„Es ist vorbei. Hände hoch!“, grölte eine tiefe Männerstimme. Sie riss Gruyère aus dem Schlaf.
Die Rattendame fuhr hoch und spähte ängstlich zur Balkontür. Dahinter war es dunkel. Wo also steckte der Mensch, der gerade gesprochen hatte?
Plötzlich kicherte eine Frau ganz in der Nähe. „Du kleiner Schlingel, du. Komm mal her. Komm zu Mami.“
Gruyère reckte den Hals und blickte in alle Richtungen. Es war noch immer niemand zu sehen. Was hatte das zu bedeuten?
Ein Handy klingelte, und diesmal bemerkte Gruyère, dass das Klingeln von oben kam. Sie schaute hinauf und sah … NICHTS!
An was für einem gruseligen Ort war sie hier gelandet?
Sie wollte gerade etwas tiefer in den Schatten schlüpfen, als ein Mixer zu brummen begann. Gruyère wusste, dass man für einen Mixer eine Steckdose brauchte, doch sie sah weder Steckdose noch Kabel. Das Ganze war ziemlich unheimlich und wurde immer unheimlicher. Gab es hier vielleicht einen Geist?
Und wenn ja, wieso benutzte der einen Mixer?
Gruyère hielt den Atem an,
sie wagte nicht, sich zu bewegen.
Auf einmal spürte sie
ein Kitzeln in der Nase.
Es wurde mächtiger
und immer mächtiger.
Oh nein!, dachte sie
und hielt sich die Nase zu.
Doch da war es schon zu spät.
„HAATSCHI!“, machte sie. „HAA-A-TSCHI!“
„Hände hoch und komm raus“, rief da die Männerstimme.
Gruyère war unter ihrem Fell erbleicht. Das war’s, dachte sie. Der Nieser hatte sie verraten.
„Du kleiner Schlingel, du. Komm mal her“, rief die Frau.
Gruyère hob die Pfoten und trat zitternd aus ihrem Versteck. Ob sie jetzt noch fliehen konnte? Sie schielte Richtung Efeu und wollte gerade hinüberwitschen, da klingelte wieder das Handy, und die weibliche Stimme kicherte nochmals: „Du kleiner Schlingel, du. Komm mal her zu Mami.“ Das Klingeln und die Stimme kamen eindeutig vom Tischchen.
Gruyère spähte nach oben. Trotz der Dunkelheit erkannte sie einen Käfig, der auf der Tischplatte stand.
In dem Käfig schien sich etwas zu bewegen. Gruyère blinzelte.
Hinter den Gitterstäben saß ein großer grauer Vogel mit einem spitzen, gebogenen Schnabel.
Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtete sie mit blitzenden Äuglein. Jetzt schnarrte er mit der Männerstimme: „Hände runter. War doch nur ein Scherz.“ Er keckerte und beugte sich neugierig vor. „Was bist du denn für ein komischer Vogel?“
„Ich bin kein Vogel. Schon gar kein komischer.“ Gruyère ließ die Pfoten sinken und sah sich suchend um. „Ist … ist … hier nicht noch jemand?“, flüsterte sie.
„Nicht dass ich wüsste“,
sagte der Vogel.
„Nur du und ich?“, fragte Gruyère.
„Klaro. Was bist du denn dann,
wenn du kein Vogel bist?“,
krächzte der Vogel.
„Ich bin eine Ratte“,
erwiderte Gruyère.
„Eine Ratte? Soso?!“ Der Vogel wirkte etwas unschlüssig. Er schien keine Ahnung zu haben, was eine Ratte ist.
„Und – und wer bist du?“,
fragte Gruyère.
Sie fühlte sich jetzt etwas mutiger.
„Ich bin Herr Robert“,
antwortete der Vogel.
„Und … wer …? Also, wenn niemand da ist, wer hat dann mit der Menschenstimme geredet?“, fragte Gruyère.
Herr Robert keckerte wieder. „Das hat dir wohl einen Riesenschreck eingejagt, was?“
Gruyère nickte. „Ja, schon.“
Herr Robert wippte vergnügt auf und ab. „Das war ich“, erklärte er stolz. „Hör mal. Wie findest du meinen …“ Er bellte plötzlich wie ein wütender Hund.
Gruyère fuhr zusammen und raste hinter die Blumentöpfe.
„War doch nur Spaß“, rief Herr Robert. „Komm wieder raus.“
Gruyère sah sich gründlich um, bevor sie aus ihrem Versteck kam. Das hatte sehr echt geklungen! Aber ein Hund war nirgends zu entdecken.
„Wie … wie machst du das?“, fragte sie.
„Hochbegabt, sagt Gerti.“ Herr Robert pickte mit dem Schnabel an seiner Stange. „Das war übrigens Waldi, der verwöhnte Köter von nebenan“, fügte er mit gespielter Bescheidenheit hinzu. „Ich kann ihn nicht ausstehen, und es macht ihn fuchsteufelswild, wenn ich ihn nachmache.“
„Das … das ist einfach unglaublich“, rief Gruyère.
„Ach, ich kann noch viel mehr!“ Wieder erklang der Mixer und gleich darauf klingelte das Handy.
Gruyère runzelte die Stirn. Sie kannte die lachenden Schreie der Möwen, das Schilpen der Spatzen – aber ein Vogel, der die Menschensprache, Hunde und Geräusche so perfekt nachmachen konnte, kam ihr wie ein Wunder vor. Dieser Herr Robert war wirklich erstaunlich!
Herr Robert, der sich darüber freute, dass er Gruyère so beeindruckt hatte, hüpfte auf den Boden des Käfigs und schob den Schnabel zwischen die Gitterstäbe.
„Wie heißt du überhaupt,
meine Kleine?“, fragte er.
„Ich heiße Gruyère“, flüsterte die Ratte.
„Soso. Gruyère?“, sagte der Vogel.
„Das ist aber ein sehr hübscher Name.
Komm doch etwas näher, Gruyère.“
Gruyère beäugte ihn unschlüssig. Der Vogel war um einiges größer als sie und hatte einen sehr gefährlich aussehenden Schnabel. Andererseits war er im Käfig eingesperrt und der wirkte sehr stabil.
Gruyère nahm ihren Mut zusammen, sprang über den Stuhl aufs Tischchen und blieb in sicherer Entfernung stehen. Es kitzelte wieder in ihrer Nase. „Haatschi“, machte sie nochmals.
„Gesundheit, meine Gute“, sagte Herr Robert. „Du scheinst dich etwas erkältet zu haben. Aber erzähl. Was bringt dich bei so einem Wetter zu mir? Normalerweise besuchen mich nur Spatzen, um mein Futter zu klauen. Echte Nervensägen. Leider.“ Er schilpte ein, zwei Mal wie ein Spatz und schüttelte sich angewidert.
Gruyère erzählte von der Höhle unter der Treppe, ihren unordentlichen Freunden und dass sie sich ein neues Zuhause suchen wollte, aber vom Regen überrascht worden war.
Herr Robert wiegte nachdenklich
den Kopf hin und her.
„Verstehe. Das klingt ja nicht sehr schön.
Aber hier kannst du leider nicht bleiben.
Meine Besitzer Günther und Gerti
würden das nicht erlauben.“
„Ich will ja gar nicht bei dir einziehen“, erwiderte die Rattendame eilig. „Ich bleibe nur, bis der Regen aufhört.“
„Gut. Einverstanden.“ Herr Robert schwieg eine Weile. „Einerseits“, fuhr er fort. „Andererseits aber auch schade. Eigentlich liebe ich ja Besuch. Bis auf die Spatzen natürlich. Erzähl mir etwas von der Welt da draußen. Warst du schon mal am Meer?“
„Ich war sogar schon öfter auf dem Meer“, erwiderte Gruyère, und dann erzählte sie von den Abenteuern, die sie mit den drei Muskeltieren erlebt hatte. Dabei wurde sie ganz wehmütig.
Währenddessen rauschte unablässig der Regen, und Herr Robert stellte immer neue Fragen, sodass Gruyère immer weitererzählte.
Herr Robert seufzte leise. „Wie gerne würde ich an all diese Orte fliegen, von denen du erzählst, und sie mit eigenen Augen sehen“, sagte er.
„Bist du denn immer in diesem Käfig eingesperrt?“, fragte Gruyère.
„Ja, meistens.“ Herr Robert raschelte mit den Flügeln. „In der Wohnung darf ich natürlich raus. Versteh mich nicht falsch – meine Besitzer sind ganz lieb zu mir und ich würde sie nie und nimmer verlassen. Ohne mich wären sie todunglücklich, glaub mir. Aber manchmal träume ich davon, die Welt da draußen kennenzulernen. Verstehst du?“
Gruyère nickte eifrig. „Allerdings. Das verstehe ich besser, als du denkst. Ich war nämlich früher Laborratte und habe auch viel Zeit in einem Käfig verbracht. Bis ich eines Tages entkam.“
„Wirklich?“ Herr Robert lehnte sich noch etwas weiter vor. „Und wie war, also, wie ist es so – auf einmal ganz allein da draußen?“ Er nickte mit dem Kopf Richtung Deichstraße.
Gruyère überlegte. „Anfangs war es etwas unheimlich in der Freiheit, aber jetzt finde ich es richtig schön. Etwas anderes kann ich mir gar nicht mehr vorstellen …“ Sie hielt inne, denn sie musste wieder an die Muskeltiere denken. Nur wegen ihrer drei Freunde war ihr Leben so schön. Aber das sprach sie nicht aus. Schließlich war sie gerade von zu Hause weggezogen.
Herr Robert blickte
sehnsüchtig in den Himmel
und brummte wie ein Flugzeug.
„Ich würde auch gerne mal
etwas Freiheit erleben“,
murmelte er.
Nichts leichter als das, wollte Gruyère sagen, doch sie schwieg lieber. Es wäre ganz einfach, die Käfigtür zu öffnen, aber sollte sie das wirklich tun? Was, wenn Herr Robert ein Raubvogel war, der gerne Ratten fraß? Er hatte schließlich einen Raubvogelschnabel. Sie schielte zu seinem Futternapf, der bis oben hin mit Körnern gefüllt war.
Herr Robert bemerkte ihren Blick. „Darf ich dir etwas anbieten, meine Gute?“
„Äh … nein danke. Ist … das da etwa dein einziges Futter?“
Herr Robert schüttelte den Kopf. „Das ist nur für den kleinen Appetit zwischendurch. Gerti gibt mir täglich frisches Obst und Gemüse. Sie weiß, dass ich das viel lieber mag.“
„Verstehe. Und was … ähm … frisst du … sonst so?“
Der Vogel machte große Augen. „Sonst so?“ Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
Gruyère setzte eine Unschuldsmiene auf. „Na ja, ich meine, magst du zum Beispiel auch … Fleisch?“
„Igitt! Nein!“ Herr Robert schüttelte sich angewidert.
„Und ähm … du tust mir also nichts, wenn ich dir die Tür aufmache?“
„Wieso sollte ich dir etwas tun?“
Der Vogel sah sie so verblüfft an, dass Gruyère all ihren Mut zusammennahm, den Riegel zurückzog und die Tür aufstieß. „Wie wäre es“, sagte sie und machte schnell ein paar Schritte zurück, „wenn du einfach mal etwas Freiheit ausprobierst?“
Herr Robert bewegte sich nicht.
Lange betrachtete er die Öffnung.
Er saß so still da,
dass die Ratte schließlich besorgt fragte:
„Alles in Ordnung?“
„Ja, schon“, schniefte Herr Robert gerührt. „Ich … ich kann es einfach nicht glauben. Ich meine, dass ich da jetzt so mir nichts, dir nichts hinausspazieren und etwas Freiheit genießen könnte, wenn ich wollte.“
Er schniefte nochmals.
Nur zu gut erinnerte Gruyère sich an den Moment, als sie aus ihrem Käfig entkommen war. Das war wahrscheinlich der aufregendste Moment ihres Lebens gewesen. „Komm“, sagte sie sanft.
Herr Robert zierte sich noch ein wenig, doch dann hüpfte er ungelenk auf den Tisch. „Du siehst ganz anders aus, ohne die Gitterstäbe“, sagte er.
„Du auch“, erwiderte Gruyère, der leicht mulmig zumute war. Herr Robert war nämlich ganz schön groß und sein Schnabel wirkte jetzt noch viel gefährlicher als mit Gitterstäben. Vielleicht sollte sie lieber das Weite suchen …
Sie deutete auf die Straße. „Der Regen hat aufgehört. Ich zieh dann mal los. Ich muss nämlich mein neues Zuhause finden, bevor es hell wird.“
„Och.“ Herr Robert wirkte enttäuscht. „Bleib doch noch ein bisschen.“
„Nein, das geht wirklich nicht.“ Gruyère sprang zu den Blumentöpfchen hinunter und holte ihr Bündel, das sie dort abgelegt hatte.
Der Vogel beobachtete sie nachdenklich und auf einmal blitzten seine Äuglein auf. „Vielleicht begleite ich dich ein Stück.“
„Mich begleiten? Ähm …“ Gruyère blinzelte nervös.
„Ich könnte dir bei deiner Suche behilflich sein“, entgegnete Herr Robert, der von seinem Vorschlag zunehmend begeistert war. „Zu zweit finden wir bestimmt ganz schnell eine Bleibe für dich, weil wir uns aufteilen könnten. Das macht die Sache einfacher.“
„Das ist sehr freundlich“, murmelte Gruyère. „Aber ich weiß nicht, ob …“
„Ach bitte.“ Herr Robert blinkerte sie ganz lieb an.
Gruyère dachte nach. Es war nicht ungefährlich, so ganz allein auf Wohnungssuche zu gehen. Herr Robert, mit seinem spitzen Schnabel, wäre sicherlich ein guter Beschützer.
Sie trippelte zum Efeu. „Also, meinetwegen. Ich klettere schon mal runter.“
Herr Robert hüpfte zum Rand des Tisches und spähte über die Brüstung.
„Da hinunter?“, fragte er.
„Genau!“ Die Rattendame nickte.
Herr Robert räusperte sich.
„Ich … müsste also dorthin …
ähm … fliegen.
Richtig?“
„Richtig“, bestätigte Gruyère. „Ein Klacks für einen Vogel.“
„Ein … echter Klacks“, wiederholte Herr Robert und schaute besorgt in die Tiefe.
„Also, bis gleich.“ Gruyère begann mit dem Abstieg.
Herr Robert blickte ihr nach, rührte sich aber nicht. Gruyère winkte ihm von unten aufmunternd zu. „Flieg!“, rief sie.
„Flieg?“, fragte Herr Robert, der plötzlich verunsichert wirkte.
„Na, du musst die Flügel ausbreiten.“ Gruyère flatterte mit den Armen. „So. Und schon bist du in der Luft.“
Herr Robert flatterte zaghaft mit den Flügeln. „So?“, fragte er. „Und schon bin ich in der Luft?“
„Noch mehr flattern!“, rief Gruyère und machte es mit ihren Pfoten vor.
Herr Robert flatterte noch heftiger mit den Flügeln und auf einmal erhob er sich.
„Ich … ich fliege“, krächzte er verblüfft. „Der Wahnsinn! Ich fliege!“ Er brummte wie ein Flugzeug. „Ich fliege!“, johlte er und schaute auf die Straße.
Gruyère verstand seine Aufregung nicht. „Natürlich“, rief sie. „Du bist ja auch ein Vogel.“
In dem Moment hörte Herr Robert auf, mit den Flügeln zu schlagen. Er segelte durch die Luft und fiel dann wie ein Stein auf die Straße. Reglos blieb er in einer Pfütze liegen.
Gruyère erschrak. Sie raste zur Pfütze. Hoffentlich war Herr Robert nicht tot. Wenn ihm etwas passiert war, würde sie sich das ein Leben lang nicht verzeihen. Schließlich hatte sie die Käfigtür geöffnet. Aber dass ein Vogel nicht fliegen konnte, damit hatte sie wirklich nicht gerechnet.
Sie gab ihm einen sanften Stups.
„Oh, mein lieber Herr Robert“, rief sie.
Doch der Vogel rührte sich nicht.
„Lieber, lieber Herr Robert!“
Gruyère war den Tränen nahe. Dieser Abend entwickelte sich zunehmend zum Albtraum. Hätte sie doch bloß ihre Höhle nicht verlassen!