Ich finde es auch schrecklich, und viele andere Frauen auch. Leider interessiert das niemanden. Aber ich finde es gut, dass du bei deiner Freundin eingezogen bist.«
»Ja, dann kann Billes Mann ihr auch nicht dauernd dieses schreckliche Frauengold einflößen.«
»Was der Göttergatte wohl zu deiner Anwesenheit sagt?«, fragt Murmel spöttisch.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Aber es hat ihn anscheinend brennend interessiert, warum dieser Juliane gekündigt wurde. Bille hat ihm erzählt, sie hätte geklaut, damit hat er sich dann zufriedengegeben. Ein unangenehmer Mensch.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Arme Frau. Aber was soll sie machen.«
»Was sie machen soll?« frage ich empört. »Sich wehren, natürlich.«
Murmel stellt mir noch ein Bier hin.
»Man müsste mit den Frauen reden«, fahre ich fort. »Ihnen Selbstbewusstsein geben. Und Kondome! Ihnen Rhetorik und Allgemeinbildung beibringen.«
»Jawoll, ja!«, ruft Murmel begeistert.
»Ich meine, die Zeiten, in denen eine Frau nur dann eine gute deutsche Frau ist, wenn sie ihrem Mann und dem Führer viele Kinder schenkt und sich über das Mutterkreuz freut, sind doch langsam vorbei.« Nun rede ich mich in Rage.
Murmel nickt eifrig. »Manche der Frauen hatten acht Kinder!«
»Acht Kinder!«, seufze ich. »Und das in diesen Zeiten! Ich würde durchdrehen.«
Murmel muss zwei Gäste bedienen, und als sie wieder zu mir kommt, sinniere ich vor mich hin.
»Das große Problem ist, dass die Frauen immer noch von ihrem Mann abhängig sind – sofern sie noch einen haben.«
»Und mit jedem Kind, das sie bekommen, wird diese Abhängigkeit stärker«, pflichtet Murmel mir bei. »Über Verhütung wird selten gesprochen. Viele haben noch die Wertvorstellungen des Dritten Reichs im Kopf, man kann sich ja auch nicht sofort umstellen, wenn man jahrelang erzählt bekommen hat, dass die einzige Aufgabe einer Frau darin besteht, möglichst viel Nachwuchs in die Welt zu setzen. Verstehst du?«
»Obwohl der Krieg schon neun Jahre vorbei ist?«, werfe ich ein. »Ich meine, es ist doch vor allem das Verdienst der Frauen, dass die Städte wiederaufgebaut wurden. Aber was mich am meisten stört: Die Frauen machen den Mund nicht auf. Sie nehmen alles hin.«
»Wo sollte eine Frau mit vier Kindern denn auch alleine hin? Scheidung kommt nicht in Frage, weil es da die Schuldfrage gibt.«
»Aber Billes Mann ist doch eindeutig fremdgegangen«, protestiere ich. »Dafür gibt es sogar Beweise!«
»Tja, aber leider wird einem Mann, der sagt, seine Frau sei fremdgegangen, mehr geglaubt, als einer Frau, die dasselbe von ihrem Ehemann behauptet.«
»Ein unmöglicher Zustand. Man müsste die Frauen aufklären und beraten. Vielleicht kann ich an die Presse gehen.«
Murmel wühlt unter der Theke herum und reicht mir schließlich eine Illustrierte. Es ist die Constanze, die auch bei Frau Müller auf dem Beistelltischchen lag.
»Hier, das inspiriert dich vielleicht«, fügt Murmel spöttisch hinzu.
Auf dem style befindet sich eine dünne brünette Frau in einem enganliegenden gelben Kleid. Ich schlage die Zeitschrift auf und stoße als Erstes auf die Werbung zum 50. Geburtstag von Sanella! Eine strahlende Hausfrau in einer noch strahlenderen, weißen Schürze hält eine Packung der Margarine hoch, während ihr Mann und das Töchterchen die Packung anstarren wie die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig das Brot der Touristen. Alles Gute in Sanella!
Ich blättere irritiert weiter und arbeite mich durch einen Beitrag zum richtigen Teppichklopfer und den Artikel Ihr Porzellan in guten Händen. Darin wird versichert, dass man Porzellan 276-mal mit Pril spülen könne, und immer noch sähe der Goldrand aus wie neu. Eine Hausfrau hält kritisch eine Tasse hoch, wirkt aber mit dem Ergebnis zufrieden.
Nachdem ich auch noch auf einen Bericht über eine Frau, die einen Kriegsblinden heiraten will, gestoßen bin, lege ich die Zeitung entsetzt zur Seite. Murmel hat recht. Die Presse scheint auch nicht der richtige Weg zu sein.
Auch in den Zeitschriften wird das Bild der devoten Frau vermittelt.
Am liebsten würde ich Alice Schwarzer anrufen. Die wüsste bestimmt, was zu tun ist.
***
Kurz darauf werden Murmel und ich konkret.
Auf dem Tisch liegt Briefpapier mit Murmels Anschrift, und wir entwerfen einen Handzettel mit dem Titel: »Frauen, traut euch! Wir helfen euch dabei«, und darunter steht etwas kleiner eine Liste mit den wichtigsten Punkten:
»Das ist ein guter Anfang«, sage ich zufrieden. »Wie wollen wir unser Unterfangen denn nennen?«
Murmel denkt angestrengt nach. »Wie wäre es mit Cosimas Lehren?«
»Wie wäre es mit Cosima & Murmel klären auf?«
»Aber ich heiße doch Belinda!«, sagt Murmel empört.
»Dann eben Cosima & Belinda. Oder wir nehmen jeweils nur die Anfangsbuchstaben unserer Namen. Also COBE – wie dieser Satellit.«
Jetzt bin ich ganz aufgeregt. Mein lieber Sohn Philipp hat mir mal berichtet, dass die NASA 1989 einen Satelliten ins All geschickt hätte, der eine Messung der kosmischen Hintergrundstrahlung vornehmen sollte. Vier Jahre schwirrte dieser Satellit herum und maß und maß. Und wenn er sich nicht vermessen hat, ist er vielleicht heute noch unterwegs. Jedenfalls stützt er die Urknalltheorie! Der Urknall stellt den Anfangspunkt der Entstehung von Materie und Raumzeit dar.
Den Anfangspunkt!
Wir fangen ja auch gerade mit etwas an. Das hier wird quasi unser persönlicher Urknall.
»Ich weiß zwar nicht, was ein Satellit ist«, sagt Murmel, »aber ich finde, der Name klingt gut. Irgendwie amerikanisch. Und das zieht immer. Vor allem, seitdem die ganzen amerikanischen Produkte und Filme über den Großen Teich schwappen.«
»Und wir wollen ja gerade auch die jungen Frauen ansprechen«, füge ich hinzu.
Noch am selben Nachmittag suchen wir eine günstige Druckerei und werden auch fündig. Murmel hat nämlich mit Gurgel telefoniert, und der kennt in Hamburg so ziemlich jeden, unter anderem den ehemaligen Besitzer einer Druckerei, bei der er mal gearbeitet hat. Da der damalige Besitzer sehr nett war, geht Gurgel davon aus, dass der neue Besitzer genauso nett ist. Ich bin der Meinung, dass fünftausend Exemplare fürs Erste genügen würden, mal schauen, ob das überhaupt angenommen wird von den Frauen. Dann suchen wir aus Murmels Schrank zwei Kostüme für mich. Eins ist grau meliert und doppelt geknöpft, das andere dunkelrot.
»Die gehören meiner Schwester. Sie ist genau so schlank wie du«, sagt Murmel ein wenig verbittert. »Sie hat die Sachen letztes Mal hier vergessen, also pass auf, dass das Kostüm nicht dreckig wird. Was ist mit Nylons?«, fragt sie dann. »Hast du noch welche?«
»Ich hasse Nylons«, lautet meine Antwort. »Das ist noch ein Punkt, den wir unbedingt auf unsere Liste setzen sollten: Nieder mit den Nylons bei über 25 Grad im Schatten!«
»Und was ist mit dem Strumpfzauber?«
»Womit?«
»Du hast wohl keine guten Beziehungen nach Amerika, wie? Ich hab den Strumpfzauber immer genommen.«
»Was ist das denn?«
»Na, diese farbige Tinktur, die man auf die Beine aufträgt. Mit dem Augenbrauenstift kann man noch einen Strich ziehen, der so aussieht wie eine Strumpfnaht.«
»Das ist ein Witz, oder?« Ich fasse es nicht. Was tun sich diese Frauen bloß an?
»Manche nehmen auch Farbstrumpf-Coloral. Eine Freundin von mir hat sich früher auch Kaffeesatz auf die Beine geschmiert, damit es so aussah, als würde sie dunkle Nylons tragen.«
Ungläubig schüttele ich den Kopf. Ich kann es nicht fassen, dass man sich Kaffeesatz auf die Beine schmiert, sage aber nichts mehr.
In meinen neuen Klamotten fühle ich mich zwar nicht besonders wohl, aber wenigstens habe ich mal ein paar andere Sachen an. Ich betrachte mich im Spiegel und finde, dass ich seriös aussehe.
Irgendwann muss ich mir selbst neue Klamotten kaufen, aber erst möchte ich die Sache mit der Druckerei hinter mich bringen. Man muss schließlich Prioritäten setzen!
***
Die Druckerei befindet sich etwas außerhalb Hamburgs, und wir fahren mit Murmels kleinem Auto los. Es handelt sich um einen Messerschmitt Kabinenroller, der knallrot ist und eine Tür hat, die über dem Kopf zugemacht wird. Das Auto hat weder Gurte noch Airbags noch ansatzweise eine Knautschzone. Man hat das Gefühl, geradewegs in den Tod zu fahren. Außerdem ist dieses Auto für Leute mit Platzangst gänzlich ungeeignet.
Und ich wusste gar nicht, dass Murmel einen Führerschein hat. Zu mir ist sie zum Putzen immer mit der Bahn oder zu Fuß gekommen. Aber so ändern sich die Zeiten.
Glücklicherweise hat Murmel mir vorher auch nicht gesagt, wie wenig sie an ihrem Leben hängt, denn dann wäre ich lieber gelaufen. Sie fährt wie eine gesengte Sau! Und ich vermute fast, dass sie vielleicht doch keinen Führerschein hat. Jedenfalls baut sie ungefähr fünf Mal Fastunfälle, beschimpft wild die anderen Autofahrer, und einmal rammen wir beinahe eine Pferdekutsche. Murmel kuppelt wie eine Gestörte, sodass das Getriebe jedes Mal laut aufheult und uns der Geruch von verbrannten Felgen begleitet, bis wir endlich auf dem Parkplatz der Druckerei zum Stehen kommen.
Ich bin dankbar, noch am Leben zu sein. Alice Schwarzer wäre stolz auf meinen Einsatz für die Gleichberechtigung!
Am Empfang sitzt eine Frau in meinem Alter, die aussieht, als würde sie vor Müdigkeit gleich vom Stuhl kippen.
»Guten Tag«, sage ich freundlich. »Ich habe angerufen. Mein Name ist Cosima von Troplowitz.«
»Bei wem sind Sie denn angemeldet?«, fragt die Frau mit dünner Stimme.
Murmel nickt ihr freundlich zu. »Bei Herrn Tauber.«
»Einen Moment bitte.« Die Frau hebt den Hörer eines schwarzen Bakelittelefons und wählt eine Nummer.
»Mein Mann kommt sofort«, sagt sie dann und gähnt. Sie sieht wirklich urlaubsreif aus. »Er nimmt Sie in Empfang.«
»Das ist nicht nötig. Sagen Sie uns doch bitte einfach, wo wir ihn finden, dann hat er keine Umstände.«
»Mein Mann möchte nicht, dass Frauen alleine im Werk herumlaufen. Und was er nicht will, wird nicht gemacht.«
»Hat er Angst, wir würden uns verlaufen oder herumschnüffeln?«, frage ich verwundert, aber da kommt auch schon ihr Mann.
Herr Tauber sieht schmierig aus, und ich verstehe wirklich nicht, was Frau Tauber an ihm findet. Würde sie mal ausschlafen, wäre sie eine attraktive Frau. Aber ihr Mann erinnert an einen übergewichtigen Maulwurf. Sein Bauch ist so dick, dass er fast bis zu den Knien hängt. Seine Anzugsjacke ist viel zu eng, und er schwitzt, was das Zeug hält.
Beim Anblick seiner stinkenden Zigarre kommt mir das Wort Wirtschaftswunderzeit in den Sinn. Herr Tauber sieht nämlich aus wie das personifizierte Wirtschaftswunder. So, als würde er fünf Käseigel auf einmal verdrücken und einen Schweinekrustenbraten mit Mayonnaise noch dazu.
Er kommt mit ausgebreiteten Händen auf uns zu.
»Da sind ja die Damen. Haben Sie denn gut hergefunden? Hahahaha!« Seine Schweinsaugen blitzen.
Wir lachen höflich mit, nur Frau Tauber nicht, die weiter vor sich hin gähnt.
»Gehen wir doch in mein Büro!«, schreit Herr Tauber, als würden wir uns durch einen Sturm- und Hagelschauer hindurch unterhalten, dann dreht er sich um und marschiert voraus. Bei jedem zweiten Schritt macht er so eine komische Hüpfbewegung. Vielleicht eine Kriegsverletzung, die er nicht richtig auskuriert hat.
»Gurgel hat mir Ihren Besuch schon angekündigt.« Herr Tauber bittet uns, in seinem Büro Platz zu nehmen. »Ich bin nur etwas überrascht, dass Sie alleine kommen, also dass Ihre Männer nicht dabei sind. Ach, der Gurgel«, sagt er dann. »Der hat bei meinem Vorgänger gearbeitet, dann kam der Krieg, und dann hat er sich verändern wollen. War ein guter Mann. Ich hab nur gute Männer. Da können sich die Frauen eine Scheibe von abschneiden. Na ja, gegen eine Sekretärin sag ich ja nichts, irgendwen muss man ja anbrüllen können. HAHAHA!« Ich möchte ihn gern schlagen, reiße mich aber zusammen und reiche ihm das Schreiben. Neugierig beugt er sich darüber und liest.
Dann hebt er den Kopf und sieht uns schmallippig an.
»Das mache ich nicht«, sagt er, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Sein Sessel ächzt.
»Wie bitte?« Murmel starrt ihn entgeistert an.
»Meine Druckerei ist ein anständiges Haus, und so einen Schund drucke ich nicht.« Er wedelt mit unserem Entwurf in der Luft herum. »Was soll dieser Kram? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
Ich hatte so was ehrlich gesagt schon befürchtet. »Nein, wir wollen ...«
»Papperlapapp!«, werde ich unterbrochen. »Tut eure Meinung kund! Bekommt nur Kinder, wenn ihr das wollt! Wir helfen euch dabei! Und das aus meiner Druckerei? Auf gar keinen Fall. Verlassen Sie sofort mein Haus! Auf der Stelle! Oder ich rufe die Polizei.«
»Die Polizei?« Jetzt muss ich wirklich lachen. »Warum denn das?«
»Weil das hier ...« Wieder fuchtelt er mit den Zetteln herum. »... eine Anstiftung zur Aufsässigkeit ist. Eine Anstiftung der Frauen, sich gegen ihre Männer aufzulehnen. Aber wir haben immer noch Gesetze!«
»Es sind derzeit sehr schwammige Gesetze«, werfe ich bemüht ruhig ein. »Die Gesetze befinden sich quasi in einem Schwebezustand. Seit dem 23. Mai 1949 sind Männer und Frauen offiziell gleichberechtigt. Aber da steht noch einiges drin, was den Frauen gegenüber ungerecht ist.«
Keine Ahnung, woher ich plötzlich dieses Faktenwissen nehme. Herr Tauber scheint jedenfalls beeindruckt.
»Den Frauen gegenüber ungerecht ist«, äfft er mich bösartig nach. »Ich kann Ihnen sagen, was die Frauen tun sollten: die Klappe halten und dafür sorgen, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch steht!«
»Was bei Ihnen ja wohl der Fall ist.« Murmel starrt auf seinen Kugelbauch, und Herr Tauber wird rot.
»Die Kinder sollen sie versorgen, putzen sollen sie und zusehen, dass der Laden läuft.«
»Damit meinen Sie die Druckerei?«, frage ich.
»Ja, natürlich, was denn sonst?«, bellt Herr Tauber aggressiv. Ich habe Angst, dass er unseren Entwurf zerreißen könnte. Schließlich ist er der einzige, den wir haben, und ich habe keine Lust, alles neu zu tippen auf Murmels Uraltschreibmaschine.
»Aber ich wette, die Firma läuft ganz allein auf Sie, nicht wahr, Herr Tauber? Sie benutzen Ihre Frau nur als kostenlose Arbeitskraft, richtig? Und im Haushalt muss sie sicher alles alleine machen. Sie sehen mir nämlich nicht so aus, als ob Sie wüssten, wie man mit einem Putzlappen umgeht.«
Nun steht Herr Tauber auf. »Raus!«, brüllt er. »Raus aus meiner Firma! Und dieses ... dieses ... dieses Machwerk können Sie wieder mitnehmen! Ich werde jede Druckerei Hamburgs davor warnen, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen!«
Wir stehen auf. Es ist alles gesagt.
Murmel nimmt den Entwurf und wendet sich zum Gehen. Ich folge ihr.
An der Tür bleibe ich kurz stehen, drehe mich noch mal um und sehe Herrn Tauber an, der keuchend hinter seinem Schreibtisch steht.
»Sie werden schon noch sehen, was Sie davon haben«, sage ich gelassen. »Sie haben nämlich die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Einen schönen Tag noch.«
Komischerweise will Herr Tauber uns gar nicht mehr nach unten begleiten.
»Was für ein Kotzbrocken«, sagt Murmel, als wir Richtung Empfang marschieren. »Da fällt einem nichts zu ein.«
»Der wird sich noch wundern.« Ich bin entschlossener denn je. »Hier, nehmen Sie.« Murmel drückt der verängstigten Frau Tauber einen Zettel in die Hand, auf den sie schnell alle Infos geschrieben hat. »Kommen Sie zu unserer Versammlung.«
Eigentlich hätte ich erwartet, dass Frau Tauber ihr den Zettel mit den Worten »Nein, danke« zurückgibt, aber sie nickt, nimmt ihn und steckt ihn in ihr Dekolleté.
»Danke schön«, sagt sie dann und lächelt schwach.
***
Nach der lebensgefährlichen Rückfahrt parkt Murmel in der Nähe vom Silbersack, und wir verabreden uns für den nächsten Tag. Ich nicke ihr zuversichtlich zu.
»Das wird schon!«, erkläre ich und beschließe, zu Fuß weiterzugehen. Übernachten muss ich ja nun nicht mehr bei ihr. Ich wohne ja jetzt bei Bille.
Murmel winkt mir hinterher.
Ein wenig mulmig ist mir, als ich durch das dunkle Hamburg in Richtung Reeperbahn laufe. Dann fällt mir plötzlich Frau Nasila wieder ein. Wie zum Teufel kann ich sie bloß erreichen?
Ich bleibe stehen.
Hm.
Andererseits habe ich doch jetzt dieses große Projekt mit Murmel. Vielleicht kann ich mit ihr die Geschichte umschreiben, auch wenn ich mir momentan noch nicht vorstellen kann, wie das im Einzelnen funktionieren soll.
Ein komischer Gedanke schießt mir durch den Kopf. Vielmehr eine Frage.
Will ich überhaupt zurück?
Auf der Reeperbahn ist relativ wenig los, ein paar betrunkene Matrosen laufen herum und grölen. Einige Huren stehen am Straßenrand und versuchen, sie zu kobern, wie man zu dieser Zeit so schön sagt. Aber ohne Erfolg. Sie sind viel zu besoffen, um die Damenwelt noch beglücken zu können.
Aus einigen Kneipen ertönt Musik, auf der Straße wird Müll von dem leichten Wind umhergefegt. Ob es hier am Freitagabend so hoch hergeht wie im Jahr 2010? Ob dann irgendwelche Männer aus Pinneberg Junggesellenabschied feiern und dämliche Sachen machen müssen, wie zum Beispiel im Bunny-Kostüm Kondome verkaufen oder fünfzig Kurze auf einmal trinken?
In einer Seitenstraße ist es hell erleuchtet. Eine Menschentraube steht zusammen, und ich höre ein Lied, das ich gut kenne. Es ist ein altes Lied. Auf der Reeperbahn nachts um halb eins.
Was ist denn hier los?
Da stehen riesengroße Kameras und Scheinwerfer, und da sind ein paar Männer.
Und auf einmal sehe ich ihn: Hans Albers!
Ich bin mitten in die Dreharbeiten zu einem Film geraten. Das muss ich mir anschauen.
Natürlich habe ich schon viel von Hans Albers gehört und auch schon einige Filme mit ihm gesehen.
Offenbar sind die Dreharbeiten für diesen Tag schon vorbei, und die Crew sitzt noch ein wenig zusammen. Da steht Hans Albers neben einem wesentlich kleineren Mann, und beide singen das Lied. Einfach so. Ich trete ein wenig näher, und jetzt erkenne ich auch, wer der zweite Schauspieler ist: Heinz Rühmann! Mir wird ganz warm ums Herz.
Hans Albers sieht sehr gut aus. Er hat stahlblaue Augen und eine wahnsinnige Ausstrahlung, auch wenn er schon über sechzig sein muss.
Plötzlich kommt mir ein merkwürdiger Gedanke: Wäre es nicht der reinste Wahnsinn, erzählen zu können: »Ich hatte einen One-Night-Stand mit Hans Albers«? Zwar wird mir keiner glauben, aber witzig wäre es trotzdem.
Ach, armer Hans. Du weißt noch nicht, dass du in sechs Jahren während einer Theateraufführung zusammenbrechen und ein paar Monate später in einem Sanatorium sterben wirst. Dein Urnengrab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof und ...
Moment mal. Was, wenn ich Hans Albers beiseite nehmen und ihm den Tipp geben würde, ein bisschen auf seine Gesundheit zu achten und vielleicht mal einen Arzt aufzusuchen? Möglicherweise könnte ich damit ja sein Leben verlängern. Um Heinz Rühmann muss ich mir keine Gedanken machen, der wird uralt!
Aber den blonden Hans könnte ich mir doch jetzt mal vornehmen. Dann hätte ich wenigstens versucht, ihn zu warnen.
Aber leider werde ich von den Polizisten, die die Dreharbeiten überwachen, verscheucht. Sie wollen mich nicht zu ihm durchlassen. Als ich ihnen klarzumachen versuche, dass ich Hans Albers in einer dringenden Angelegenheit sprechen muss, lachen sie nur müde und erklären, das wollten alle Frauen.