Kapitel 14

»Sie müssen uns helfen«, flehe ich Dr. Klingelhöfer am nächsten Morgen an.

Ich bin von der Nacht im Hochbett meiner ehemaligen Speisekammer noch völlig gerädert. Marie lag neben mir, die Matratze war viel zu weich, und in dem engen Raum war es extrem stickig. Dazu kam, dass man eine wacklige Leiter runterklettern muss, wenn man das Bedürfnis hat, aufs Klo zu gehen. Außerdem durfte Billes Mann von dem fremden Gast nichts erfahren.

Nachdem Klingelhöfer, der auch ärztliche Kenntnisse hat, Marie untersucht hat, nimmt er mich zur Seite.

»Sie können von Glück sagen, dass bei Ihrer Freundin alles in Ordnung ist. Aber passen Sie demnächst besser auf sie auf!«

»Das will ich ja«, verteidige ich mich. »Ich habe auch schon einen Schlachtplan.«

»Einen Schlachtplan?«, fragt Klingelhöfer skeptisch. »Und wie soll der aussehen?«

»Er muss noch entworfen werden«, erkläre ich ausweichend und beginne auf dem Stuhl zu wippen, auf dem ich während der Untersuchung gewartet habe. »Sexuelle Aufklärung, Kondome und so weiter und so fort. Wir werden offen über alles sprechen. Auf unseren Versammlungen.«

»Welche Versammlungen?« Nun ist Klingelhöfers Neugier geweckt.

»Die ich organisieren will, um die Frauen aufzuklären: Aktion COBE nennen wir das Ganze. Leider wird keine Zeitung der Welt drucken, wo und wann sie stattfinden, deswegen müssen wir uns auf Handzettel und Mund-zu-Mund-Propaganda verlassen.« Ich denke kurz nach. »Selbstbewusstsein sollen die Frauen lernen und wie sie lernen, nein zu sagen.«

Damit habe ich ja bei Bille schon angefangen.

»COBE, so, so. Eine großartige Idee«, wirft Klingelhöfer ein. »Dann können Sie auch gleich Werbung für Tampons machen.«

»Wie bitte?«

»Die werden immer noch als anrüchig angesehen. Dabei sind diese Binden doch völlig antiquiert.«

Das stimmt. Ich konnte diese Surfbretter zwischen den Beinen auch noch nie leiden.

»Gerade jungen Mädchen wird es häufig verboten, Tampons zu benutzen«, fährt Klingelhöfer fort, »weil immer noch der Irrglaube herrscht, dass dadurch das Hymen zerstört wird. Aber das ist natürlich Unsinn. Wenn man es richtig macht, passiert da gar nichts.« Er redet sich richtig in Fahrt. »Und Sie sollten endlich mit diesem blödem Klischee um die angeblichen Massagestäben aufräumen.«

»Was für Dinger?«, frage ich.

»Nun ja, offiziell heißt es, Massagestäbe seien lediglich dazu da, psychische Spannungen abzubauen und dafür zu sorgen, dass Frauen nicht so leicht hysterisch werden.« Klingelhöfer fasst sich an den Kopf. »Ich habe sogar mal das Argument gehört, Massagestäbe seien gut für die Gesichtshaut!«

Ich hoffe, er meint nicht das, von dem ich denke, dass er es meint.

»Diese Dinger werden also unter dem Deckmäntelchen der geistigen und körperlichen Gesundheit verkauft, aber machen wir uns nichts vor, meine Liebe, das sind Vibratoren, und damit kann eine Frau zum Orgasmus kommen.«

Huch, jetzt werde ich fast ein bisschen rot. Ich will hier schließlich keinen Sexualkundeunterricht betreiben.

»Sie sehen, auch Masturbation ist ein wichtiges Thema«, fährt Klingelhöfer ungeniert fort. Er scheint gar nicht mehr auf mich zu achten. »Das müssen Sie unbedingt ansprechen: dieser Unfug, dass Onanie Rückenmarksschwund hervorruft oder für Akne verantwortlich ist. Verrückt! Ich meine, fast jedes pubertierende Kind hat Pickel.«

***

Nachdem ich Marie wieder bei Bille abgeliefert habe, mache ich mich auf den Weg zu Murmel.

Als sie die Geschichte von Marie hört, ist sie ebenso empört wie Dr. Klingelhöfer.

»Wie müssen dringend etwas unternehmen«, erklärt sie. »Ich hab gestern noch herumtelefoniert und tatsächlich eine Druckerei gefunden.«

Stolz zeigt sie mir einen Zettel, auf dem sie unseren Punkteplan noch vervollständigt hat.

»Es ist eine ganz kleine Druckerei in Winterhude. Das Gute ist, dass sie einer Frau gehört, deren Mann im Krieg gefallen ist. Jetzt schmeißt sie den Laden. Sie war ganz begeistert von unserer Idee. Am besten fahren wir gleich mal hin.«

Berit Michaelsen ist eine gestandene Frau Anfang fünfzig, der man ansieht, dass sie schon einiges durchgemacht hat. Aber ganz offenbar lässt sie sich nicht unterkriegen.

»Keiner hat gedacht, dass ich es schaffe«, erzählt sie uns bereitwillig, als sie uns durch ihre Räume führt. »Eine Frau in einer Führungsposition. Hohoho! Aber ich hab mich nicht einschüchtern lassen und einfach losgelegt. Und jetzt geht’s langsam bergauf.«

»Das freut mich.« Murmel nickt ihr zu.

Berit lässt sich hinter ihrem Schreibtisch nieder, zündet sich eine Zigarette an und lehnt sich zurück. »Für die Männer in meinem Betrieb ist das natürlich ein Problem. Am Anfang gab es viele Schwierigkeiten, auch weil mein Mann den Laden ganz anders geführt hat als ich. Er wusste grundsätzlich alles besser und war Kritik gegenüber komplett resistent.«

»Würden Sie uns also helfen und diesen Aufruf drucken?«, frage ich.

Eine kleine Pause entsteht.

»Wir kämpfen für die gleiche Sache«, sagt sie dann. »Also fünftausend Stück. Ende der Woche habe ich sie fertig.«

»Was wird uns das Ganze kosten?«, fragt Murmel.

»Nichts. Es wird Zeit, dass sich jemand um die Rechte der Frauen kümmert. Mich haben Sie jedenfalls schon mal auf Ihrer Seite.«

»Danke«, sagen Murmel und ich gleichzeitig und strahlen.

***

Den restlichen Tag verbringen Murmel und ich damit, die Versammlung vorzubereiten. Dr. Klingelhöfer stellt freundlicherweise seine Apotheke zur Verfügung.

Das Treffen ist für Mitte nächster Woche anberaumt.

Klingelhöfer hat sogar angeboten, die Flugblätter in seiner Apotheke zu verteilen. Flugblätter – das Wort erinnert mich immer an Sophie Scholl und ihre Weiße Rose. Irgendwie klingt es unheimlich und vor allen Dingen kriminell.

»Sie sollten systematisch nach Stadtteilen vorgehen«, schlug er eifrig vor. »Die ärmeren und kinderreicheren zuerst. Dort tut Aufklärung besonders not.«

Das erscheint mir logisch, denn die Frauen dort haben wahrscheinlich die meisten Kinder und am wenigsten zu sagen. Und sie sind sicher mehr der häuslichen Gewalt ausgesetzt als die besser betuchten. Natürlich gibt es Ausnahmen, Bille zum Beispiel.

»Hast du schon mal eine Rede gehalten?«, fragt Murmel mich, als wir im Silbersack vor eine Tasse Kaffee sitzen.

»Ja, in meinem Job als ... äh, also in meiner Zeit als Presse... äh, Sprecherin«, stottere ich und merke, wie Murmel mich mustert.

Aber wenn ich etwas kann, dann vor Publikum Reden halten. Als Pressesprecherin muss man so was draufhaben, sonst kommt man in dem Job nicht weiter. Deswegen habe ich auch extra Sprech- und Rhetorikseminare besucht, das kommt mir jetzt natürlich zugute.

»Wo hast du denn eigentlich gearbeitet?«

»Ach, hier und dort«, antworte ich schwammig, aber sie lässt nicht locker.

»Du weichst mir aus«, sagt sie streng. »Hier und dort bedeutet alles und nichts. Wo hast du die Reden gehalten?«

»In der Schule.«

»Seit wann dürfen Schüler Reden halten?«

»Mein Lehrer war anders.« O Gott, jetzt kommen hoffentlich keine weiteren Nachfragen.

»Also, meine Lehrer haben mir eine Ohrfeige gegeben oder mir mit dem Lineal auf die Hand geschlagen, wenn ich mir erlaubt hätte, eine Rede zu halten.«

»Ich sagte ja, er war anders.«

»Hör mal, Cosima.« Murmel setzt sich auf den Stuhl gegenüber von mir. »Irgendwas stimmt doch nicht mit dir. Willst du mir nicht endlich sagen, was los ist?«

Verzweifelt beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich würde ja gern, aber sie wird mir nicht glauben, weil man das einfach nicht glauben kann. Andererseits täte es mir sehr gut, wenn ich mein Geheimnis mit jemandem teilen könnte. Und ich glaube, Murmel kann ich vertrauen.

»Ich komme aus dem Jahr 2010«, sage ich nach einer kleinen Pause wie die Hauptdarstellerin eines Science-Fiction-Streifens. »Weißt du, die Zukunft bietet viel für Frauen. Sie werden Richterin, Geschäftsführerin, sogar Kanzlerin. Sie können über sich und ihren Körper selbst bestimmen. Und Scheidungen sind quasi an der Tagesordnung.«

Murmel sagt erst mal gar nichts, sondern starrt mich nur unverwandt an. Dann fängt sie hysterisch an zu lachen.

»Das ist gut! Das ist sogar sehr gut!«, keucht sie.

»Glaubst du mir?«, frage ich vorsichtig.

»Sicher, sicher.« Murmel scheint sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können. »Und ich komme aus der Steinzeit. Da war es auch sehr lustig.« Sie lacht und lacht und lacht und zündet sich schließlich eine Zigarette an.

Ganz kurz überlege ich, Murmel mehr über die Zukunft zu erzählen, verwerfe den Gedanken dann aber wieder. Wenn sie mich für bekloppt hält, bin ich meine Mitstreiterin gleich wieder los. Und ich brauche sie doch, um etwas bewegen zu können.

»Tja, dann müssen wir das mit der Zukunft wohl nur noch den Männern beibringen«, sagt Murmel. Dann schaut sie mich unverwandt an und sagt leise: »Irgendwann kriege ich dein Geheimnis schon noch raus.«