Unheimliche Begegnungen

Währenddessen schauten Bertram, Pomme de Terre und Picandou ratlos aus dem Kellerfenster in den Regen. Sie warteten und lauschten auf Schritte oder auf irgendein Lebenszeichen von Gruyère. Ab und zu war einer von ihnen zum Waschbecken gelaufen und hatte das Ohr an den Ausguss gelegt. Doch durchs Rohr hörte man nur das ferne Rauschen und Gluckern des Wassers, das vom Hof in die Abwasserleitung lief.

„Wir können sie nicht mal suchen gehen“, jammerte Picandou und presste verzweifelt die Pfoten aneinander.

„Hoffentlich ist sie nicht im Abflussrohr ertrunken“, lispelte Bertram.

„Nee, nee“, rief Pomme de Terre. „Die Deern is da durchgewieselt, bevor dat mit dem Regen anfing.“

„Jedenfalls gehe ich sie suchen, sobald wir hier rauskommen“, sagte Picandou. „Und bis dahin, meine Herren, räumen wir die Höhle auf. Gruyère wird staunen, wenn sie zurückkommt.“

„Wenn …“, murmelte Bertram düster, aber die beiden anderen taten, als hätten sie ihn nicht gehört, und gingen sofort an die Arbeit.

Gruyère hatte sich mit aller Kraft gegen Herrn Robert gestemmt und ihn nach mehreren Versuchen aus der Pfütze gehievt.

Endlich saß er aufrecht.
Er öffnete die Augen,
blinzelte und schaute sie verwirrt an.
„Wo bin ich?“
„Du bist auf die Straße geflogen“,
antwortete die Rattendame.
Vor Erleichterung fiel ihr
ein ganzer Kieselstein vom Herzen.

„Geflogen? Wirklich? Ich kann … ähm … Also, ich kann doch gar nicht fliegen.“

Gruyère seufzte. „Das habe ich auch gemerkt, aber leider zu spät. Ha-hatschi!“

Herr Robert ließ den Kopf hängen. Er wirkte sehr bedrückt.

Gruyère wischte sich einen Tropfen
von der Nasenspitze.
„Ich verstehe das einfach nicht.
Du bist doch ein Vogel
und Vögel können fliegen.“
„Andere Vögel schon. Aber ich nicht“,
nuschelte Herr Robert.
Er hielt noch immer den Kopf gesenkt.

Die Ratte sah ihn überrascht an. „Aber wieso nicht?“

„Wo sollte ich das denn lernen?“, fuhr Herr Robert sie an. „Etwa im Käfig?! Da ist doch kein bisschen Platz! Außerdem musste ich nie fliegen, also habe ich es nicht gelernt. Punkt.“

„Verstehe. Aber dann hättest du mir nicht vorschlagen dürfen, dass du mich begleitest“, rief Gruyère.

Herr Robert nickte reumütig. „Stimmt.“ Er seufzte schwer. „Ich gebe zu, mir bleibt nichts andres übrig, als in meinen Käfig zurückzukehren“, fuhr er bekümmert fort und blickte betrübt Richtung Balkon.

Gruyère folgte seinem Blick und begriff im selben Moment, dass sie ein riesiges Problem hatten: Wie kam Herr Robert zurück nach oben? Sie hatte ihm wirklich keinen Gefallen getan, indem sie die Käfigtür geöffnet hatte.

„Das wäre im Grunde eine ganz gute Idee“, sagte sie zögerlich.

„Wäre?“, fragte Herr Robert.

„Wäre“, erwiderte Gruyère. „Wenn du nur fliegen könntest! Dann wäre es sogar eine Superidee.“

Herr Robert schaute sie entsetzt an. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Er begann vor Aufregung wie ein Handy zu klingeln.

Gruyère legte ihm beruhigend eine Pfote auf den Flügel. „Hör zu“, sagte sie. „Wir finden eine andere Lösung.“

Sie dachte krampfhaft nach. Den Efeu hochklettern konnte der Vogel mit seinen Krallen bestimmt nicht. Und hochtragen konnte Gruyère ihn auch nicht, dazu war er zu groß und zu schwer. Ob sie ihn mit einem Seilzug hochziehen könnte? Nein, dazu hätte sie die Muskeltiere gebraucht, und die hatte sie ja gerade verlassen.

Sie grübelte weiter
und schüttelte schließlich den Kopf.
„Es gibt keine andere Lösung.
Du musst nach Hause fliegen!“
„Aber genau das kann ich ja nicht“,
murmelte Herr Robert.

Gruyère winkte ab. „Aber ich weiß wer es dir beibringen könnte!“ Sie strahlte Herrn Robert an und deutete auf ein parkendes Auto. „Versteck dich am besten dort. Ich hole schnell Hilfe.“

„Kann ich nicht mitkommen zum Hilfeholen?“

Gruyère winkte entschieden ab. „Ein riesiger grauer Vogel und eine Ratte, die am Kai entlangspazieren, erregen nur unnötig Aufmerksamkeit.“

„Aber kann ich nicht vielleicht doch“, bettelte Herr Robert.

„Nein! Ich bin gleich zurück.“

Herr Robert war enttäuscht, watschelte aber gehorsam unters Auto.

Gruyère trippelte, so schnell sie konnte, die Deichstraße entlang, sprang an Pfützen vorbei und ließ ihren Blick aufmerksam in alle Richtungen schweifen.

Noch war die Straße leer, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich beeilen musste, damit Herr Robert vor Morgengrauen wieder sicher auf seinem Balkon saß.

Sie überquerte eine große Straße
und sprang dann
die Stufen zum Kai hinunter.
Dort wollte sie die Möwen suchen.
Die Möwen hatten den Muskeltieren
schon öfter aus der Patsche geholfen.
Vielleicht könnten sie Herrn Robert jetzt
das Fliegen beibringen?

Doch die Möwen, die nachts gerne auf der Kaimauer dösten, waren nirgends zu sehen. Gruyère überlegte. Manchmal schliefen sie auch unter einer Brücke. Also lief sie zur nächsten, die direkt neben den Stufen lag.

Dort war es so dunkel, dass sie nichts erkennen konnte. Aber ihr war, als höre sie das leise Rascheln eines Federkleides. Sie blinzelte ein paar Mal, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch außer einem alten Karton war nichts zu sehen.

Vorsichtig ging sie darauf zu. An einer Ecke war er etwas aufgerissen. Gruyères Herz machte einen Hüpfer. Vielleicht hatte sie ja ein perfektes neues Zuhause gefunden!

Sie schlüpfte durch die aufgerissene Ecke und sah sich um. Der Karton war leer und sehr geräumig. Das wäre schon mal ein Anfang. Sie legte ihr Bündel ab und wollte gerade wieder hinauskrabbeln, als sie wieder das Rascheln hörte: Die Möwen mussten ganz in der Nähe sein.

In diesem Moment kitzelte es erneut in ihrer Nase.

„HAATSCHI!“, hallte es unter der Brücke. Selbst wenn es nur das Hatschi einer Rattendame war, hätten die Möwen sie jetzt doch hören müssen! Aber es rührte sich nichts. Sie schlüpfte enttäuscht nach draußen und bekam den Schreck ihres Lebens!

Riesige gelbe Augen starrten sie an. Sie leuchteten wie Laternen. Um die Augen herum war alles schwarz, bis das Tier das Maul aufriss, seine großen, spitzen Zähne zeigte und ein lautes, zischendes Geräusch von sich gab.

Gruyère schoss zurück in die Kiste. Hier war sie in Sicherheit – zumindest für den Augenblick. Plötzlich aber begann der Karton zu wackeln und eine Pfote mit langen, scharfen Krallen fuhr durch die Öffnung. Gruyère sprang zurück und presste sich ängstlich in die hinterste Ecke. Wieder wackelte die Kiste, diesmal heftiger, und die Pfote schoss bedrohlich nahe auf sie zu.

„Hilfe!“, schrie Gruyère,
so laut sie konnte. „HILFE!!!“
Hoffentlich würde eine der Möwen
sie hören!

Und dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht war das Rascheln vorhin gar nicht von den Möwen gekommen? Vielleicht war es die ganze Zeit nur die Katze gewesen, die da leise unter der Brücke herumgestrichen war! Wenn das stimmte, war Gruyère verloren.