Langsam richte ich mich auf. Alles ist bestens. Ich befinde mich in meinem Zimmer in Veras Haus und lausche in die Stille.
Erst als ich aufstehe und zum Spiegel gehe, bemerke ich den Lorbeerkranz auf meinem Kopf. Vielleicht hat Kleopatra ihn mir aufgesetzt, als ich schon nicht mehr ansprechbar war? Jedenfalls bin ich unversehrt. Noch nicht mal einen blauen Fleck habe ich. Sehr gut.
Schnell lege ich den Kranz zur Seite und öffne die Tür.
»Hallo!«, rufe ich ins Treppenhaus und freue mich schon auf die Willkommensgrüße und natürlich auch auf die Gesichter der anderen! »Haaaaaaaaalloooooooooo!«
Keiner scheint da zu sein. Na ja, ist ja auch mitten am Tag. Murmel kauft wahrscheinlich Mayonnaise ein, und die anderen sind beim Selbstverteidigungskurs in Berits Druckerei ...
Gerade als ich das Erdgeschoss erreicht habe, klingelt es an der Tür. Ich husche über den Flur und öffne die Tür.
Vor mir steht Paul.
»Paul!«, sage ich überrascht.
Paul sieht mich an, als sei ich ein Gespenst. Ein paar Sekunden lang sagen wir beide gar nichts.
»Äh, du ... du willst wahrscheinlich zu Bille«, bringe ich schließlich stotternd hervor.
Er nickt. »Das ist richtig. Aber ich wollte sie eigentlich nur fragen, ob es Neuigkeiten von dir gibt. Ob sie weiß, was mit dir geschehen ist.«
»Was soll denn geschehen sein?« Ich war doch nur kurz eingenickt und dann ein paar Augenblicke bei Kleopatra. Aber das erwähne ich wohl besser nicht. Da fällt mein Blick nach draußen, und ich stutze. Es schneit. Es ist nicht mehr Hochsommer, es ist Winter!
Jetzt bin ich komplett durcheinander und starre Paul sprachlos an.
Er findet als Erster seine Stimme wieder. »Cosima, ich ...«
»Ich musste weg«, unterbreche ich ihn, »weil ich ... Ach, ich erkläre es dir nachher. Aber eins möchte ich jetzt gleich loswerden. Du hast mir gefehlt, Paul! Sehr sogar! Ich will nur dich, keinen anderen.«
Noch immer sieht Paul mich mit großen Augen an. Dann lächelt er und tut einen Schritt auf mich zu. »Komm her.«
Er zieht mich an sich, und ich lasse es geschehen. Was mit Bille ist, weiß ich nicht, aber er wird es mir schon erklären. Für den Moment genügt es mir, in seine Arme zu sinken.
***
Kurze Zeit später sitzen wir im Wohnzimmer, und Paul macht Feuer in Veras Kamin.
Ich habe ihm alles erzählt. Alles, von Anfang an.
»Ich weiß, dass sich das alles völlig unglaubwürdig anhört, und ich könnte es gut verstehen, wenn du mich für geisteskrank hältst«, schließe ich endlich ab. »Aber ich bitte dich inständig, mir zu glauben.«
Paul schweigt für eine längere Zeit. »Es ist in der Tat eine unglaubliche Geschichte, aber nachdem du verschwunden warst, kam dieser Mann und ...«
»Welcher Mann?«, frage ich. »Der Bote von Frau Nasila?«
Er nickt. »Ja, angeblich gehe es um ein Zeitreisenprojekt, sagte er. Und ganz offenbar warst du ... oder bist du eine der Testpersonen. Er erzählte uns, dass du deinen Job bislang sehr gut gemacht hättest, nur am Schluss hättest du dich geirrt.«
»Aha.« Mein Plauderstündchen mit Kleopatra erwähne ich besser nicht, sonst wird meine Geschichte noch völlig unglaubwürdig.
»Es fällt mir schwer, an diese Zeitreisen und übersinnlichen Fähigkeiten von irgendwelchen Höhlenmenschen in Unawatuna zu glauben«, fährt Paul fort. »Ich versuche es, aber manchmal sträubt sich mein Verstand einfach. Aber Hauptsache ist doch, dass du wieder da bist.«
»Ich bin da, und ich werde bleiben«, verspreche ich ihm. »Aber nun musst du mir erzählen, was zwischen dir und Bille gewesen ist.«
»Du hast alles missverstanden, Cosima«, erklärt mir Paul. »Wirklich alles. Du hast Bille gesagt, dass du uns beide gesehen hast, was ja auch richtig ist.«
»Und weiter?«
»Ich habe mich mit Bille getroffen, weil du so starrsinnig warst. Bille war auch der Ansicht, dass du viel zu verbohrt bist und alles nur schwarz oder weiß siehst. Und das Wesentlich gar nicht wahrnimmst. Zum Beispiel, dass ich dich von der ersten Sekunde an geliebt habe.«
»Das hast du so nie gesagt.«
»Wie denn auch? Du bist ja immer gleich auf die Palme gegangen«, rechtfertigt er sich und setzt sich neben mich aufs Sofa. »Ich gebe zu, dass ich nicht immer richtig reagiert habe, auch was die Sache mit meiner Mutter betrifft. Mittlerweile weiß ich ja, dass du recht hattest. Aber es gibt einfach Sachen, die man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann.«
»Ja«, pflichte ich bei, »denk nur an den Höhlenmann.«
»Die Tatsache, dass mein Vater meine Mutter schlägt, war auch ein Schlag für mich. Damit musste ich erst mal klarkommen, Cosima.«
»Wie geht es deiner Mutter denn?«
»Ihr geht es gut. Sie ist ausgezogen und wohnt jetzt bei ihrer Schwester ein paar Straßen weiter. Sie fragt immer mal wieder nach dir. Eigentlich haben alle nach dir gefragt. Keiner hat kapiert, warum du so plötzlich weg warst. Schlotzo, Gurgel und Hänschen wollten schon los und dich auf eigene Faust suchen, weil sie dachten, irgendjemand hätte dich bei der Polizei angeschwärzt. Auch mich hatten sie im Verdacht.«
»Und was ist denn nun mit Bille?«, frage ich und richte mich auf.
»Damals, als ich mich mit Bille getroffen habe, hat sie mir den Kopf gewaschen. Und dann haben wir zusammen einen tollen Plan ausgeheckt. Ich wollte dich nämlich überraschen. Ich hatte an der Küste ein nettes Hotelzimmer gebucht, um dort mit dir ein paar Tage alleine zu sein. Und Bille sollte der Lockvogel sein. Deswegen haben wir auch so gelacht und uns umarmt. Wir waren einfach nur froh, das alles ausgeklügelt zu haben. Verstehst du?«
»Ja«, sage ich leise. »Und dann war ich plötzlich weg.«
»Genau. Das war ein Schock für mich. Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr und hättest die Stadt verlassen. Immerhin hatten wir uns gestritten, und du hast ziemlich deutlich gemacht, was du von mir hältst. Was hätte ich auch sonst denken sollen? Versetz dich mal bitte in meine Lage.« Paul seufzt und fährt sich durch die Haare. »Ich war so verletzt und richtig wütend auf dich. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass wir uns vertragen und versuchen, die Sache vernünftig zu klären. Aber für mich sah es so aus, als wärst du klammheimlich abgehauen.«
»Aber nun bin ich ja wieder hier. Auch wenn ich der Meinung war, nur ein paar Stunden fort gewesen zu sein. Aber hier schneit es und ...«
»Ja, wir haben Dezember. Bald ist Weihnachten.«
»Unfassbar. Es ist bestimmt viel passiert in der Zwischenzeit. Weißt du, wo die anderen sind?«
»Im Moment weiß ich nur, dass Murmel einen Weihnachtsbaum kaufen wollte und ich ihr beim Aufstellen helfen soll. Aber ich komme regelmäßig her, weil ich stets hoffe, dass Bille oder eine der anderen Frauen etwas von dir gehört haben. Bis heute vergeblich. Aber dann öffnest du mir die Tür und ...«
»Cosima!«
Murmel und Marie betreten das Wohnzimmer. Murmel lässt die Tanne fallen und stürzt auf mich zu. »Meine Güte, Cosima, wie schön, dass du wieder da bist. Wie schön, wie schön!«
»Wir haben uns solche Sorgen gemacht«, pflichtet Marie bei, die ein kleines Bündel trägt.
»Du darfst nie mehr weggehen«, ruft Murmel. »Wir brauchen dich doch hier! Ach, es gibt so viel zu erzählen. Wie wunderbar, dass du zurück bist, ach, ist das herrlich!!!« Wie ein kleines Kind hüpft sie vor Freude auf und ab. »Du bleibst doch, oder? Wo warst du überhaupt? Ach, ich will alles wissen, alles!«
»Immer der Reihe nach.« Ich umarme Murmel fest und spüre, dass auch ich sie vermisst habe. Und dann sehe ich, dass Marie ein kleines Kind im Arm hält.
»Na, sag mal, Marie ... dein Baby ist ja da! Herzlichen Glückwunsch!«
Marie hält mir das Bündel hin. »Es ist ein Mädchen, und es heißt Cosima«, erklärt sie mir stolz. »Und ich wollte dich fragen, ob du ihre Patentante werden willst.«
Mir schießen die Tränen in die Augen. »Natürlich will ich das, was für eine Frage! Ach, Kinder, ist das schön! Wo ist Bille?«
»Sie müsste gleich da sein«, sagt Murmel. »Aber eigentlich wohnt sie ja nicht mehr hier. Sie ist wieder bei Heinrich eingezogen.«
»Bei diesem Mistkerl?« Ich kann es kaum glauben. Kaum ist man mal ein paar Stunden weg ...
»Ach, Heinrich ist zahm wie ein Lämmchen. Der macht gar nichts mehr«, erzählt Murmel. »Bille hat Gurgel als Kindermädchen für die kleine Helga engagiert. Wusstest du, dass er total gut mit kleinen Kindern umgehen kann?«
»Unglaublich, dieser Haudegen? Na ja, raue Schale, weicher Kern, oder wie heißt es doch so schön.«
»Und Gurgel passt auf, dass Heinrich Bille nichts tut, und er tut ihr auch nichts, davon kannst du mal ausgehen. Sonst kriegt er nämlich was auf die Zwölf.«
»Hervorragend«, sage ich und nicke.
»Dafür haben wir jetzt eine neue Mitbewohnerin«, fügt Marie ein. »Seit ein paar Wochen wohnt Frau Tauber hier.«
»Du kennst doch noch die nette Frau von der Druckerei Tauber, wo wir zuerst unsere Blätter drucken lassen wollten. Die Frau, die so müde aussah.« Murmel sieht mich erwartungsvoll an. »Sie hat es nicht mehr ausgehalten und ihren Mann verlassen. Sie bekommt jede Menge Unterstützung. Die gute Berit Michaelsen hat einen Anwalt ausfindig gemacht, mit dem wir zusammenarbeiten. Er engagiert sich offiziell für die Rechte der Frauen und kann sich vor Arbeit kaum retten. Ich sage dir, wir haben eine Menge bewegt!«
»Es muss aber noch eine Menge passieren«, sage ich und bin voller Tatendrang.
»Eins nach dem anderen«, wiegelt Murmel ab. »Jetzt muss erst mal der Christbaumständer aus dem Keller geholt werden. Paul, machen Sie das? Und ich zaubere uns derweil etwas Schönes zu essen. Ich hab extra viel Mayonnaise mitgebracht. Das wird ein Fest, sage ich euch!«
Von mir aus esse ich heute auch Mayonnaise. Zur Feier des Tages!