Hände hoch!

Der Regen hatte endlich aufgehört. Die drei Muskeltiere legten ihre Degen an, kletterten in den Innenhof und begannen mit der Suche nach ihrer verschollenen Freundin. Sie durchstöberten jeden Winkel, aber ohne Erfolg. Zwischendurch stärkte Picandou sich am Müllsack, denn das half beim Nachdenken, wie er behauptete. Aber in Wahrheit war ihm sein Hunger im Moment ein klitzekleines bisschen dringlicher als das Schicksal von Gruyère.

Kauend stellte er fest: „Sie ist nicht hier. Sie wird sich ein Zuhause weiter weg gesucht haben.“

Das leuchtete allen ein. Es war ja schon eine ganze Weile vergangen, seit Gruyère ausgezogen war. In der Zwischenzeit konnte sie schon ziemlich weit gekommen sein. Wo also sollten sie mit der Suche anfangen?

„Am besten, wir trennen uns“, lispelte Bertram, als sie durch das Tor auf die Deichstraße traten. „Wenn jeder sich einen anderen Teil der Straße vornimmt, geht es schneller.“

Damit waren alle einverstanden und sie zogen in unterschiedliche Richtungen los.

„Gruyère!“, rief Bertram immer wieder, während er die Straße hinauflief. „Gruyère! GRUY-ERE!“

„Gruyère! GRUY-ERE!“, antwortete ihm seine Stimme. Bertram zuckte zusammen und blieb stehen. Seit wann gab es auf der Deichstraße ein Echo?

„Gruyère? Bist du da?“, rief er.

„Bist du da?“, antwortete das Echo.

Das war zu viel. Ängstlich witschte der Hamster die Straße zurück und stieß dabei mit Picandou zusammen, der ihm gerade entgegenkam.

„Was ist los?“, fragte der Mäuserich.

„Da … da … ist ein Echo“, stotterte Bertram und deutete zitternd in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Picandou schaute die Straße hinab.

„Unsinn“, sagte er. „In der Deichstraße gibt es kein Echo.“

„Das dachte ich auch“, flüsterte Bertram aufgeregt. „Aber jetzt gibt es eins. Überzeug dich doch selbst!“

Picandou lief die Straße hinunter und der Hamster folgte in sicherer Entfernung.

„Gruyère!“, rief Picandou laut.

„Gruyère!“, echote es.

Picandou blieb verblüfft stehen und sah sich um.

„Siehst du, ich hatte recht …“, begann der Hamster.

„Es ist vorbei. Hände hoch!“,
grölte plötzlich eine tiefe Männerstimme.
Die zwei Muskeltiere erschraken.
„Hände hoch!“, wiederholte die Stimme.

Bertram und Picandou erhoben die Pfoten. Mit klopfenden Herzen schielten sie zu einem roten Auto, das in der Nähe geparkt war. Von dort war die Stimme gekommen. Und jetzt bewegte sich etwas hinter dem Vorderreifen! War dort jemand versteckt? „Hände hoch!“, hatte die Stimme in der Sprache der Menschen gerufen. Den Namen Gruyère aber hatten andere Stimmen gerufen – eine, die wie die von Bertram klang, und dann eine wie die von Picandou.

Was hatte das um Himmels willen zu bedeuten?

Picandou überlegte gerade, ob sie es wohl rechtzeitig zum Innenhof schaffen könnten, als ein großer grauer Vogel hinter dem Reifen hervorwatschelte.

„Seid ihr etwa die Hilfe?“, fragte er.

„Die Hilfe?“ Picandou sah ihn verwirrt an. „Was für eine Hilfe?“

„Na ja, jemand, der mir hilft, auf meinen Balkon zu fliegen.“ Herr Robert beäugte die zwei Nager besorgt. Ihm war es – gelinde gesagt – ein Rätsel, wie er von ihnen das Fliegen lernen sollte. Sie hatten ja nicht einmal richtige Flügel – mit ihren mickrigen Ärmchen würden sie jedenfalls nicht weit kommen.

„Auf den Balkon? Ni-nicht dass ich wüsste“, lispelte Bertram, der die Sprache wiedergefunden hatte, aber misstrauisch blieb. Dieser Vogel hatte einen gemeingefährlichen Schnabel, vor dem man sich besser in Acht nahm. Und wo verbarg sich der Mensch, der gesprochen hatte? Er bückte sich und schaute gründlich unter dem Auto nach.

„Wo ist …“, begann er, doch der Vogel unterbrach ihn ungehalten: „Aber ihr habt doch nach Gruyère gerufen!“

„Du kennst sie?!“, rief Picandou. „Wo ist sie?“

Der Vogel zuckte mit den Flügeln. „Keine Ahnung. Ich dachte, sie hat euch geschickt, um mir das Fliegen beizubringen.“

„Um dir das Fliegen beizubringen?“

Das fragte Pomme de Terre, der die Szene aus der Ferne beobachtet hatte und dazugetreten war – reichlich verblüfft.

„Wieso sollen wir
dir das Fliegen beibringen?“,
rief er.
„Du bist doch ein Vogel.
Und Vögel können …“

„Eben nicht“, unterbrach ihn Herr Robert schroff. Das Thema wurde ihm immer peinlicher. „Deswegen holt Gruyère ja Hilfe.“

„Und wohin ist sie gelaufen, um Hilfe zu holen?“, rief Picandou, dem die Flugprobleme des komischen Vogels ziemlich egal waren und der nur Gruyère so schnell wie möglich finden wollte. „Nun sag schon!“

Herr Robert deutete in Richtung Kai.

„Dann sucht sie garantiert die Möwen“, rief Pomme de Terre. „Die können nämlich fliegen.“

„Möwen?“ Herrn Roberts Ausdruck hellte sich auf. „Das ergibt Sinn. Sie sprach von Freunden.“

„Na also“, rief Pomme de Terre, „… denn man tau, Leute.“

„Heh?“, machte Herr Robert verwirrt.

„Er meint, auf geht’s“, erklärte Bertram und zückte seinen Degen. Er hatte aber noch eine Frage: „Da war doch noch wer“, sagte er, besorgt auf das parkende Auto blickend.

„Nee. Ich bin allein.“

„Aber da hat doch gerade ein Mensch gesprochen.“

Herr Robert keckerte. „Das war ich“, sagte er stolz.

„Du?“, rief Bertram. „Du kannst wie ein Mensch sprechen?“

„Kann ich.“ Herr Robert deutete auf den Degen. „Warum tragt ihr Cocktailspieße? Geht’s nachher noch auf ’ne Party?“ Er keckerte wieder.

„Das ist ein Degen“, erwiderte Bertram würdevoll. „Wir sind nämlich die Muskeltiere.“

„Die Muskeltiere? Verstehe …“ Herr Robert neigte den Kopf zur Seite. Sehr ungewöhnlich, dachte er bei sich, aber irgendwie auch niedlich. „Bisschen wenig Muskeln, oder?“, rief er vergnügt. Doch weil die Muskeltiere über seinen Scherz nicht lachten, fügte er schnell hinzu: „Und ich bin Herr Robert.“

„Erfreut“, lispelte Bertram.

„Jetzt kommt schon!“
Picandou mahnte zur Eile.
Er lief los und
zog Pomme de Terre mit sich.
„Kann ich mit?“, fragte Herr Robert.
„Wenn du unbedingt willst“,
lispelte Bertram.
Er schwang seinen Degen und
folgte den Freunden.

Herr Robert flatterte und hüpfte hinterher. Aber er war viel zu langsam. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Vor lauter Aufregung klingelte er wie ein Handy.

Die Muskeltiere blieben sofort wie angewurzelt stehen.

„Was war das?“, flüsterte Picandou.

Herr Robert, der sie einholte, rief: „Hände hoch!“

Picandou wurde blass, aber Bertram wusste es besser. „Das Handy vorher warst also auch du?!“, lispelte er verblüfft.

„Jep.“ Herr Robert keckerte wieder.

„Wie … Wie machst du das?“, fragte Pomme de Terre.

„Ich bin hochbegabt, sagt Gerti.“ Und dann wiederholte Herr Robert mit Männerstimme: „Hände hoch!“

„Nicht zu fassen“, murmelte Bertram.

„Nich’ zu fassen. Einfach nich’ zu fassen“, näselte Pomme de Terre.

So viel Aufmerksamkeit beflügelte Herrn Robert. Den ganzen Weg zum Kai gab er immer wieder neue Geräusche von sich und jedes Mal blieb den Muskeltieren fast das Herz stehen. Panisch rasten sie unter das nächste Auto, wenn ein Flugzeug oder Gertis Mixer dicht hinter ihnen brummte. Mal bellte und heulte ein Hund, oder eine Frauenstimme rief: „Komm zu Mami!“

Auch wenn sie inzwischen begriffen, dass der komische Vogel dahintersteckte, erblassten die Muskeltiere ein ums andere Mal vor Schreck unter ihrem Fell.

„Kannst du bitte damit aufhören!“, rief Picandou entnervt.

„Wenn du nicht die Klappe hältst, bringen wir dich nicht zu den Möwen“, drohte Bertram.

Herr Robert wirkte gekränkt. „Gefällt es euch etwa nicht?“

„Nein“, antwortete Picandou. „Überhaupt nicht.“

„Dann eben nicht“, murrte Herr Robert und hüpfte schmollend und ohne einen weiteren Piep hinter den Muskeltieren her.

Schweigend erreichten sie den Kai
und schweigend trippelten sie
die Stufen zum Wasser hinunter.
Der Kai lag dunkel und verlassen da.
Nirgends war eine Möwe zu sehen
und eine weiße Ratte schon gar nicht.

„Ob sie wirklich hier ist?“, fragte Picandou. Das Fünkchen Hoffnung, seine Gruyère zu finden, erlosch.

Sie liefen ein Stück erst in die eine und dann in die andere Richtung.

„Gruyère!“, rief Picandou immer wieder, doch niemand antwortete. Schließlich kehrten sie zu den Stufen zurück.

„Was nun?“ Bertram war ratlos.

„Vielleicht sind die Möwen ja …“, begann Picandou.

„Sch!“, machte Pomme de Terre. „Habt ihr das gehört? Da war etwas!“

Sie spitzten die Ohren. Und dann hörten sie alle den Quietscher: „Hi-hilfe!“

„Gruyère!“, rief Picandou. „Das ist ihre Stimme!“

Er schoss auf die Brücke zu und verschwand in den Schatten, denn von dort war der Hilferuf gekommen.

Plötzlich bremste er derart scharf ab, dass Pomme de Terre und Bertram, die ihm auf den Fersen folgten, stolperten und alle drei übereinanderpurzelten. Noch bevor sie sich aufrappeln konnten, erstarrten sie: In der Dunkelheit, direkt über ihnen, glühten zwei gelbe Augen. Sprungbereit kauerte dort eine riesengroße Katze, fast so schwarz wie die Schatten. Sie machte einen Satz auf die Muskeltiere zu und schlug Picandou mit solcher Wucht über den Kopf, dass er bewusstlos zu Boden sank. Die Tatze holte ein zweites Mal aus. Der Hamster wich gerade noch rechtzeitig zurück, sodass nur seine Barthaare gestreift wurden. Entschlossen zückte er seinen Degen.

„Gruyère! Lauf!“, schrie er. „Rette dich! Schnell!“

Gruyère, die immer noch im Karton saß und Bertrams Stimme erkannt hatte, krabbelte Richtung Loch und spähte nach draußen. Sie entdeckte ihre drei Freunde und erkannte sofort, in welcher Gefahr sie schwebten.

Der Hamster stach mit dem Degen
auf die Tatze ein.
Pomme de Terre pikte mit aller Kraft
ins dichte Fell.
Das machte die Katze wütend.
Sie holte aus und
traf Pomme de Terre.
Der sank wie Picandou
ohnmächtig zu Boden.

Gruyère beobachtete das Geschehen mit wachsender Verzweiflung. Ihr Kopf war leer, und ihr Körper zitterte so stark, dass sie kaum Luft holen konnte. Gleich würde die Katze auch den Hamster erwischen. Und was dann?

In diesem Moment bemerkte Gruyère, wie sich etwas vom Kai langsam auf sie zubewegte. Ein großer grauer Vogel watschelte unter die Brücke und blieb überrascht stehen, als er die zwei leblosen Mäuse und dann die Katze erblickte, die sich zu einem weiteren Angriff bereit machte. Der Hamster hatte seinen Degen verloren und warf sich ängstlich zurück.

Gruyère schrie: „Herr Robert, hilf uns!“ Dann sprang sie aus ihrem Versteck und biss der Katze kräftig in den Schwanz.

Die Katze fuhr wütend herum. „Jetzt bist du dran! Ein schönes Abendessen habe ich da heute. Sssss!“, fauchte sie.

Herr Robert stand immer noch reglos im Schatten und beobachtete den Kampf. Es war ihm schleierhaft, wie er die Muskeltiere vor diesem großen Untier retten sollte. Er konnte ja nicht einmal fliegen.

Gruyère entwich geschickt der Tatze. Ihr Hirn arbeitete fieberhaft. Es musste doch einen Ausweg aus diesem Albtraum geben. Aber welchen? Womit konnte man dieses Vieh nur verjagen?

Auf einmal wusste sie, wie! „Waldi!“, rief sie Herrn Robert zu. „Mach den Waldi!“

Herr Robert zögerte. Hatten ihm die anderen nicht befohlen, den Schnabel zu halten?

„Waldi, bitte! Schnell!“, rief Gruyère, denn die Katze holte schon wieder zum Schlag aus.

Da fasste sich Herr Robert ein Herz
und er begann zu bellen.
Er klang wie ein sehr wütender Köter.
Dabei kam er immer mehr in Fahrt
und wurde immer lauter und schneller.

Schon klang er wie zwei, wie drei und am Ende wie zwanzig Hunde auf einmal! Das Bellen hallte unter der Brücke und es schien aus allen Richtungen zu kommen. Es war sehr beeindruckend.

Die Katze legte die Ohren an. Ihre Nackenhaare sträubten sich und ihr Schwanz puffte sich auf wie ein Staubwedel. Einen Moment schien sie noch zu überlegen, aber dann drehte sie sich um und verschwand: ein schwarzer Blitz, der durch die Dunkelheit schoss.

Gruyère eilte sofort zu ihren Freunden. „Bertram, Picandou, Pomme de Terre!“, rief sie und beugte sich über sie.

Picandou und Pomme de Terre kamen langsam wieder zu sich. An Picandous Kopf schwoll eine Beule an. Er stöhnte.

Gruyère half ihm auf die Beine und umarmte ihn. „Ich bin ja so froh, dass euch nichts passiert ist!“, rief sie.

„Ich hatte schon befürchtet, dat unser letztes Stündlein geschlagen hätte“, brummte Pomme de Terre, der sich ebenfalls den Kopf rieb.

„Ein Glück, dass Herr Robert dabei war!“, lispelte Bertram und warf dem immer noch bellenden Vogel einen dankbaren Blick zu.

Picandou, der sich mit beiden Pfoten den Kopf hielt, murmelte: „Kann jemand bitte mal den Hund abstellen?“

„Du kannst aufhören!“, rief Gruyère Herrn Robert zu. Der bellende Vogel aber war nicht zu stoppen. Er winselte und heulte jetzt wie Waldi. Es klang sehr echt.

„WasIstDennDasFürEinHöllenlärm“, rief eine vertraute Stimme. Drei Möwen kamen unter die Brücke geflattert und setzten sich auf eine der Streben. Herr Robert hörte augenblicklich auf zu heulen und sah sie erfreut an.

Die Möwen hatten die Muskeltiere erkannt und flatterten zu ihnen.

„WasIstDennHierLos?“, rief eine.

„JaWasIstDennHierLos?“, rief die zweite.

„JaWasIstDennHierBloßLos?“, rief die dritte.

„Wie wäre es mit einem schönen Müllsack“, antwortete Gruyère.

„MüllsackMüllsack!SchönerSchönerMüllsack!“, sangen die Möwen im Chor.

„Dafür müsst ihr uns nur einen winzigen Gefallen tun“, rief Pomme de Terre und zwinkerte Gruyère zu.

„KlarKlar“, antworteten die Möwen, die das schon kannten. „WohinWohin?“

„Nirgendwohin“, sagte Gruyère. „Wir brauchen ein paar Flugstunden.“

Die erste Möwe betrachtete sie zweifelnd.

„IchWillDichJaNichtBeleidigen“, krächzte sie. „AberIchWeißNichtObDasEineGuteIdeeIst.“

„DamitKommstDuNichtWeit“, rief die zweite und deutete auf Gruyères Pfoten.

„VielleichtSuchstDuDirLieberEinenAnderenSport“, rief die dritte.

„Aber nein!
Die Flugstunden sind nicht für mich“,
sagte die Rattendame.
Sie deutete auf Herrn Robert.
Der trat schüchtern aus den Schatten
und verneigte sich vor den Möwen.
„Darf ich vorstellen“, sagte Gruyère.
„Das ist Herr Robert.
Euer neuer Flugschüler.“