Flugschule

Die Möwen schauten verdutzt zu Herrn Robert. Der graue Vogel verneigte sich nochmals. Er wirkte etwas aufgeregt.

„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Gruyère. „Er muss vor Morgengrauen wieder auf seinem Balkon sein. Und dazu muss er fliegen können.“

„WiesoKannErNichtFliegen“, krächzte die erste Möwe.

„ErIstEinVogelUndVögelKönnenFlie…“, begann die zweite Möwe.

„Ja, das wissen wir bereits. Er braucht nur ein bisschen Hilfe“, unterbrach Gruyère, die sah, dass Herr Robert wieder verlegen den Kopf hängen ließ.

„AlsoGutAlsoGutUndDannGibt’sNenLeckerenMüllsack“, rief die dritte Möwe.

„Müllsack!Müllsack!LeckerLeckerMüllsack!“, stimmten die anderen beiden eifrig ein.

„Ruhe!“, knurrte Picandou, dem der Kopf schmerzte.

Die Möwen stellten sich vor Herrn Robert in einer Reihe auf und begannen sofort mit dem Unterricht.

„FlügelAusbreiten!“, rief die erste. „UndFlattern.“

„FlügelAusbreitenUndFlattern“, wiederholte die zweite.

„FlügelAusbreitenUndNochMehrFlattern“, wiederholte die dritte.

Alle drei Möwen flatterten mit den Flügeln.
Herr Robert flatterte mit
und erhob sich in die Luft.
Er war so überrascht,
dass er nach unten schaute.
Dabei vergaß er das Flattern.
Er plumpste zu Boden
und landete auf dem Schnabel.

„WeiterFlattern!“, befahl die erste Möwe.

„DuDarfstNichtAufhören“, rief die zweite streng.

„Okay“, sagte Herr Robert.

Die Muskeltiere setzten sich auf die Kaimauer und beobachteten, welche Fortschritte Herr Robert machte. Es ging alles sehr langsam. Wieder und wieder fiel er unsanft auf den Kai und einmal sogar ins Wasser, weil er regelmäßig das Flattern vergaß.

„DuBrauchstHöheBevorDuSegelnKannst“, schnarrte die erste Möwe. „AlsoNochMalVonVorneFlügelAusbreitenUndFlattern.“

Nach mehreren Anläufen schaffte Herr Robert immerhin die Höhe der Kaimauer, doch dann fiel er wieder zu Boden.

Die Kirchturmuhr schlug die halbe und dann die volle Stunde. Die Möwen wurden immer ungeduldiger.

„DasIstEchtArbeit“, schimpfte die erste.

„EchtEchtArbeit!“, schimpfte die zweite. „DasSindBaldZweiMüllsäcke.“

„NeinDreiMüllsäcke!“, korrigierte die dritte.

Die Muskeltiere blickten besorgt zum Himmel. Es dämmerte schon. Ihnen rannte die Zeit davon. Sie mussten zurück in der Höhle sein, bevor die Deichstraße erwachte. Wenn Herr Robert nicht endlich fliegen lernte, mussten sie ihn im Stich lassen, denn mitnehmen in die Höhle konnten sie ihn ja nun mal nicht. Herr Robert würde nie und nimmer durch ihren Geheimgang passen.

Aus irgendeinem Grund hörte der Vogel, wenn er in der Luft war, plötzlich auf zu flattern.

„Warum fliegst du nicht weiter?“, rief ihm Gruyère zu, als er wieder zu Boden gesaust war.

„Ich fliege doch. Aber dann schaue ich runter und alles ist so weit weg“, erwiderte Herr Robert bedrückt. „Und dann bekomme ich einen Schreck und vergesse, dass ich flattern muss.“

„Dat Jongchen hat Höhenangst“, stellte Pomme de Terre fest. „Ein Vogel mit Höhenangst. Oh Mann.“

Die Muskeltiere sahen sich ratlos an. Das war natürlich ein Problem.

„Hör zu“, sagte Gruyère.
Sie kratzte sich
nachdenklich hinter den Ohren.
„Beim nächsten Versuch darfst du
einfach nicht nach unten schauen.
Schau zum Himmel.
Da willst du ja schließlich hin.
Versprichst du mir das?“

„ZumHimmelZumHimmel“, riefen die Möwen.

„Okay. Ich versuch’s“, murmelte Herr Robert und breitete zum zweiunddreißigsten Mal die Flügel aus.

„Versprich es!“, rief Gruyère. „Nur zum Himmel. Sag dir das immer wieder vor.“

„ZumHimmelZumHimmel“, riefen die Möwen, und die Muskeltiere und Herr Robert stimmten mit ein.

Herr Robert flatterte, erhob sich und krächzte „ZumHimmelZumHimmel“.

Diesmal schaute er nicht nach unten. Stattdessen stieg er hoch in den Morgenhimmel hinauf. Die Möwen flogen an seiner Seite, und gemeinsam sangen sie: „ZumHimmelZumHimmel.“

Immer wieder musste sich Herr Robert dazu zwingen, nicht nach unten zu schauen. Aber er hatte Gruyère sein Versprechen gegeben und das musste er halten. Und siehe da, er stieg höher und immer höher.

„JetztFlügelAusgestrecktLassenUndMitDemWindGleiten“, rief eine Möwe, die dicht an seiner Seite flog. Sie hatte die Flügel ausgebreitet und schien durch die Luft zu schweben.

„Gleiten?“, stotterte Herr Robert.

„MachEsUnsNach“, befahl die zweite Möwe.

Herr Robert nahm all seinen Mut zusammen und streckte die Flügel ganz weit aus. Der Wind rauschte um seine Ohren, aber auf einmal – oh Wunder – war es, als läge er auf einem unsichtbaren Kissen, das ihn sanft und sicher immer weitertrug.

„Das ist ja der Wahnsinn!“, krächzte er.
„Der absolute Wahnsinn!“
Je länger er dahinsegelte,
desto mehr wich die Angst.
Ein großes Glücksgefühl
durchströmte seinen Körper
bis in die Flügelspitzen.

„JetztKannstDuRunterSchauen“, sagte die erste Möwe.

Herr Robert schaute nach unten, wo die langsam erwachende Stadt und in der Ferne die glitzernde Elbe lagen, beide ganz klein.

„Wie schön ist das denn!“, rief Herr Robert.

Und gerade als ihm wieder ein bisschen mulmig wurde, befahl die Möwe: „UndJetztWiederIndenHimmelSchauenUndFlattern!“

Herr Robert gehorchte und stieg leicht wie eine Feder nach oben, folgte auch immer schön brav den Möwen, die zu einer langen Kurve ansetzten und dann in den Sinkflug gingen.

Die Muskeltiere klatschten begeistert, als Herr Robert und die drei Möwen auf dem Kai landeten – auch wenn Herr Robert schlingerte und einen Purzelbaum machte, ehe er festen Boden unter den Füßen hatte.

„Bravo!“, rief Gruyère.

Herrn Roberts Augen blitzten vor Freude. Er keckerte aufgeregt.

„Wie war’s?“, fragte Bertram.

„Unbeschreiblich!“, antwortete Herr Robert. Auch die Möwen wirkten endlich zufrieden mit ihrem Flugschüler.

„NichtSchlechtNichtSchlecht.GleichNochMal“, rief die erste. Herr Robert flatterte mit den Flügeln und folgte ihnen in den Himmel, der sich bereits zartrosa färbte.

„Dat war man allerhöchste Eisenbahn“, sagte Pomme de Terre. „Zeit, dat wir nach Hause kommen.“

Picandou nahm Gruyères Pfoten
und drückte sie vorsichtig.
„Kommst du mit?“, fragte er.
„Bitte!“, rief Pomme de Terre.
„Wir haben sogar aufgeräumt“,
fügte Bertram hinzu.
„Nur für dich.“
Gruyère war gerührt.
„Ja, natürlich komme ich mit“,
sagte sie.
„Nirgendwo ist es schöner
als zu Hause mit euch.“

„Und wir versprechen, uns zu bessern“, raunte Picandou ihr ins Ohr.

„Und ich verspreche, weniger pingelig zu sein“, rief Gruyère. „Die Wahrheit ist – ich mag euch alle, wie ihr seid! Und ich habe gemerkt, wie sehr ich euch vermisse.“

„Und wir dich!“, rief Picandou.

Vier Vögel flogen eine elegante Schleife am Himmel und landeten wieder am Kai.

„ErKannsErKanns“, rief die erste Möwe.

„IchKannsIchKanns“, wiederholte Herr Robert stolz.

„Na denn man tau“, rief Pomme de Terre. „So spät sind wir noch nie nach Hause gekommen.“

Gruyère holte ihr Bündel. Picandou bestand darauf, es für sie zu tragen, und dann liefen die Muskeltiere, so schnell sie konnten, die Deichstraße hinauf. Die vier Vögel flatterten über sie hinweg. Einer brummte wie ein Flugzeug.

Vor dem Balkon
machten die Muskeltiere halt.
Herr Robert und die Möwen
landeten auf dem Geländer.
„Danke“, rief Herr Robert
den vier Freunden zu.
„Danke, danke für alles.
Ihr seid wunderbar.“

Die Muskeltiere verneigten sich, Bertram zückte elegant seinen Degen.

Herr Robert wandte sich an Gruyère. „Sag mal, könntest du mich morgen Abend wieder aus dem Käfig lassen?“ Er deutete auf die Möwe zu seiner Rechten. „Wir würden uns gerne zu einer Spritztour verabreden.“

Die Möwe errötete leicht unter ihrem Gefieder. Sie hatte eindeutig einen Narren an Herrn Robert gefressen.

„Na klar!“, rief Gruyère und lächelte der Möwe zu. „Ich kann deiner Freundin sogar zeigen, wie man den Riegel öffnet.“

„Das wäre großartig!“, rief Herr Robert und pfiff zum Abschied ein kurzes Lied:

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern.
Keine Angst, keine Angst, Rosmarie.

Aber jetzt mussten sich die Muskeltiere sputen, denn die ersten Sonnenstrahlen krochen schon über die Dächer. Die Möwen folgten ihnen zum Müllsack. Gruyère, die noch nichts gegessen hatte, griff sich schnell ein paar Happen und schlüpfte mit den anderen durch das Abflussrohr zurück in den Keller.

Die Möwen bedienten sich freudig an den Resten. Denn die hatten sie sich wirklich verdient.

„Was für eine Nacht!“, seufzte Gruyère.
Sie ließ sich erschöpft
in ihre Camembert-Schachtel fallen.
„Es ist sooo schön,
wieder zu Hause zu sein.“
Picandou ergriff ihre Pfote.
„Und wie schön ist es erst,
dich wieder zu Hause zu haben.“
Pomme de Terre und Bertram
stimmten schläfrig zu.
Und dann war nur noch
Bertrams leises Schnarchen zu hören.

Gruyère dachte an Herrn Robert, der sich seinen Traum vom Fliegen erfüllt hatte. Auch er hing an seinem Zuhause bei Gerti und Günther, mit erfüllten Träumen aber war es noch viel schöner. Gruyère lächelte im Halbschlaf. Und das Schönste war, die Muskeltiere hatten ihm dabei geholfen.