Gruyère war eine ordentliche Ratte – eine sehr ordentliche Ratte sogar. Ganz besonders liebte sie es, die Höhle unter der Treppe herauszuputzen und zu verschönern. Stundenlang räumte sie erst auf und bastelte dann aus Müllresten hübsche Dinge für den Haushalt: Möbel aus Käseschachteln, Teppiche aus Stoffresten oder Vasen aus Schraubdeckeln, für die sie im Innenhof Blumen aus den Blumentöpfen pflückte. Stolz und glücklich betrachtete sie ihr Werk, wenn sie fertig war. Doch ihr Glück hielt nie lange an. Das lag an ihren drei Mitbewohnern, denn die legten überhaupt keinen Wert aufs Verschönern. Ja, es war ihnen sogar ziemlich egal.
Bertram von Backenbart war ein unordentlicher Hamster, der gerne mal Apfelstiele oder Tomatenkerne fallen ließ.
Der braune Mäuserich Pomme de Terre war noch unordentlicher als der Hamster. Er vergaß, die Käserinden nach einer Mahlzeit wegzuräumen, er kleckerte und hinterließ eine Croissant- und Pastetenkrümelspur, die sich kreuz und quer durch die Höhle zog.
Am unordentlichsten aber war der graue Mäuserich Picandou. Wie Kraut und Rüben sah es aus, wo immer er sich gerade aufhielt. Das war überraschend, denn die Höhle unter der Treppe, in der sie alle lebten, gehörte ihm.
Unermüdlich räumte Gruyère hinter ihren Mitbewohnern auf und ständig brachten die Herren alles wieder durcheinander.
Eines Tages hatte die Rattendame genug.
„Hört endlich mit der Schlamperei auf!“, rief sie.
„Sonst ziehe ich aus!“
„Ach was“, lispelte der Hamster und machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Pfötchen. Er fand, dass Gruyère maßlos übertrieb.
„Jetzt mach man halblang“, sagte Pomme de Terre auf Hamburgisch. „Ich versteh nicht, wo das Problem ist. Sieht doch alles ganz schnieke aus.“
Und Picandou fügte mit tiefster Überzeugung hinzu: „Was Besseres als unsere Höhle findest du sowieso nicht!“
„Das werden wir ja sehen“, erwiderte Gruyère.
Als die drei sich kein Fünkchen besserten, packte sie schließlich ihre Sachen.
Die Herren sahen ihr verwundert dabei zu.
„Lass doch den Unsinn“, sagte Bertram.
„Wo willst du denn hin?“, näselte Pomme de Terre.
„Das geht euch nichts an. Mir reicht’s“, antwortete Gruyère. Dabei hatte sie keine Ahnung, wo sie eigentlich hinwollte. Aber das durften Picandou, Pomme de Terre und Bertram auf keinen Fall merken. Hauptsache weg. Sie würde ihnen schon zeigen, wie ernst sie es meinte.
„Aber Zuckerschnäuzchen“, murmelte Picandou und folgte ihr zum Waschbecken. „Das kannst du doch nicht machen.“
„Und ob ich das kann“, sagte Gruyère, die gerade auf die neben dem Waschbecken gestapelten Kisten kletterte. „Gib mir mal meine Sachen.“
Picandou reichte ihr das Bündel mit ihren Habseligkeiten und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Unglücklich schaute er ihr nach.
Gruyère flutschte ohne ein weiteres Wort des Abschieds durch den Ausguss im Waschbecken und verschwand im Abflussrohr.
Die drei Herren sahen sich betreten an. Das hatte keiner von ihnen gewollt!
„Die kommt bestimmt gleich zurück“, sagte Pomme de Terre tröstend.
Da erleuchtete ein Blitz die Deichstraße.
„Na, sag ich doch! Bei dem Schietwetter is’ sie gleich wieder da“, rief Pomme de Terre und zeigte aufs Kellerfenster. Jetzt donnerte es so heftig, dass die drei Herren zusammenzuckten.
Gruyère hatte den Donner kaum wahrgenommen und kletterte durch das Abflussrohr in den Innenhof. Sie schob das Sieb beiseite, hievte ihr Bündelchen durch die Öffnung und sah sich um.
Heute beschien kein Mond den Hof. Stattdessen türmten sich dichte Wolken am Nachthimmel.
Schon traf sie ein Regentropfen
auf der Nasenspitze.
Gleich folgte ein zweiter.
Und dann prasselte
das Unwetter auf sie herab.
Gruyère lief eilig zu den Blumentöpfen, die am Haus standen, um sich und ihr Bündel in Sicherheit zu bringen. Aber noch bevor sie die Töpfe erreicht hatte, war sie völlig durchnässt. Sie griff nach dem Rand eines besonders großen Untersetzers und versuchte sich hinaufzuschwingen. Doch der Untersetzer war so nass und glitschig, dass Gruyère immer wieder abrutschte. Sie lief zu einem zweiten Untersetzer und weiter zu einem dritten, aber sie schaffte es einfach nicht hineinzuklettern.
Der Regen war wie eine graue Wand.
Nicht einmal der Müllsack
war dahinter zu sehen.
Schnell bildeten sich tiefe Pfützen.
Dann überflutete das Wasser
den ganzen Hof!
Ein Strudel ergriff die Rattendame und schwemmte sie auf die Toreinfahrt zu. Sie entdeckte ein Holzstück, ruderte darauf zu und umklammerte es. Ihr Bündel hielt sie zwischen den Zähnen und streckte dabei die Nase so weit wie möglich in die Luft. Auf keinen Fall durfte sie untergehen, denn dann würde sie ertrinken.
Sie wurde durch die Einfahrt gespült. Erst auf der Deichstraße verlangsamte sich die Flut und Gruyère spürte wieder Boden unter den Füßen. Der Wasserstrom zog sie zu dem Gully vor Frau Fröhlichs Laden. Dabei wurde der Sog immer stärker, je mehr sie sich dem Gully näherte. Fast wäre sie hineingezogen worden, doch gerade noch rechtzeitig stemmte sie sich dagegen und ruderte mit letzten Kräften auf eine efeubewachsene Hauswand zu.
Das war die Rettung! Zitternd packte sie einen Zweig und zog sich hoch. Der Regen peitschte immer stärker auf sie hinab und prasselte auf die Blätter. Gruyères Pfoten fühlten sich taub an vor Kälte und sie war zutiefst erschöpft.
Eins war klar – sie hatte sich den denkbar ungünstigsten Abend zum Ausziehen ausgesucht.
Sehnsüchtig dachte sie an die warme, gemütliche Höhle unter der Treppe. Aber selbst wenn sie reuig zu den drei Herren hätte zurückkehren wollen – der Weg wäre ihr sicher versperrt gewesen, denn das Wasser füllte bestimmt auch das Abflussrohr. Nicht auszudenken, wenn sie dort vom Regen überrascht worden wäre!
Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und blickte in den Himmel, aus dem der Regen in Perlenketten herabfiel. Sie musste sich gedulden, denn für den Moment gab es kein Zurück. Sie musste unbedingt ein trockenes Plätzchen finden! Dort würde sie warten, bis der Sturm sich gelegt hatte.
Gruyère sah sich suchend um. Der Efeu wuchs ziemlich weit die Wand hinauf. Sie blickte nach oben und entdeckte einen Balkon. Darüber gab es einen weiteren Balkon. Das bedeutete, dass der untere Balkon vom Regen geschützt sein musste. Sie hatte einen Unterschlupf gefunden!
Erleichtert kletterte Gruyère hinauf.
Sie musste sehr vorsichtig sein,
denn sie wollte
auf den nassen Ästen
nicht ausrutschen.
Aber dann erreichte sie
den Balkon und
schwang sich hoch.
Endlich war sie im Trockenen!
Mehrere Blumentöpfe, ein rundes Tischchen und ein Stuhl standen um sie herum. Ansonsten war der Balkon leer. Zwischen den Töpfen fand Gruyère ein geschütztes Plätzchen und sank zu Boden. Der Regen rauschte herab, das Wasser tropfte aus ihrem Fell und bildete eine Pfütze auf den Fliesen. Sie zitterte vor Kälte und schloss die Augen. So hatte sie sich ihren Auszug wirklich nicht vorgestellt, dachte sie noch, bevor sie tief und fest einschlief.