II

Bergung

London, Sommer 1536

»Wo ist mein oranger Mantel?«, fragt er. »Ich hatte immer einen orangen Mantel.«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagt der Junge, Christophe. Er sagt es voller Skepsis, als spräche er von einem Kometen.

»Ich habe ihn weggehängt. Bevor ich dich hergeholt habe. Als du noch jenseits des Meeres warst und in Calais einen Misthaufen mit deiner Anwesenheit gesegnet hast.«

»Sie verspotten mich.« Christophe ist beleidigt. »Dabei war ich es, der die Katze gefangen hat.«

»Hast du nicht!«, sagt Gregory. »Das war Dick Purser. Christophe hat nur die Jagdrufe ausgestoßen, und jetzt will er sich das Verdienst zuschreiben!«

Sein Neffe Richard sagt: »Sie haben den Mantel weggehängt, als der Kardinal zu Fall kam. Da waren Sie nicht mehr in der Stimmung dafür.«

»Ja, aber jetzt bin ich gut aufgelegt. Ich werde vor dem Bräutigam nicht als Trauernder erscheinen.«

»Nein?«, fragt Christophe. »Bei diesem König braucht man eine Wendejacke. Man weiß nie, ist es Sterben oder Tanzen?«

»Dein Englisch wird besser, Christophe.«

»Ihr Französisch ist wie immer.«

»Was erwartest du von einem alten Soldaten? Ich werde keine Verse mehr schreiben.«

»Aber Sie fluchen gut«, sagt Christophe ermutigend. »Besser als mein Vater, der, wie Sie wissen, ein großer Räuber und in der ganzen Provinz gefürchtet war.«

»Würde dein Vater dich heute erkennen?«, fragt Richard Cromwell. »Ich meine, wenn er dich heute sähe. Einen halben Engländer in der Livree meines Vaters?«

Christophe sacken die Mundwinkel herunter. »Wahrscheinlich haben sie ihn längst gehängt.«

»Macht dir das nichts?«

»Ich spucke auf ihn.«

»Das ist nicht nötig«, sagt er, Cromwell, tröstend. »Der Mantel, Christophe? Gehst du ihn suchen?«

Gregory sagt: »Das letzte Mal, als wir alle zusammen ausgegangen sind …«

Richard sagt: »Nicht. Sag es nicht. Denk nicht mal an die andere.«

»Ich weiß«, sagt Gregory freundlich. »Meine Lehrer haben es mir eingeschärft, von Anfang an: Sprich auf einer Hochzeit nicht von abgeschlagenen Köpfen.«

Tatsächlich hat die Hochzeit des Königs schon tags zuvor stattgefunden – eine kleine, private Zeremonie. Sie kommen heute als Abordnung, um der neuen Königin zu gratulieren. Für gewöhnlich kleidet er sich in jene düsteren, teuren Farbschattierungen, die die Italiener berettino nennen: das Graubraun des Laubes zur Zeit des Festes der heiligen Cäcilia, das Graublau im Licht des Advents. Heute jedoch ist eine Anstrengung gefordert, und Christophe hilft ihm in sein Festgewand und bestaunt es, als Nennt-Mich hereingestürmt kommt: »Ich bin doch nicht zu spät?« Er weicht einen Schritt zurück. »Sir, das wollen Sie wirklich tragen?«

»Natürlich trägt er das!« Christophe ist beleidigt. »Ihre Meinung dazu ist nicht erwünscht.«

»Es ist nur so, dass auch die Leute des Kardinals Orange-Braun getragen haben, und wenn es den König daran erinnert … Er wird möglicherweise nicht daran erinnert werden wollen …« Nennt-Mich zögert. Das Gespräch vom gestrigen Abend liegt wie ein Fleck auf seinem eigenen Aufzug, wie etwas, das sich nicht herausbürsten lässt. Jetzt sagt er kleinlaut: »Natürlich, vielleicht mag der König den Mantel ja auch.«

»Wenn nicht, kann er mir sagen, ich soll ihn ablegen. Aufgepasst, dass er das nicht in Bezug auf Ihren Kopf sagt.«

Nennt-Mich zuckt zusammen. Er ist selbst für einen Rotschopf besonders empfindlich und schrumpft ein wenig, als sie hinaus in die Sonne treten. »Nennt-Mich«, sagt Gregory, »haben Sie gesehen, wie Dick Purser in den Baum hinauf ist und die Katze gefangen hat? Vater, kann er nicht etwas zusätzlich zu seinem Lohn bekommen?«

Christophe murmelt ein paar Worte. Eines davon klingt wie Ketzer.

»Was?«, fragt er.

»Dick Purser, ein Ketzer«, sagt Christophe. »Glaubt, die Hostie ist nichts als Brot.«

»Aber das tun wir doch auch!«, sagt Gregory. »Gewiss, oder … warte …« Zweifel scheinen in seinem Gesicht auf.

»Gregory«, sagt Richard, »was wir von dir wollen, ist weniger Theologie und mehr aufrechter Gang. Stell dich auf die neuen Brüder des Königs ein – die Seymours werden heute in Hochstimmung sein. Wenn Jane dem König einen Sohn schenkt, werden sie große Männer, Ned und Tom. Wir allerdings auch.«

Denn dies ist England, ein glückliches Land, ein Land der Wunder, in dem die Steine unter den Füßen Goldklumpen sind und in den Bächen Claret fließt. Der weiße Falke der Boleyns hängt wie ein trauriger Sperling an einem Zaun, während der Phönix der Seymours aufsteigt. Edelleute von alter Art, Förster, Meister von Wolf Hall, sie sind die neue Familie des Königs und befinden sich jetzt auf einem Rang mit den Howards, den Talbots, den Percys und den Courtenays. Die Cromwells – Vater, Sohn und Neffe – gehören ebenfalls einer alten Art an. Sind wir nicht alle im Garten Eden gezeugt worden? Als Adam grub und Eva spann, / Wer war denn da der Edelmann? Wenn die Cromwells in dieser Woche ihr Haus verlassen, gehen ihnen die Gentlemen Englands aus dem Weg.

Der König trägt grünen Samt: Er ist eine saftige Wiese, mit Diamanten gesprenkelt. Er löst sich von seinem alten Freund William Fitzwilliam, mit dem er zusammensteht, nimmt den Master Sekretär beim Arm und zieht ihn in eine Fensternische. Er blinzelt im Sonnenlicht. Es ist der letzte Tag im Mai.

Die Hochzeitsnacht: Wie fragt man danach? Die neue Braut wirkt so jungfräulich, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie sich unters Bett geflüchtet und starr auf dem Rücken dagelegen hätte, die Hände zum Gebet gefaltet. Und Henry, wie ihm verschiedene Frauen erklärt haben, braucht einiges an Ermunterung.

Der König flüstert: »Solch eine Frische. Solch eine Zartheit. Solch jungfernhafte pudeur

»Ich freue mich für Ihre Majestät.« Er denkt, ja, ja: Aber hast du es vollbracht?

»Ich bin aus der Hölle in den Himmel gelangt, und das alles in einer Nacht.«

Das ist die Antwort, die er wollte.

Der König sagt: »Die ganze Sache war, wie wir alle wissen, schwierig und heikel … und Sie, Thomas, haben sowohl Schnelligkeit wie auch Bestimmtheit bewiesen.« Er lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Gentlemen – und auch Ladies, darf ich sagen – haben mich gefragt, Majestät, ist es nicht an der Zeit, dass Master Cromwell sein Dessert erhält? Sie wissen, ich habe gezögert, Sie zu befördern, einfach, weil Ihr fester Griff im Unterhaus gebraucht wird. Aber«, er lächelt, »das Oberhaus ist genauso widerspenstig und braucht einen Master. Und so sollen Sie zu den Lords.«

Er verbeugt sich. Kleine Regenbogen huschen und tanzen über das Mauerwerk.

»Die Königin ist bei ihren Frauen«, sagt Henry. »Sie fasst Mut. Ich habe sie gebeten, sich dem Hof zu zeigen. Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr ein paar freundliche Worte. Führen Sie sie heraus, wenn Sie können.«

Er dreht sich um, und da ist gleich Botschafter Chapuys. Er ist einer der Französisch sprechenden Untertanen des Kaisers, kein Spanier, sondern aus Savoyen, und obwohl er schon seit einigen Jahren in England lebt, bedient er sich nicht unserer Sprache. Er beherrscht sie nicht ausreichend, um die Art Unterhaltung zu führen, die ein Botschafter führen muss. Seine scharfen Ohren haben das Wort pudeur aufgeschnappt, und so fragt er lächelnd: »Nun, Master Sekretär, wer schämt sich da?«

»Niemand schämt sich. Es geht um Sittsamkeit. Eine angemessene Sittsamkeit vonseiten der Braut.«

»Ah. Ich dachte, Ihr König würde sich schämen. Angesichts der Geschehnisse der letzten Tage. Und wegen der Dinge, die da vor Gericht herausgekommen sind, über den Mangel an Virilität und Spannkraft bei der anderen.«

»Das hat allein George Boleyn behauptet.«

»Nun, wenn die Lady mit George ins Bett gegangen ist, wie Sie unterstellen – dem eigenen Bruder –, könnte man sich vorstellen, dass da auch Intimes ausgetauscht wurde. Und was wäre natürlicher, als sich über die Unfähigkeit des eigenen Mannes zu beschweren? Aber ich erkenne durchaus an, dass Lord Rochford seine Version nicht verteidigen kann, jetzt, wo der Kopf von seinen Schultern ist.« Der Botschafter wird von einem Leuchten in seinen Augen heimgesucht, einem Zucken der Lippen, das er aber kontrolliert. »Der königliche Bräutigam hat also ins Schwarze getroffen. Und er glaubt, dass Madame Jane bis zur letzten Nacht noch Jungfrau war? Aber natürlich kann er es nicht genau wissen. Er dachte auch, Anne Boleyn wäre noch Jungfrau gewesen, und das, glauben Sie mir, hat ganz Europa in Unglauben versetzt.«

Der Botschafter hat recht. Wenn es um Jungfernhäutchen geht, lässt sich Henry leichter etwas vormachen als ein Chorknabe.

»Ich nehme an, er wird ein, zwei Monate mit ihr zufrieden sein«, sagt Chapuys, »bis sein Auge auf eine andere Lady fällt. Dann wird sich herausstellen, dass Madame Jane nie frei war, ihn zu heiraten, weil sie schon anderweitig versprochen war. Oder?«

Eustache stochert im Nebel. Er weiß, Anne Boleyn ist geköpft worden, aber er will wissen, mit welcher Begründung ihre Ehe aufgelöst wurde. Denn aufgelöst werden musste sie. Ihr Tod reichte nicht, um Eliza aus der Thronfolge zu nehmen, dafür musste gezeigt werden, dass die Ehe keine war, von Beginn an ungültig. Und wie ist der Geistlichkeit des Königs das gelungen? Er, Thomas Cromwell, wird es nicht sagen. Er neigt nur den Kopf, schiebt sich durch das Gedränge und wechselt im Vorangehen die Sprache. Die neue Königin beherrscht nur ihre Muttersprache und nutzt selbst die nicht sehr oft. Ihr Bruder Edward dagegen spricht gut Französisch. Der jüngere Bruder, Tom Seymour – er weiß nicht, was der spricht, nur dass er nie zuhört.

Die Frauen um Jane herum sind herausgeputzt, und in der Hitze des Vormittags treibt der Lavendelgeruch wie sprudelndes Gelächter durch den Raum. Es ist schade, dass Konservierungskräuter den verwitweten Damen der alten englischen Familien nicht helfen können, die um ihre Beute herumstehen wie in Brokat gekleidete Wachposten. Die boleynschen Frauen sind nicht länger in Sicht: die arme Mary Shelton, die dachte, Henry Norris würde sie heiraten, und die wachsame Jane Rochford, Georges Witwe. Der Raum ist voller seit den Tagen Königin Katherines am Hofe nicht gesehener Gesichter: und Jane, bedauernswert blass und gewohnt stumm, eine kleine Teigfigur in ihrer Mitte. Henry hat sie großzügig mit einer Schmuckauswahl der Toten bedacht, und ihre Robe ist hastig mit Goldschmiedearbeiten, Herzen und Liebesknoten, besetzt worden. Als sie sich regt, um ihn zu begrüßen, löst sich ein Knoten. Sie bückt sich, aber eine ihrer Begleiterinnen ist schneller. Jane flüstert: »Danke, Madam, für Ihre Aufmerksamkeit.«

Sie wirkt bestürzt. Sie kann nicht glauben, dass Margaret Douglas – die Nichte des Königs, die Tochter der schottischen Königin – hier ist, um sich für sie zu bücken. Meg Douglas ist ein hübsches Mädchen, jetzt neunzehn oder zwanzig. Als sie sich wieder aufrichtet, blitzt ihr rotes Haar auf, und sie tritt zurück an ihren Platz. Sie trägt eine Haube im französischen Stil, wie die Boleyn sie mochte, der Großteil der Damen ist jedoch zur alten, kaschierenderen Art zurückgekehrt. An Megs Seite steht Mary Fitzroy, Richmonds junge Frau. Norfolk, ihr Vater, ist nicht da. Ihr Mann ist bereits wieder gegangen, wohl nachdem er seinem Vater zu seiner neuerlichen Heirat gratuliert hat. Mary ist eine sehr kleine, junge Frau, nicht mal siebzehn. Die klobige Giebelhaube lässt sie wie skalpiert aussehen, sie wirkt argwöhnisch, und ihr Blick wandert umher. Als sie ihn sieht, stößt sie Meg an, senkt den Blick und haucht: »Cromwell.«

Sofort schauen beide in eine andere Richtung, als wollten sie ihn verschwinden lassen. Annes Damen geben nicht gerne zu, wie sie ihn mit Klatsch überschüttet haben, als ihnen klar wurde, dass die Tage der Königin gezählt waren. Sie geben nicht gerne zu, wie schnell sie geredet, welche Beweise sie gegen sie angehäuft haben. Cromwell legt dich herein, sagen sie. Er legt dir Worte in den Mund. Mit seiner gewandten Art sorgt er dafür, dass du Dinge sagst, die du nicht meinst.

Bevor er die neue Königin erreicht, rauscht ihre Familie herein: ihre Mutter, Lady Margery, zwei Brüder. Edward Seymour wirkt dezent freudig, Tom Seymour ausgelassen. Er ist so opulent gekleidet, dass wohl selbst George Boleyn de trop gedacht hätte. Lady Margery sticht die alten Damen mit ihren Blicken nieder. Nicht eine von ihnen hat sich ihr Aussehen bewahrt wie sie, und ihre Töchter haben es nicht zur Königin gebracht. Sie vollführt einen tiefen, geradrückigen Hofknicks vor ihrer Tochter und kommt mit einem hörbaren Knacken der Knie wieder hoch. Der Dichter Skelton hat sie einst mit einer Primel verglichen. Aber jetzt ist sie sechzig.

Janes blasser Blick fährt über ihre Familie. Dann dreht sie den Kopf und sieht ihn an. »Master Sekretär«, sagt sie. Es entsteht eine lange Pause, während der die Königin mit ihrer Befangenheit ringt. Endlich flüstert sie: »Würden Sie mir … die Hand küssen wollen? Oder … oder sonst etwas … in der Art?«

Er findet sich auf einem Knie wieder, und seine Lippen küssen einen Smaragd, den er schon an der schmalen Hand der toten Anne geküsst hat. Mit ihrer anderen Hand, ihren dicken, kleinen Fingern, reibt Jane ihm über die Schulter: Als wollte sie sagen, oje, es ist für uns beide schwer, aber irgendwie bringen wir den Morgen schon hinter uns.

»Ihre Lady Schwester ist nicht da?«, fragt er Jane.

»Bess ist unterwegs«, sagt Lady Margery.

»Es kommt nur«, sagt Jane, »alles so plötzlich. Bess war nicht darauf vorbereitet. Sie betrauert noch ihren Mann.«

»Ich denke, sie sollte ihr Schwarz ablegen. Lassen Sie mich helfen, sie neu einzukleiden. Ich kenne die italienischen Tuchhändler.«

Lady Margery sieht ihn eindringlich an. Dann wendet sie sich um und bedenkt die alten Witwen mit einer abschätzigen Geste. Einen Moment lang erwidern die großen Ladies ihren Blick und holen wie unter Schmerzen Luft. Sie heben ihre Säume und treten ein paar Schritte zurück. Sie sehen, dass sie der direkten Familie der Braut erlauben müssen, sie zu umringen und ihr die heiklen Fragen zu stellen, die am Tag nach der Hochzeit gestellt werden müssen.

»Also, Schwester?«, fragt Tom Seymour.

»Nicht so laut«, sagt Bruder Edward. Er wirft einen Blick über die Schulter. Er, Cromwell, bildet eine undurchdringliche Grenze zwischen Familie und Hof.

»Also«, sagt die neue Königin.

»Wir wünschen nur«, sagt ihre Mutter, »ein winziges Wort der Beruhigung. Wie du dich heute Morgen fühlst.«

Jane überlegt. Lange Zeit blickt sie auf ihre Schuhe. Tom Seymour hampelt herum. Du könntest meinen, gleich kneift er seine Schwester, als wären sie immer noch Kinder. Jane holt Luft. »Ja?«, drängt Tom.

Jane flüstert: »Brüder, meine Lady Mutter … Master Cromwell … Ich kann nur sagen, dass ich mich völlig unvorbereitet für das fühle, was der König von mir verlangt.«

Die Brüder starren Lady Margery an. Das Mädchen weiß doch, wie sich ein Mann und eine Frau paaren? Und im Übrigen, sie ist kein Mädchen mehr, ist das nicht der Punkt?

»Nun«, sagt Lady Margery. »Du bist siebenundzwanzig Jahre alt, Jane. Ich meine: Euer Gnaden.«

»Ja, das bin ich«, stimmt Jane zu.

»Der König sollte Sie nicht wie eine Dreizehnjährige hätscheln müssen«, sagt ihre Mutter. »Falls er sich ungeduldig zeigt, nun, so sind die Männer.«

»Daran gewöhnst du dich«, redet Tom ihr zu. »Es hat alles seinen Preis, weißt du.«

Jane nickt unglücklich.

»Ich bin sicher, der König war nicht lieblos«, sagt Lady Margery mit fester Stimme.

»Nein, nicht lieblos«, sagt Jane. Sie hebt den Blick. »Aber die Schwierigkeit ist, dass er sehr befremdliche Dinge von mir will. Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, dass eine Ehefrau sie tun müsse.«

Sie sehen einander an. Janes Lippen bewegen sich: Als probierte sie ihre Worte aus, bevor sie es wagt, sie herauszulassen. »Aber ich nehme an … nun, ich weiß kaum … Ich nehme an, es gibt Dinge, die Männer mögen.«

Edward wirkt verzweifelt. Tom fleht: »Master Sekretär?«

Wie soll er eingreifen? Ist er für die Vorlieben des Königs verantwortlich?

Lady Margerys Gesicht ist angespannt. »Unangenehme Dinge, Jane?«

»Ich glaube, ja«, sagt die Königin. »Obwohl ich natürlich keine Erfahrung damit habe.«

Tom scheint verstört. »Mein Rat«, sagt er. »Stell dich auf ihn ein, Schwester.«

»Worauf es ankommt«, sagt Edward, »dieses … was immer sein Verlangen sein mag, was er will … trägt es dazu bei, dass du ein Kind bekommst?«

»Ich denke, nicht«, sagt Jane.

»Du musst mit ihm reden«, sagt Edward. »Cromwell, Sie müssen ihn daran erinnern, wie sich ein christlicher Mann verhält.«

Er, Cromwell, nimmt Janes Hände. Es ist gewagt, doch er sieht keine andere Möglichkeit. »Euer Gnaden, überwinden Sie Ihre Scham und sagen Sie mir, was der König von Ihnen verlangt.«

Jane entzieht ihm ihre Hände. Sie entzieht ihm ihr blasses kleines Selbst und stößt ihre Brüder zur Seite: Sie schwankt in Richtung ihres Königs, ihres Hofes, ihrer Zukunft. Flüstert, als sie geht: »Er will, dass ich hinunter nach Dover mit ihm reite und mir die Befestigungen ansehe.«

Ohne ein Lächeln geht Jane längs durch den großen Raum. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie sieht stolz aus, flüstert jemand. Wenn du nichts von ihr wüsstest, könntest du das denken. Henry streckt die Arme aus, wie man es bei einem Kind tut, das laufen lernt, und als Jane ihn erreicht, küsst er sie voll auf den Mund. Seine Lippen formen eine Frage, sie flüstert eine Antwort, er neigt den Kopf, um sie aufzufangen, sein Ausdruck beflissen und stolz. Chapuys steht in einem wirren Haufen alter Damen und ihrer Männer. Als wäre er ihr Gesandter – den sie zu Cromwell schicken. Der Botschafter löst sich von ihnen und sagt: »Sie scheint all ihren Schmuck auf einmal zu tragen, wie eine florentinische Braut. Dennoch, sie sieht durchaus gut damit aus, für eine so blasse Frau. Während die andere schlimmer aussah, je mehr sie sich herausputzte.«

»Zuletzt. Vielleicht.«

Er denkt an die Zeit, als der Kardinal noch lebte und Anne keinerlei Schmuck brauchte, nur ihre Augen. In den letzten Monaten war sie dahingeschwunden, das Gesicht verkniffen. Als sie am Tower angekommen, ihm entglitten und zu seinen Füßen auf dem Pflaster gelandet war, als er sie aufhob, da wog sie nichts. Als hielte er Luft.

»So«, sagt Chapuys. »Drängen Sie Ihren König, solange er so beschwingter Laune ist, Prinzessin Mary zu seiner Thronfolgerin zu erklären.«

»Was natürlich von seinem Sohn, von seiner neuen Frau abhängt.«

Chapuys verbeugt sich.

»Drängen Sie Ihren Master, mit dem Papst zu reden«, erklärt er dem Botschafter. »Über meinem Master schwebt eine Exkommunikationsbulle. Kein König kann so leben, in seinem eigenen Reich bedroht.«

»Ganz Europa ist darauf aus, den Bruch zu heilen. Sorgen Sie dafür, dass sich der König bußfertig Rom wieder zuwendet, und machen Sie die Gesetze rückgängig, die Ihr Land von der allumfassenden Kirche getrennt haben. Sobald das geschehen ist, wird Seine Heiligkeit ihr verlorenes Schaf gerne willkommen heißen und sich die Einkünfte aus England erstatten lassen.«

»Mit Zinsen, nehme ich an, für die verpassten Jahre.«

»Ich denke, dass da die normalen Bankenregeln zum Tragen kommen, und …«

»Noch mehr?«

»König Henry sollte seine Gesandten bei den lutherischen Fürsten zurückbeordern. Wir wissen, dass Sie in Verhandlungen sind. Wir wollen, dass Sie diese abbrechen.«

Er nickt. Alles in allem fordert Chapuys von ihm, die Arbeit von vier Jahren zu zerstören. England mit Rom zu versöhnen. Henrys erste Ehe als gültig anzuerkennen und damit die daraus hervorgegangene Tochter als Thronerbin. Die diplomatischen Beziehungen zu den deutschen Ländern abzubrechen. Dem Evangelium abzuschwören, den Papst erneut anzuerkennen und vor Götzen die Knie zu beugen.

»Was soll ich also tun«, fragt er, »in diesen wackeren neuen Tagen? Ich meine, ich persönlich? Thomas Cromwell?«

»Zurück in die Schmiede?«

»Ich glaube, die Schmiedekunst habe ich verlernt. Ich werde den Weg nehmen müssen, den ich schon als Junge gegangen bin. Das Meer überqueren und mich dem König Frankreichs als Fußsoldat anbieten. Denken Sie, er wird sich freuen, mich zu sehen?«

»Das ist eine Möglichkeit«, sagt Chapuys. »Sie könnten aber auch auf Ihrem Posten bleiben und einen großzügigen Lohn vom Kaiser entgegennehmen. Er versteht, was für Mühen es macht, Ihr Land in den status quo ante zurückzuführen.« Der Botschafter lächelt ihm zu, dreht sich auf dem Absatz um und breitet grüßend die Arme aus: »Cara-vey!«

Die üppige Fassade, die breite Brust voller Gold: Wer kann das sein, wenn nicht Sir Nicholas Carew? Der Grande korrigiert die Aussprache des Botschafters in trällerndem Ton: »Car-ew«, und wartet darauf, dass der es wiederholt.

Chapuys signalisiert Bedauern: »Das liegt jenseits meiner Fähigkeiten.«

Carew lässt es ihm durchgehen und richtet seine Aufmerksamkeit auf den Master Sekretär. »Wir sollten uns verabreden.«

»Es wäre mir eine Ehre, Sir Nicholas.«

»Wir müssen eine Eskorte aufstellen, um Prinzessin Mary zurück an den Hof zu holen. Kommen Sie in mein Haus in Beddington.«

»Kommen Sie zu mir. Ich habe viel zu tun.«

Sir Nicholas ist verärgert. »Meine Freunde erwarten …«

»Bringen Sie Ihre Freunde mit.«

Sir Nicholas wuchtet sich näher heran. »Wir haben einen Handel mit Ihnen geschlossen, Cromwell. Wir erwarten, dass Sie ihn einhalten.«

Er antwortet Carew nicht, schiebt ihn nur leicht zur Seite, damit sein Weg frei ist. Im Vorbeigehen legt er sich die Hand aufs Herz. Es sieht aus wie die Geste eines Mannes, dem plötzlich bange wird. Aber das ist es nicht, es ist etwas anderes.

Sofort sind seine Jungen bei ihm.

Richard fragt: »Was wollte Carew?«

»Dass ich den Handel einhalte.«

Es stimmt, was Wriothesley sagt, es gab einen Handel. Aus Carews Sicht: Wir helfen dir, Anne loszuwerden, und wenn du hinterher vor uns katzbuckelst und uns dienst, sehen wir davon ab, dich zu ruinieren. Master Sekretärs Sicht ist anders: Ihr helft mir, Anne loszuwerden, und … und nichts.

Richard sagt: »Wissen Sie, dass der König Carews Frau im Bett hatte? Bevor Carew sie geheiratet hat und danach?«

»Nein!«, sagt Gregory. »Bin ich alt genug, um das zu wissen? Wissen es alle? Weiß Carew, dass es alle wissen?«

Richard grinst. »Er weiß, dass wir es wissen.«

Das ist besser als Tratsch. Es ist Macht: Informationen aus der inneren Wirtschaft des Hofes, aus dem Kontor, in dem Verpflichtungen in genauen Einheiten fixiert und Münzen der Scham abgewogen werden. Richard sagt: »Mir könnte sie auch gefallen, Eliza Carew. Wenn ich nicht verheiratet wäre …«

»Außerhalb unserer Reichweite«, sagt er, Cromwell.

»Wann hat Sie das je gestoppt? Es ist erst vierzehn Tage her, dass Sie und die Frau des Earl of Worcester gemeinsam in einem Raum eingeschlossen waren.«

Beweise sammeln.

»Und sie kam lächelnd wieder heraus«, sagt Richard.

Weil ich ihre Schulden bezahlt habe.

Gregory sagt: »Und sie kriegt ein Kind. Worüber die Leute reden.«

»Gehen wir«, sagt Richard, »bevor Carve-Away zurückkommt. Wir würden ihn nur auslachen.«

Aber ihre Namen werden gerufen: Rafe kommt um die Ecke gelaufen. Er war beim König, und sein Ausdruck – wenn man ihn zerteilen könnte – ist ein Bündel aus Verehrung, Vorsicht und Unglauben. »Er verlangt nach Ihnen, Sir.«

Er nickt. »Ihr Jungs geht nach Hause.« Dann kommt ihm ein Gedanke. »Aber, Richard …«

Sein Neffe dreht sich um. Er flüstert ihm zu: »Kümmere dich um William Fitzwilliam. Sieh, ob er mir im Rat des Königs zur Seite steht. Er weiß, wie Henry denkt. Er kennt ihn besser als jeder andere.«

Es war Fitzwilliam, der im letzten März zu ihm kam, um ihm zu erklären, wie verhasst die Boleyns waren und wie dieser Hass natürliche Feinde zusammenbringen, ihnen ein gemeinsames Ziel geben konnte. Es war Fitzwilliam, der ihn auf das Bedürfnis des Königs nach Veränderung hinwies: mit der ruhigen Autorität eines Mannes, der Henry seit seiner Jugend kennt.

Richard sagt: »Ich glaube, er wird Ihrem Stern folgen.«

»Ergründe seine Hoffnungen«, sagt er. »Und fache sie an.«

»Sir …«, sagt Rafe.

Er nimmt Rafes Arm. Eine Gruppe Gentlemen wendet ihnen die Gesichter zu und verfolgt, wie sie vorbeigehen. Cromwell und Sadler, sagen sie: gehen hinein. Rafe sieht sich um, während die Gentlemen zurückbleiben, aufgestellt, als warteten sie darauf, von Hans gemalt zu werden: Seidenhosen, Seidenbärte, ihre Dolche in Scheiden aus schwarzem Samt, in purpurnen Samt gebundene Bücher in den Händen. Es sind alles Howards oder Anverwandte, einer ist der junge Halbbruder des Herzogs von Norfolk, mit gleichem Namen: Thomas Howard der Geringere. Es besteht keine Gefahr, die beiden zu verwechseln. Der Geringere ist der schlechteste Dichter am Hof. Der Größere hat nie im Leben einen Reim verfasst.

Rafe sagt: »Der König ist nicht so frohen Mutes, wie es scheint: Er ist sich dessen, was er gestern noch geglaubt hat, nicht mehr sicher. Er sagt, ist der Gerechtigkeit gedient worden? Er zweifelt nicht an Annes Schuld, sagt aber, was ist mit den Gentlemen? Sie erinnern sich, Sir, was für ein Theater es war, ihn dazu zu bekommen, die Haftbefehle zu unterschreiben? Wie wir auf ihn eingewirkt haben? Jetzt befallen ihn die Zweifel wieder. ›Harry Norris war mein Freund‹, sagte er. ›Wie ist es möglich, dass er mich mit meiner Frau betrogen hat? Und Mark – ein Lautenspieler, ein solcher Junge, ist es möglich, dass sie mit ihm gesündigt hat?‹«

Es gab eine Zeit, da lebte ein König vor den Augen seines Hofes. Er aß in der großen Halle, schiss hinter einem spärlichen Vorhang und kopulierte auch hinter einem. Heute bleiben Herrscher für sich, Bedienstete bewachen sie auf leisen Sohlen, und es ist ruhig in ihren entlegenen Gemächern. Während der Minister den privaten Räumen zustrebt, den Hut in der Hand, vollzieht er einen inneren Prozess, der ihn gefügig und unendlich geduldig macht. Für gewöhnlich ruft er den Erzbischof, wenn der Seelenfrieden des Königs gestört ist. Aber nicht in dieser Sache. Seit die ehemalige Königin angeklagt wurde, hat Cranmer selbst keinen Seelenfrieden mehr, von dem er etwas abgeben könnte.

An der Tür zu den privaten Gemächern wird er durchgewunken. Früher, das heißt vor einem Monat noch, wachten die Gentlemen des Königs hier und fingen ihn ab. Harry Norris, der herüberkam: Sie verstehen, Mr Sekretär, Seine Majestät ist im Gebet. Und wie lange wird er beten, Harry? Oh, den ganzen Morgen, kein Zweifel … Und Norris verschwand mit einem charmanten, entschuldigenden Lächeln, während hinter einer sich schließenden Tür das Kichern Francis Westons zu vernehmen war, dieses kleinen Affen.

Die Höflinge fragen, ist es ernsthaft möglich, dass sich die Königin einen grinsenden Welpen wie Weston ins Bett geholt hat?

Was kannst du tun, außer mit den Schultern zu zucken?

Der König sitzt, vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien. In der Stunde, seit er dem öffentlichen Blick entschwunden ist, ist sein frischer Glanz ergraut. Charles Brandon ist bei ihm, wie ein Wachposten steht er neben ihm.

Er erweist ihm seine Ehrerbietung: »Majestät«, und ein höfliches Murmeln, als jener sich erhebt: »Mylord Suffolk.«

Der Herzog nickt ihm vorsichtig zu. Henry fragt: »Crumb, Sie haben doch diese Geschichte über Katherines Grab gehört?«

Suffolk sagt: »Sie macht in jeder Schenke und auf jedem Markt die Runde. In genau dem Augenblick, da Annes Kopf von ihrem Leib getrennt wurde, entzündeten sich die Kerzen auf Katherines Grab, ohne menschliches Zutun.« Der Herzog ist offenbar ängstlich darauf bedacht, es richtig zu erzählen. »Sie müssen es nicht glauben, Cromwell. Ich tu’s nicht.«

Henry ist gereizt. »Natürlich nicht. Es ist nicht mehr als eine Geschichte. Wo hat sie ihren Anfang genommen, Crumb?«

»In Dover.«

»Oh.« Henry hat nicht mit einer Antwort gerechnet. »Sie ist in Peterborough begraben, was wissen sie in Dover davon?«

»Nichts, Majestät.«

Er wird so weitermachen, bis Henry Brandon hinausschickt.

»Nun denn«, sagt Brandon, »wenn sie in Dover ihren Anfang genommen hat, darf man sicher sein, dass sie aus Frankreich stammt.«

»Sie verleumden die Franzosen«, sagt Henry, »und doch nehmen Sie ihr Geld, Charles.«

Der Herzog wirkt gedemütigt. »Aber das wissen Sie doch.«

»Natürlich weiß es Seine Majestät«, sagt er. »Mylord Suffolk nimmt auch gewisse Summen vom Kaiser. Damit gleicht sich alles aus.«

»Ich kenne die Arrangements«, sagt Henry. »Gott weiß, Charles, wenn meine Berater keine Zuwendungen und Pensionen nähmen, müsste ich sie selbst bezahlen, und Crumb hier müsste das Geld dafür finden.«

»Sir«, sagt er, »was soll mit Thomas Boleyn geschehen? Ich sehe keinen Grund, ihm seinen Earl abzuerkennen.«

»Boleyn war kein reicher Mann, bevor ich ihn erhoben habe«, sagt Henry. »Aber er hat dem Staat einige Dienste erwiesen.«

»Und er ist ehrlich beschämt, Sir, wegen der Verbrechen seiner Tochter und seines Sohnes.«

Henry nickt. »Sehr gut. Aber nur, wenn er diesen dummen Titel nicht benutzt, Monseigneur. Und mir nicht nahe kommt. Er soll auf sein Land zurück, wo ich ihn nicht sehen muss. Genau wie der Herzog von Norfolk. Ich will keine Gesichter von Boleyns, Howards oder deren Verwandten mehr sehen.«

Er meint, solange es den Franzosen oder dem Kaiser nicht in den Sinn kommt, ins Land einzumarschieren – und die Schotten nicht über die Grenze kommen. Wenn ein Krieg ausbricht, sind die Howards die Leute, nach denen man schickt.

»Dann bleibt Boleyn der Earl of Wiltshire«, sagt er, »aber sein Amt als Lordsiegelbewahrer …«

»Das können Sie machen, Crumb.«

Er verbeugt sich. »Und wenn es Ihrer Majestät gefällt, bleibe ich auch weiter Ihr Sekretär.«

Stephen Gardiner war Master Sekretär, bis er, wie Mr Wriothesley hervorhebt, versetzt wurde. Er will nicht, dass Stephen sich im Kopf des Königs einnistet und dort seine ekelhaften Schmeicheleien verbreitet, in der Hoffnung, zurückgerufen zu werden. Der Weg, das zu verhindern, ist das Angebot, alle Aufgaben selbst zu übernehmen.

Aber Henry hört nicht zu. Auf dem Tisch vor ihm liegen drei kleine Bücher, in scharlachrotes Leder gebunden und mit grünen Bändern umwickelt. Daneben, geöffnet, seine Schreibschachtel aus Walnussholz, ein Überbleibsel aus Katherines Tagen. Sie ist mit ihren Initialen geschmückt und ihrem Wappensymbol, dem Granatapfel. Henry sagt: »Meine Tochter Mary hat mir einen Brief geschrieben. Ich erinnere mich nicht, ihr die Erlaubnis dazu erteilt zu haben. Sie?«

»Das würde ich mir nicht anmaßen.« Er wünschte, er hätte den Brief aus der Schachtel.

»Sie scheint Erwartungen zu hegen, mir nachzufolgen. Als glaubte sie, dass es Jane nicht schafft, mir einen Sohn zu schenken.«

»Sie wird es schaffen, Sir.«

»Das lässt sich leicht sagen, aber die andere hat ebenfalls Versprechungen gemacht, die sie nicht halten konnte. Unsere Ehe ist sauber, sagte sie: Gott wird Sie belohnen. Aber letzte Nacht habe ich geträumt …«

Ah, denkt er. Du siehst sie auch. Ana Bolena mit ihrem Blutskragen.

Henry sagt: »Habe ich richtig gehandelt?«

Richtig? Die Größe der Frage hemmt ihn wie eine Hand auf dem Arm. War ich gerecht? Nein. Umsichtig? Nein. Habe ich das Beste für mein Land getan? Ja.

»Es ist geschehen«, sagt er.

»Aber wie können Sie das sagen? Als gäbe es keine Sünde? Keine Reue?«

»Sehen Sie nach vorn, Sir. Es ist die einzige Richtung, die Gott uns erlaubt. Die Königin wird Ihnen einen Sohn schenken. Ihre Staatskasse füllt sich. Ihre Gesetze werden befolgt. Ganz Europa sieht und bewundert den Standpunkt, den Sie gegen die vermeintliche Autorität Roms eingenommen haben.«

»Europa sieht es«, sagt Henry, »aber bewundert es nicht.«

Richtig. Sie denken, England ist eine tief hängende Frucht. Erschöpftes Wild. Eine Trophäe für Fürsten und ihre Jäger. »Unsere Mauern wachsen«, sagt er. »Befestigungen. Sie werden es nicht wagen.«

»Wenn mich der Papst exkommuniziert, werden Frankreich und der Kaiser dafür gesegnet, bei uns einzufallen. Das wird er ihnen sagen.«

»Für einen Segen ziehen sie nicht in den Krieg, Sir. Denken Sie nur, wie oft sie sagen: ›Wir ziehen gegen die Türken.‹ Aber sie tun es nicht.«

»Wer England besetzt, dem werden die Sünden erlassen. Ein großer Haufen Sünden.«

»Dem sie ständig neue hinzufügen.« Er steht bei Henry. Zeit, ihn daran zu erinnern, wozu der Aderlass gut war. »Ich spreche jeden Tag mit dem Mann des Kaisers. Sie wissen, dass sein Master bereit ist für eine Allianz. Als Anne Boleyn noch war, fühlte er sich verpflichtet, mit Ihnen im Streit zu liegen. Jetzt aber haben Sie den Grund hierfür entfernt. Mit dem Kaiser an unserer Seite müssen wir keinen König François fürchten.« Wobei ich auch mit ihm spreche, denkt er: ernsthaft. »Und sollte der Kaiser uns enttäuschen, sind unter den deutschen Fürsten Freunde zu finden.«

»Ketzer«, sagt Charles Brandon. »Was noch, Crumb? Ein Pakt mit dem Teufel?«

Er ist ungeduldig. »Mylord, die deutschen Fürsten sind keine Ketzer – sie mögen unseren König, und sie geben den Menschen ihrer Territorien Halt und weigern sich, sie mit Körper und Seele Rom auszuliefern.«

Henry sagt: »Mylord Suffolk, würden Sie uns allein lassen?«

Charles ist unwillig. »Wie es Ihnen gefällt. Aber denken Sie an meine Worte und Kopf hoch, Harry. Ich habe von meiner Frau im letzten Jahr noch einen schönen Sohn bekommen, und ich bin älter als Sie.«

Er geht hinaus. Der König sieht ihm hinterher: schwermütig, als ginge der Herzog auf eine Reise. »Harry«, wiederholt er. Der Name hört sich zart an aus seinem Mund. »Suffolk vergisst sich. Aber ich werde immer ein Kind für ihn bleiben. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, dass wir beide nicht mehr jung sind.« Seine Hand stiehlt sich vor, vorsichtig, und streichelt die Bücher, ihre weichen scharlachroten Einbände. »Wissen Sie, dass Jane keine eigenen Bücher hat? Nur ein Beutelbuch mit einem Edelstein, und das ist wenig wert. Ich schenke ihr die hier.«

»Das wird ihr große Freude bereiten, Sir.«

»Es waren Katherines. Es sind fromme Bücher. Jane betet viel.« Der König ist rastlos. Er sieht aus, als wären Gebete seine größte Hoffnung. »Crumb, was, wenn mir etwas zustößt? Ich könnte morgen sterben. Ich kann mein Königreich nicht meinen Töchtern hinterlassen, die eine streitsüchtig und eine halbe Spanierin, die andere noch ein Kleinkind – und beide nicht ehelich. Abgesehen von ihnen wäre meine nächste Nachfolgerin die Tochter der schottischen Königin, aber da meine Schwester ist, wie sie ist«, er seufzt, »können wir auch nicht wirklich sicher sein, ob Meg Kind einer Ehe ist. Und ich frage Sie: Eine Frau, körperlich schwach und ohne starken Willen, vermag sie zu regieren, mit all der Verletzlichkeit ihres Geschlechts? Ganz gleich, ob sie mit Entschiedenheit gesegnet ist, einem scharfen Verstand, es kommt der Tag, da sie heiraten und einen Ausländer holen muss, um den Thron mit ihm zu teilen. Oder sie erhöht einen Untertan, aber wem kann sie trauen? Eine Herrscherin, das häuft nur Ärger an – man kann ihn abwehren, für zehn Jahre, für zwanzig, aber es wird Ärger geben. Es gibt nur eine Möglichkeit, wir werden den jungen Richmond zu meinem Erben machen müssen. Dazu meine Frage an Sie: Wie wird das Parlament es aufnehmen?«

Sehr schlecht, denkt er. »Ich glaube, es wird Ihre Majestät drängen, auf Gott zu vertrauen und alles zu tun, damit aus Ihrer Ehe ein Sohn entsteht. Bis dahin können wir eine Regelung schaffen, die es Ihrer Majestät erlaubt, einen Nachfolger nach Ihrem Belieben zu wählen. Und Sie müssen Ihre Wahl nicht öffentlich machen. Wer immer es wäre, könnte sich zu erhoben fühlen.«

Henry scheint nur halb zuzuhören, was bedeutet, dass er sehr aufmerksam ist. »Ich habe ihre Bibliothek erfassen lassen.« Die der toten Anne, meint er. »Da gibt es Aufrührerisches und vieles, was an Ketzerei grenzt. Unter den Büchern ihres Bruders ebenfalls.«

Diese schönen französischen Bände: Georges und Annes Namen nebeneinander, mit dem zobelschwarzen Löwen und dem gekrönten Falken der Rochfords, seine Spuren in dunkler Tinte, Dieses Buch gehört mir, George Rochford. Er wartet. Der König beruhigt sein Gewissen: Er versichert sich, dass die Boleyns und ihre Freunde Feinde Gottes waren. Er, Cromwell, bezweifelt, dass ihm auch nur ein Buch der beiden verwerflich erscheinen würde, oder Henry, wenn er weniger wankelmütig wäre. Der König nimmt einen der scharlachroten Bände. Er wirft einen Blick hinein, während er seine wahre Besorgnis äußert: »Das Unterhaus wird mir sagen, die Krone ist nichts, was Sie vergeben können.« Ein kurzes aufstoßendes Lachen: »Sie werden mich in meine Schranken weisen, Crumb.«

»Richtig.« Er lächelt. »Vielleicht wird man Sie sogar Harry nennen. Aber ich habe Wege, das Parlament zu umgehen, Sir.«

»Wer ist der Sprecher in dieser Periode?«

»Richard Riche.«

»Verstehe«, sagt Henry. »Schlafen Sie nachts, Crumb?«

Die Frage hat keine Haken: Der König meint nicht mehr, als er sagt. »Also«, fügt Henry hinzu, »der Lordsiegelbewahrer ist ein großes Staatsamt, und da Sie bereits mein Stellvertreter in Angelegenheiten der Kirche sind und die Bischöfe sich bald zur Synode treffen – und Sie hoffentlich der Master Sekretär bleiben –, ist das eine Arbeitslast, die noch niemand geschultert hat. Aber Sie sind wie der Kardinal, Sie leisten die Arbeit von zehn Männern. Ich frage mich oft, woher Sie kommen.«

»Aus Putney, Majestät.«

»Das weiß ich. Ich meine, ich weiß nicht, was Sie zu dem gemacht hat, was Sie sind. Das ist Gottes Geheimnis, nehme ich an«, sagt Henry und belässt es dabei.

Draußen wartet Charles Brandon auf ihn. »Sehen Sie her, Crumb, ich weiß, Sie sind wütend auf mich. Weil ich nicht niedergekniet bin, als dieser Hure der Kopf abgeschlagen wurde.«

Er hebt eine Hand, aber du kannst Charles genauso wenig stoppen wie einen heranstürmenden Bullen. »Vergessen Sie nicht, wie sie mich verfolgt hat!« Der Herzog tobt. »Sie hat mir vorgeworfen, meine eigene Tochter zu bespringen!«

Jeder einzelne Kopf in der vollen Halle dreht sich zu ihnen hin. In Gedanken geht er Charles’ Nachkommenschaft durch, in und außerhalb der Ehe geboren.

»Als wären wir in Wolf Hall!«, ruft Charles. »Nicht«, fügt er hastig hinzu, »dass ich den Schmähreden gegen den alten Sir John glaube. Es war Anne Boleyn, die sagte, er treibt es mit der eigenen Schwiegertochter. Aber das hat sie nur gesagt, um von ihrer eigenen sündhaften Beziehung mit ihrem Bruder abzulenken.«

»Möglicherweise, Mylord, aber wundern Sie sich, dass sie einen Groll gegen Sie hegte? Sie haben dem König gesagt, sie habe etwas mit Tom Wyatt.«

»Ja, das habe ich gesagt – ich gebe es zu! Könnten Sie dastehen und zusehen, wie Ihrem Freund Hörner aufgesetzt werden? Nicht, dass Henry meine Eröffnungen gefallen hätten, wie einen Hund hat er mich aus der Tür getreten. Nun, er ist der König. Er tötet den Überbringer der schlechten Nachricht.« Er senkt die Stimme. »Aber ich würde es immer wieder tun, weil ich sein Freund bin. Ich werde ihm immer sagen, was er wissen sollte, selbst wenn er mich dafür zugrunde richtet. Ich habe ihn in den Sattel gehoben, Crumb, als er noch ein grüner Junge auf dem Turnierplatz war. Ich habe ihn gestützt, als er seine erste Lanze genommen hat, um gegen einen Ritter zu reiten und nicht gegen einen Feind aus bemaltem Holz. Ich sah seine Hand im Handschuh zittern und sagte nichts, nur: ›Courage, mon brave!‹, was ich von den Franzosen gelernt habe, wissen Sie. Kein kühnerer Mann auf dem Turnier als Harry nach dem ersten oder zweiten Ritt. Ich konnte ihm helfen, denn ich war ein erfahrener Kämpfer – ich war älter, sehen Sie, und bin es noch immer.« Der Blick des Herzogs klärt sich. »Ihr kleiner Gregory, der macht sich auf dem Turnierplatz. Entwickelt sich bestens, stellt was dar, da fehlt es dem Harnisch und der Bewaffnung an nichts, sehr solide, sehr beherzt. Und Ihr Neffe Richard, das ist mal ein stabiler Kerl, vielleicht etwas derb, er ist erst spät dazugekommen, wie wir alle wissen, aber da steckt was dahinter, nein, ich sage Ihnen, er und Gregory, die sind von der Sorte ›immer vorwärts, vorwärts‹! Die zeigen keine Furcht. Das muss ihnen im Blut liegen.« Der Herzog, hoch wie ein Turm, sieht hinab. »Ihr müsst es im Blut haben, oder nicht? Ich denke, ein Mann könnte es schlechter erwischen, als als Sohn eines Schmieds geboren zu werden und nicht eines Federkiel kauenden Kontorhockers, einer halben Ente. Eisen im Blut, keine Tinte.«

Charles’ Vater ist in der Schlacht von Bosworth umgekommen, an der Seite von Henry Tudor. Einige sagen, er hat das Banner der Tudors getragen, wobei die Wahrheit über Geschehnisse auf einem Schlachtfeld schwer auszumachen ist. Fiel er unter dem Banner, hat es ein Überlebender an sich genommen. Die Tudors stiegen auf und die Brandons mit ihnen.

Er sagt: »Mein Vater war auch ein Brauer, nicht nur Schmied. Sein Ale war fürchterlich.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagt Charles aufrichtig. »Und jetzt, hören Sie, was ich Ihnen sagen will. Harry weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Erst heiratet er die Frau seines Bruders, dann eine Hexe, und jetzt fragt er sich, wie lange soll meine Strafe noch währen? Er weiß genau, was Hexen tun: Sie nehmen dir deine Manneskraft. Sie lassen dein Glied schrumpfen, und dann stirbst du. Nun, ich habe ihm gesagt, Majestät, versinken Sie nicht in Grübeleien. Holen Sie den Erzbischof, entlasten Sie Ihr Gewissen und fangen Sie noch einmal neu an. Ich will nicht, dass ihm das im Kopf bleibt, ihn verfolgt wie ein Fluch. Sagen Sie ihm, er soll nach vorne blicken, niemals zurück. Nie. Von Ihnen nimmt er das an, verstehen Sie. Wogegen von mir – er hält mich für einen Narren.« Der Herzog streckt ihm seine riesige Hand hin. »Also, Freunde?«

Verbündete, denkt er. Was wird der Herzog von Norfolk dazu sagen?

Vor seinem Tor in Austin Friars drängen sich ständig Leute, rufen seinen Namen und recken Papiere in seine Richtung. »Platz da, Platz da!« Christophe sammelt einen Armvoll Petitionen ein: »Weg da, ihr Ratten! Bedrängt den Master Sekretär nicht!«

»Oi, Cromwell!«, ruft ein Mann. »Warum halten Sie sich diesen französischen Clown, gibt es keine Engländer, die für Sie arbeiten wollen?«

Das führt zu einem allgemeinen Aufschrei: Halb London will durch dieses Tor und eine Stellung bei ihm, und sie schreien ihre Namen heraus oder die ihrer Neffen und Söhne. »Geduld, Freunde.« Seine Stimme trägt über die Menge. »Vielleicht macht mich der König zu einem großen Mann, dann könnt ihr alle kommen und euch an meinem Feuer wärmen.«

Sie lachen. Er ist längst ein großer Mann, und London weiß das. Sein Besitz ist ummauert und wird bewacht, sein Torhaus Tag und Nacht besetzt. Die Wächter grüßen ihn, er reitet in den großen Hof und geht durch eine Tür, neben der, links und rechts, zwei Öffnungen sind, durch die man eine Klinge oder auch den Lauf eines Gewehres schieben kann. Sie sind so angeordnet, dass jeder Lump gleichzeitig von beiden Seiten durchbohrt oder erschossen werden kann. Sein Chefkoch Thurston hat zu ihm gesagt: »Sir, ich bin kein Soldat, aber das scheint mir übertrieben: Wenn Sie Ihren Feind am Tor bereits getötet haben, wollen Sie ihn dann noch ein zweites Mal hinschlachten?«

»Keine Vorsichtsmaßnahme ist zu viel«, hat er darauf geantwortet. »So wie die Zeiten heute sind, kommt ein Mann als Freund durchs Tor und wechselt die Seiten, während er durch den Hof geht.«

Austin Friars war mal ein kleines Haus: zwölf Räume, als er es übernahm, für sich und seine Angestellten, für Lizzie, die Mädchen und Lizzies Mutter, Mercy Prior. Mercy ist alt geworden. Sie ist die Lady des Hauses, bleibt aber meist für sich, etwas zu lesen auf den Knien. Sie erinnert ihn an ein Bildnis der heiligen Barbara, das er einst in Antwerpen gesehen hat: die Heilige, wie sie umgeben vom Lärm einer Baustelle ein Buch liest, hinter sich ein Gerüst und rohe Ziegel. Alle beklagen sich immer über die Bauleute und darüber, wie viel Zeit sie brauchen, dass die Kosten ständig wachsen, über den Lärm und den Dreck, aber er mag ihr Hämmern und Rumpeln, ihre Lieder und ihr Gerede, ihre Kniffe und geheimen Tricks. Als Junge ist er ständig aufs Dach von irgendwem geklettert, oft ohne dass der Besitzer es wusste. Kaum sah er eine Leiter, war er schon oben, um in die Ferne zu spähen. Aber was konnte er von da oben sehen? Nur Putney.

In der Halle wartet sein Neffe Richard auf ihn. Vor dem großen Wandteppich, den der König ihm geschenkt hat, öffnet er einen Brief von der Tochter des Königs. Sie hat ihn mit eigener Hand geschrieben.

Richard sagt: »Ich nehme an, Lady Mary denkt, sie kommt nach Hause.«

Er geht in seine privaten Räume und schüttelt die Angestellten ab, die ihm, beladen mit Papierbündeln, prallen Bänden mit Gesetzestexten und Präzedenzfällen, mit Pergamenten und Rollen, folgen. »Später, Jungs …«

Die Luft in seiner Kammer duftet stark nach Wacholder und Zimt. Er zieht seinen Mantel aus. In der Düsternis des Zimmers, die Fensterläden halten den Nachmittag draußen, blitzt das Orange auf, als hielte er Feuer in den Händen. In dunkleren Tagen als diesen gab es einige trübselige Gottesmänner, die sagten, wenn Gott gewollt hätte, dass wir farbige Kleider tragen, hätte Er farbige Schafe geschaffen. Aber Er hat uns Färber geschenkt und die Materialien für ihr Handwerk. Hier in der Stadt, inmitten von Graubraun und Schiefergrau, Esels- und Mausgrau, lässt Gold die Herzen schneller schlagen. In den regengrauen Tagen, die London zu jeder Jahreszeit treffen, werden wir durch etwas Hellblau an den Himmel erinnert. So wie der Soldat aufblickt zu den leuchtenden, flatternden Bannern, genießt der Arbeiter es während seines täglichen Trotts, seine Oberen schimmern zu sehen, silbern und flammend, eisvogelfarben und herrschaftlich purpurn vor dem trüben englischen Himmel.

Richard ist ihm gefolgt. Er schließt die Tür, die Geräusche des Hauses verstummen. Er, Cromwell, legt sich eine Hand auf die Brust, die gewohnte Geste, und holt ein Messer aus einer Innentasche seiner Jacke.

»Immer noch?«, fragt Richard. »Selbst jetzt noch?«

»Vor allem jetzt.« Ohne dieses Gewicht nahe bei seinem Herzen kennt er sich kaum.

»Es auf der Straße bei sich zu haben, ja«, sagt Richard. »Aber bei Hofe, Sir? Ich kann mir die Umstände nicht vorstellen, unter denen Sie es benutzen würden.«

Das kann ich auch nicht, denkt er. Und weil ich sie mir nicht vorstellen kann, brauche ich es. Er testet die Klinge mit dem Daumen. Sein erstes Messer hat er sich als Junge selbst gemacht. Es hatte eine gute Klinge, und er vermisst sie, jeden Tag.

»Geh und hol Chapuys«, sagt er zu Richard. »Meine herzlichen Grüße, und ob ich ihn zum Abendessen einladen darf. Wenn er ablehnt, sage ihm, ich spüre ein Verlangen nach Diplomatie – sage, ich muss noch vor Sonnenuntergang einen Vertrag in Händen halten, und wenn er nicht kommt, hole ich den französischen Botschafter.«

»Recht haben Sie.« Richard geht hinaus, und er, vom orangefarbenen Mantel und seinem Messer befreit, läuft nach unten in die frische Luft eines Innenhofes und hinüber in die Küche zu Thurston.

Er kann Thurston hören, bevor er ihn sieht: Irgendein armer Küchenjunge wünscht sich gerade, er wäre nie geboren worden. »Ich hab’s dir einmal gesagt«, brüllt Thurston, »zweimal, und beim nächsten Mal, Junge, wenn du diesen Mörser wieder für Knoblauch benutzt, prügle ich dir höchstpersönlich das Hirn aus dem Schädel, zerstoße es in ebendiesem Mörser zu einer feinen Paste und gebe sie Dick Purser, dass er die Hunde damit füttert.«

Er kommt durch den Kühlraum, wo zwei Pfauen an einer Stange hängen, an den Füßen, die Kehlen aufgeschlitzt. Er biegt um eine Ecke und sieht dem gemaßregelten Jungen ins Gesicht: »Mathew? Mathew aus Wolf Hall?«

Thurston schnaubt: »Aus Wolf Hall! Aus einem Erdloch kommt der!«

Es erstaunt ihn, den Jungen hier zu sehen. »Ich habe dich hergebracht, damit du im Kontor arbeitest, nicht als Küchenhilfe.«

»Ja, Sir, das habe ich auch gesagt.« Mathew ist ein bescheidener junger Mann, der ihm jeden Morgen seine Briefe brachte, als der König im letzten Jahr bei den Seymours zu Besuch war. Er hatte ihn für zu umgänglich und gewandt befunden, um ihn auf dem Land zurückzulassen. Der Junge strahlte, als er ihn fragte, möchtest du mitkommen und die Welt sehen?

»Der Junge ist hier fehl am Platz«, sagt er zu Thurston. »Da ist ein Irrtum unterlaufen.«

»Gut. Nehmen Sie ihn. Nehmen Sie ihn mit, bevor ich ihm etwas antue.«

»Herunter damit.« Er deutet auf den fleckigen Kittel des Jungen.

»Wirklich, Sir?«

»Dein Tag ist gekommen.« Er hilft dem Jungen, sich zu befreien. Dünner kommt er zum Vorschein, in Hemd und Hose. »Wie geht es deinem Freund Rob? Hörst du von ihm?«

»Ja, Sir. Und er tut, was Sie ihm aufgetragen haben. Er hält die Augen offen, wer nach Wolf Hall kommt, und schreibt ihre Namen auf. Ich bin nicht bis zu Ihnen durchgekommen, um sie Ihnen weiterzugeben.«

»Es tut mir leid, dass du hier so behandelt worden bist. Geh über den Hof und frag nach Thomas Avery. Sage ihm, ich schicke dich, damit du dich mit den Haushaltskonten vertraut machst. Später vielleicht, wenn du dich da auskennst, gehst du für eine Weile in eine andere Familie.«

Das trifft den Jungen. »Aber mir gefällt es hier.«

»Trotz dieses Rüpels?« Er zeigt auf Thurston. »Wenn ich dich wegschicke, stehst du immer noch in meinen Diensten.«

»Würde ich einen anderen Namen annehmen?« Der Junge tut so, als würde er sich einen Mantel um die Schultern ziehen. »Ich verstehe, Sir.«

Thurston sagt: »Ich bin froh, dass das jemand tut.«

Um sie herum schleppen zwei Dutzend Jungen Körbe über den Steinboden, schärfen Schälmesser, zählen Eier, prüfen Bestände und rupfen Federvieh. Das Haus funktioniert ohne ihn, alles ist arrangiert. Hier wird die Blutwurst angerührt, der Fisch ausgenommen, auf der anderen Seite des Hofes sitzen die wachen Schreiber auf ihren Hockern, erpicht darauf, ihre Lettern zu setzen. Hier die Rechauds und Zinkblechpfannen, dort das Taschenmesser und das Siegelwachs, das Band und die seidenen Etiketten, die schwarzen Worte, die über das Pergament kriechen, die Federkiele. Er erinnert sich an den Tag in Florenz, als der Ruf ertönte: »Engländer, sie wollen dich im Kontor.« Und wie er, ohne Eile, die Schürze ablegte, an ihren Haken hängte und Kupfertöpfe, Schüsseln und die Reihe großer (groß wie siebenjährige Kinder) Krüge für Öl und Wein im Alkoven hinter sich ließ. Immer zwei Stufen auf einmal nahm er, die Treppe hinauf, und als er an der Sala vorbeikam, hörte er das Wasser vom Wandspringbrunnen in das Marmorbecken tropfen, ein leises, launenhaftes Trommeln, pittpatt … pitt … pattpitt … Der Junge, der die Stufen scheuerte, wich zur Seite. Er sang: Scaramella va alla guerra …

Er sagt zu Thurston: »Chapuys kommt zum Essen. Nur wir zwei.«

»Natürlich«, sagt Thurston. Er siebt sein Mehl und lässt kleine Wölkchen zwischen ihnen aufsteigen. »Jemand hat mir gesagt, dieser spanische Bursche, der immer zu Ihnen kommt – dass er und Ihr Master gemeinsam geplant haben, die Königin umzubringen, weil sie ihrer Freundschaft im Weg stand.«

»Chapuys ist kein Spanier. Das wissen Sie.«

Thurston schenkt ihm einen Blick, der besagt, dass es unter seiner Würde und nutzlos ist, zwischen Ausländern zu unterscheiden. »Ich weiß, dass der Kaiser der König von Spanien ist und die halbe Welt beherrscht. Kein Wunder, dass Sie mit ihm ins Bett wollen.«

»Ich muss«, sagt er. »Ich drücke ihn an meine Brust.«

»Wann kommt der König wieder mal zum Essen?«, fragt Thurston. »Wobei, ich nehme an, ihm hat’s den Appetit verschlagen. Ginge es Ihnen nicht so, wenn man Ihre Eier öffentlich vor Gericht so herabwürdigte?«

»Mir? Ich weiß es nicht. Ist mir nie passiert.«

»Ganz London hat zugehört«, sagt Thurston genussvoll. »Natürlich wissen wir nicht genau, was George gesagt hat, war schließlich auf Französisch. Aber wir denken, es war so was wie: Der König kriegt ihn nicht hoch, er kriegt ihn rein, ja, aber nicht lange genug, um eine Lady zu befriedigen.«

»Sehen Sie«, sagt er, »jetzt wünschten Sie, Sie hätten Französisch gelernt.«

»Aber das war doch der Kern, oder?«, fragt Thurston ganz ruhig. »Wenn Sie eine Lady nicht befriedigen können, kriegt sie kein Kind, und wenn doch, ist es so mickrig, dass es die Taufe nicht erlebt. Denken Sie nur an die spanische Königin. Erst hat sie die Kinder im Dutzend auf die Welt gebracht. Aber keines hat überlebt, nur die kleine Mary, und die ist etwa so groß wie eine Maus.«

Zu seinen Füßen schwimmen Aale in einem Bottich, gleiten dahin und winden sich, verflechten sich in ihren nutzlosen Anstrengungen, während sie darauf warten, getötet und angerichtet zu werden. Er fragt Thurston: »Was sagen die Leute auf der Straße? Über Anne?«

Thurston blickt finster drein. »Sie hatte nie Freunde. Nicht mal die Frauen haben sie gemocht. Sie sagen, sie hat es mit ihrem Bruder getrieben, was erklärt, warum kein Kind in ihr drin geblieben ist. Ein Kind von einem Bruder, an einem Freitag gezeugt oder von hinten reingeprellt – das ist gegen die Natur. Die wollen nicht, die armen, sündigen Kreaturen. Denn was ist der Sinn: Geboren zu werden, nur um zu sterben?«

Thurston glaubt das. Inzest ist eine Sünde, die wir alle als solche anerkennen. Aber auch der Beischlaf in einer Position, die von der von Priestern gutgeheißenen abweicht. Und auch der Freitag geht nicht, der Tag, an dem Gott gekreuzigt wurde – oder der Sonntag, Samstag oder Mittwoch. Und natürlich ist es eine Sünde, hört man auf die Kirchenmänner, während der Fastenzeit oder im Advent in eine Frau einzudringen oder am Tag eines oder einer Heiligen, und der Kalender ist voll mit ihnen. Mehr als die Hälfte des Jahres ist auf die eine oder andere Art verwünscht. Es ist ein Wunder, dass überhaupt jemand geboren wird.

»Manche Frauen sind gerne oben«, sagt Thurston. »Das ist nicht gottgefällig, oder? Man kann sich vorstellen, was für ein Kümmerling dabei herauskommen muss. Der hält sich keine Woche.«

Er redet, als wäre ein Kind ein verdorbener Kuchen, eine verblühende Blume: Hält sich keine Woche. Er und Lizzie haben einmal ein Kind verloren. Thurston hat eine Hühnerbrühe gekocht, um sie zu stärken, und für sie gebetet, während er das Gemüse kleinschnitt. Das war noch in der Fenchurch Street. Er, Cromwell, war Anwalt, der sich mit wechselnden Arbeiten über Wasser hielt, Gregory trug noch Kleidchen, seine Tochter Anne war noch nicht abgestillt, und an die kleine Grace dachten sie noch nicht einmal. Thurston war nicht mehr als ein Familienkoch, nicht der Meisterkoch, der er heute ist, mit einer ganzen Küchenbrigade unter sich. Er erinnert sich wieder, wie Lizzie in die Brühe hineinheulte, als sie vor sie hingestellt wurde, und am Ende trugen sie die Schüssel unberührt wieder hinaus.

»Wollen Sie nur dastehen und reden«, fragt Thurston, »oder töten Sie die Aale für mich?«

Er sieht in den Bottich. Als er Koch war, hat er die Aale in ihrer Wasserwelt gelassen, bis die Pfannen heiß waren. Doch da lohnt kein Streit. Er krempelt die Ärmel auf. »Häuten Sie sie auch gleich, wo Sie schon dabei sind«, sagt Thurston.

»In meinen Tagen in Italien, als Student«, sagt der Botschafter, »habe ich abends nie mehr als Brot und Oliven gegessen.«

»Es gibt nichts Gesünderes«, sagt er. »Traurigerweise erlaubt unser englisches Klima das nicht.«

»Vielleicht eine Handvoll zarter Ackerbohnen, noch in ihren Schoten, und ein kleines Glas vin santo

Es ist Gregory, der zu Ehren ihres Gastes die Leintücher und das Becken hereinbringt. Die Finger des Botschafters plätschern durch die getrockneten Lavendelzweige. »Gehen Sie in diesem Sommer jagen, Master Gregory?«

»Ich hoffe es«, sagt Gregory. Er neigt den Kopf. Der Botschafter bekreuzigt sich und spricht ein Tischgebet. Man vergisst immer wieder, dass Chapuys die geistlichen Weihen empfangen hat. Wie kommt er zurecht, was Frauen angeht? Entweder lebt er keusch oder er ist, wie sein Gastgeber, diskret.

Die Aale kommen herein, auf zwei Arten zubereitet: gesalzen, in einer Mandelsoße, und gebacken, mit dem Saft einer Orange. Dazu gibt es einen Spinatkuchen, grün wie der Sommerabend, mit Muskat und einem Spritzer Rosenwasser. Das Silber schimmert, die Servietten sind zu Tudor-Rosen gefaltet, die Damasttücher über Brot und Besteck mit silbernen Girlanden durchwirkt. »Bon appetit«, sagt er zum Botschafter. »Ich habe einen Brief bekommen.«

»Ah, ja, von der Prinzessin. Und was sagt sie?«

»Sie wissen, was sie sagt. Und jetzt hören Sie, was ich sage.« Er beugt sich vor. »Die Prinzessin, wie Sie sie nennen, Lady Mary, glaubt, ihr Vater wird sie wieder am Hof willkommen heißen. Sie glaubt, mit dem Wechsel der Ehefrau sind ihre Schwierigkeiten vorbei. Sie müssen ihr diese Illusion nehmen, oder ich werde es tun.«

Chapuys nimmt einen Bissen Aal zwischen Zeigefinger und Daumen. »Sie hat Anne Boleyn in diesen letzten Jahren die Schuld an all ihren Leiden gegeben. Sie ist überzeugt, es war die Konkubine, die sie von ihrer Mutter getrennt und aufs Land verbannt hat. Sie verehrt ihren Vater und hält ihn in allem für weise. Wie es sich für eine Tochter gehört.«

»Dann muss sie den Eid leisten. Bisher ist sie dem ausgewichen, doch jetzt sehe ich keine andere Möglichkeit mehr. Alle Untertanen müssen ihn leisten, wenn der König es fordert.«

»Lassen Sie mich aussprechen, was Sie von ihr fordern: Sie muss anerkennen, dass die Ehe ihrer Mutter ungültig war und sie, obwohl das älteste Kind des Königs, von der Thronfolge ausgeschlossen ist. Sie soll schwören, die kleine Tochter der gerade getöteten Boleyn als Nachfolgerin des Königs zu unterstützen.«

»Der Eid wird revidiert. Eliza wird ausgeschlossen.«

»Gut. Weil sie Henry Norris’ Bastard ist, wenn ich es recht verstehe. Oder ist sie vom Lautenspieler? Ausgezeichnet«, sagt er und meint den Aal. »Was hat Henry jetzt also vor? Mein Master wird den jungen Richmond an Marys statt nicht akzeptieren. Genauso wenig wie der König von Frankreich, denke ich.«

»Das Parlament wird über die Thronfolge entscheiden.«

»Nicht Henrys Laune?« Der Botschafter kichert. »Haben Sie das Henry schon gesagt?«

»Mary behauptet, sie hat nicht den Wunsch, Königin zu werden. Sie will nicht in seiner Nachfolge stehen. Aber sie kann ihren Vater als Oberhaupt der Kirche nicht akzeptieren.«

»Das ist ebenfalls eine Schwierigkeit«, gibt der Botschafter zu.

Der alte Bischof Fisher hat den Eid verweigert, worauf Henry ihn im letzten Jahr hat hinrichten lassen. Thomas More hat ihn verweigert, und auch er wurde einen Kopf kürzer gemacht. Er sagt: »Mary lebt in einer Traumwelt. Denkt sie, wir wenden uns Rom wieder zu, weil Anne Boleyn tot ist?«

Chapuys seufzt. »Es betrübt mich, Thomas, dass wir zur selben Zeit in Rom waren und einander nicht kannten. Wie zuträglich es gewesen wäre, hätten wir in jenen Tagen gemeinsam zu Abend essen können! Haben Sie je diese mit Käse und Kräutern gefüllten kleinen Ravioli probiert? Leicht wie Luft waren sie, wenn der Koch sein Handwerk verstand.« Der Botschafter schiebt die Serviette weiter über die Schultern. »Der Kaiser wünscht dem König in seiner neuen Ehe natürlich Erfolg. Es tut ihm leid, dass Ihr Master sich nicht die Zeit genommen hat, eine vom Kaiser erwählte Braut in Betracht zu ziehen. Er hätte, ohne großen Aufwand, die Herzogin von Mailand bekommen können, eine zarte, kleine, sechzehnjährige Witwe. Aber jetzt ist es, wie es ist, und wir müssen das Beste daraus machen: Der Kaiser glaubt, wenn Madame Jane einen Sohn bekommt, wird das zu Frieden und Stabilität führen. Und Henry für Sie, mon cher …«, sein Blick wandert zur Seite, »lenkbarer machen. Ganz gleich, was der Bruder der Lady über seine Impotenz gesagt haben mag, müssen wir dem König – wie sagt Boccaccio noch? – eine ›Auferstehung des Fleisches‹ wünschen.«

Ein Junge bringt das Kalbfleisch: Er selbst, Cromwell, nimmt das Tranchiermesser.

»Ich glaube …« Chapuys hält inne und lässt den Bediensteten gehen. »Ich glaube, in Deutschland herrscht allgemein Verwunderung. Ihre Ketzerfreunde wissen, dass Madame Jane Kammerfräulein von Königin Katherine war. Sie fragen sich, hat Cremuel den Verstand verloren? Warum ersetzt er die Konkubine, die genauso ketzerisch war, wie er es ist, durch eine gute Tochter Roms?« Er tupft sich den Mund ab. »Es sei denn, Cremuel hat einen Plan. Und ich sage zum Kaiser, Cremuel hat immer einen Plan, und wie es uns die letzten vierzehn Tage beweisen, haben seine Pläne Erfolg.«

»Ich bin für Annes Tod nicht verantwortlich«, sagt er. »Den hat sie selbst über sich gebracht, mit ihren Gentlemen.«

»Aber zu einem Zeitpunkt Ihrer Wahl.«

Er legt das Messer zur Seite. Der Griff schimmert, Perlmutt. »Den Zeitpunkt ihrer Zerwürfnisse konnte ich ihnen kaum vorschreiben.«

»Sie haben mir einmal gesagt, Sie wüssten nicht, wie Sie sie ausschalten könnten, aber Sie müssten es, sonst würde Anne Sie umbringen. Sie sagten, Sie wollten nach Hause und eine Vorstellung entwickeln, wie es gehen könnte. Wie es scheint, ist Ihre Vorstellungskraft größer als jede andere in England. Wobei ich zu behaupten wage, dass Henry entsetzt war über das, was bei der Untersuchung herauskam.« Chapuys wischt sich die Finger ab. »Was für ein Bild haben Sie da in die Köpfe aller Christen-Männer gepflanzt! Die Königin von England auf dem Rücken, mit hochgezogenen Röcken: ›Kommt schon, kommt alle her!‹«

»Sie werfen sich wohl nächtens im Bett hin und her, wenn Sie daran denken.«

»Henry Norris, der gute Freund des Königs. Francis Weston, ein eitler Junge, der vorbeikam, als sie zufällig gerade nackt war. Dieses Raubein aus dem Norden, Will Brereton. Smeaton, der junge Kerl … Sie war nicht mal zu stolz, es mit dem armen Kind zu treiben, das zum Lautenspiel engagiert war. Aber warum auch? Ihr gefiel es ja sogar mit dem eigenen Bruder.« Chapuys legt seine Serviette zur Seite. »Ich kann mir schon denken, wie es war – Henry war sie leid und wollte seine kleine Jane, und er sagte: ›Cremuel, finden Sie einen Grund, sie loszuwerden.‹ Auf das, was Sie dann herausgebracht haben, kann er jedoch nicht vorbereitet gewesen sein. Vielleicht vergibt er es Ihnen nicht, mon cher, dass Sie ihn öffentlich lächerlich gemacht haben.«

»Im Gegenteil. Er hat mich gerade befördert.«

»Trotzdem, es muss ihm zu schaffen machen. Vielleicht kommt er später darauf zurück. Im Moment jedoch … sollte ich Ihnen gratulieren. Sie werden ein Mylord. Baron Cromwell von …«

»Wimbledon.«

»Nein«, sagt Chapuys. »Suchen Sie sich einen anderen Ort aus. Einen, den ich aussprechen kann.«

»Und ich werde Lordsiegelbewahrer.«

»Ah. Ist das mehr?«

»Es ist alles, was ich mir wünschen könnte.«

Der Botschafter nimmt einen Streifen Kalbfleisch. »Wissen Sie, das ist sehr gut.«

»Ich warne Sie«, sagt er. »Wenn Mary ihren Vater wütend macht, fällt es auf Sie zurück.«

»Wenn Ihr Koch je eine neue Stelle sucht, schicken Sie ihn zu mir.« Chapuys nimmt die Vorlegegabel und bewundert die Zinken. »Wir wissen, dass die Prinzessin keinen Eid leisten wird, mit dem sie ihren Vater als Kirchenoberhaupt anerkennt. Sie kann nicht auf etwas schwören, was sie als Unmöglichkeit betrachtet. Vielleicht lässt Henry sie, statt sie zu verfolgen, in ein Kloster eintreten? Dann könnte man sie nicht mehr verdächtigen, den Thron zu wollen. Es wäre eine ehrenvolle Abwendung von der Welt. Sie könnte in eines der großen Häuser gehen und mit der Zeit zur Äbtissin aufsteigen.«

»Ja. Shaftesbury vielleicht? Wilton?« Er stellt sein Glas ab. »Oh, verschonen Sie mich, Botschafter! Sie wird genauso wenig in ein Kloster eintreten wie Sie. Wenn sie so darauf aus ist, die Welt und alles in ihr aufzugeben, warum leistet sie dann nicht den Eid und bringt es hinter sich? Niemand wird sie dann mehr behelligen.«

»Mary mag einwilligen, ihre Ansprüche auf die Zukunft aufzugeben, aber nicht die auf die Vergangenheit. Sie wird niemals daran glauben, dass ihre Mutter und ihr Vater nicht verheiratet waren. Sie akzeptiert nicht, dass ihre Mutter eine Hure genannt wird.«

»Niemand hat sie eine Hure genannt. Sie war die Prinzessinwitwe. Und Henry hat sie in Ehren gehalten, unter einigem Aufwand, wie Sie gut wissen.«

»Hören Sie, Katherine ist tot.« Der Botschafter wird leidenschaftlich. »Lassen Sie sie in Frieden ruhen, ja?«

Aber sie ruht nicht. Katherine zieht und zerrt an ihrer Tochter. Bei Nacht geht sie um, ihren hageren, uralten Berater Bischof Fisher an ihrer Seite, in den Händen ein Pergament, mit dem sie auf ihr Recht pocht. Als die Nachricht von ihrem Tod kam, haben sie bei Hofe getanzt. Aber am Tag, als sie beerdigt wurde, hatte Anne eine Fehlgeburt. Die Leiche war vom Totenbett aufgestanden und hatte an ihrem Ersatz gerüttelt, dass Anne die Zähne klapperten, hatte sie geschüttelt, bis sich der Sohn des Königs aus ihr löste.

»Botschafter«, er legt die Fingerspitzen gegeneinander, »lassen Sie mich Ihnen versichern, Henry liebt seine Tochter. Aber er erwartet Gehorsam, als Vater und König.«

»Mary gibt dem himmlischen Vater den Vorrang.«

»Was, wenn sie stürbe, mit der Sünde des Ungehorsams auf ihrer Seele?«

»Sie sind ein Rohling, Cremuel«, sagt Chapuys. »Sie können nicht anders. Drohen, wo Sie beschwichtigen sollten. Henry wird seine Tochter nicht umbringen.«

»Wer weiß, was Henry tun wird? Ich nicht.«

»Genau das sage ich dem Kaiser. Henrys Untertanen leben in Angst. Ich mahne meinen Master: Es ist Ihre christliche Pflicht, England zu befreien. Selbst der Thronräuber Richard, der Skorpion, wurde nicht so verabscheut wie der gegenwärtige König.«

»Ich rate Ihnen von diesem Ausdruck ab, ›der gegenwärtige König‹. Er kommt einem Hochverrat gleich. Wer immer ihn benutzt, muss einen anderen König im Kopf haben.«

»Hochverrat ist nur für die ein Verbrechen, die ihm Loyalität schulden. Ich schulde Henry gar nichts, außer vielleicht ein formelles Danke für seine Gastfreundschaft – die er nur der Form halber gewährt und die«, der Botschafter verbeugt sich, »an Ihre in keiner Weise heranreicht. Ganz Europa weiß, wie unsicher sein Zugriff auf die Zukunft ist. Erst im letzten Januar …«

Leg die Gabel weg, denkt er. Hör auf, mich zu erstechen. Die Erinnerung ist sofort da: ein Tag betäubender Kälte und Verwirrung, und wie er von seinem Schreibtisch weggeholt wurde, um Zeuge einer Katastrophe zu werden. Das Pferd des Königs war auf dem Turnierplatz gestürzt. Henry bekam einen Schlag gegen den Kopf und wurde in ein Zelt getragen. Er schien tot. Wir dachten, er wäre tot, so wie er einer blutlosen Puppe gleich dalag. Kein Atem. Kein Puls. Er, Cromwell, denkt daran, wie er Henry die Hand auf die Brust gelegt hat, um irgendeinen schwachen Rest Leben in ihm zu spüren – aber was die dabei Anwesenden ihm später sagten, war, dass er Gott angerufen und mit genug Kraft auf den König eingeschlagen habe, um ihm die Rippen zu brechen. Was hatte er zu verlieren? Zitternd, keuchend, würgend setzte sich der König auf, zurück unter den Lebenden. »Cromwell?«, fragte er. »Ich dachte, ich würde Engel sehen.«

»Gut, gut«, sagt Chapuys. »Wir erwähnen seinen Unfall nicht weiter, wenn es Ihnen den Appetit verdirbt. Aber wir müssen anerkennen, dass es Männer in England gibt, vom besten Blut Ihrer Nation, die treue Söhne Roms bleiben.«

»Tun sie das?«, fragt er. »Wie kann das sein? Sie alle haben ihren Eid auf Henry geschworen: Die Courtenays, die Poles, sie haben ihn nicht nur als ihren König anerkannt, dem sie verpflichtet sind, sondern auch als Oberhaupt der Kirche.«

»Natürlich«, sagt Chapuys, »was sonst konnten sie tun? Was für eine Alternative haben Sie ihnen gelassen?«

»Sie denken, Eide bedeuten ihnen nichts. Vielleicht. Sie erwarten, dass sie ihr Wort brechen.«

»Ganz und gar nicht«, sagt der Botschafter besänftigend. »Ich bin sicher, dass sie sich nicht gegen ihren gesalbten König wenden würden. Ich fürchte nur, dass ein abtrünniger Anhänger, entflammt durch das ihm widerfahrene Unrecht, dem König einen Todesstoß versetzen könnte. Ein Dolchstoß, es ist leicht getan. Und vielleicht braucht es nicht einmal eine menschliche Hand. Da ist die Pest, die innerhalb eines Tages den Tod bringt. Das Schweißfieber, das dazu nur eine Stunde braucht. Sie wissen das, und wenn ich es den Leuten in Paul’s Cross laut zuriefe, könnten Sie mich nicht dafür hängen.«

»Nein.« Er lächelt. »Aber Botschafter sind schon auf der Straße ermordet worden. Ich sage das nur.«

Der Botschafter neigt den Kopf. Er stochert in seinem Salat. Ein süßes Blatt, etwas bittere Endivie. Der Junge, Mathew, kommt mit Obst.

»Ich fürchte, wir haben ein weiteres Mal keinen Erfolg mit unseren Aprikosen gehabt«, sagt er. »Es scheint Jahre her, dass ich welche gegessen habe. Vielleicht bringt Bischof Gardiner ja welche mit, wenn er herüberkommt.«

Chapuys lacht. »Ich glaube, die würden mit Säure getränkt sein. Sie wissen, dass er den französischen Höflingen versichert, Henry werde Ihr Land Rom wieder zuführen?«

Er wusste es nicht, hat es aber angenommen. »Mangels Aprikosen kann ich konservierte Pfirsiche anbieten.«

Chapuys goutiert das. »Sie konservieren sie auf die venezianische Art.« Er kostet einen Löffel voll und sieht auf, verschlagen. »Was passiert mit Guiett?«

»Was? Oh, Wyatt. Er ist im Tower.«

»Ich weiß gut, wo er ist. Da haben Sie ihn unter Beobachtung, während er seine unergründlichen Verse und Rätsel verfasst. Warum schützen Sie ihn? Er sollte tot sein.«

»Sein Vater war ein Freund meines alten Masters, des Kardinals.«

»Und er hat Sie gebeten, die Vergehen seines Sohnes zu decken?« Chapuys lacht.

»Ich habe ihm mein Wort gegeben«, sagt er steif.

»Und Ihr Wort ist Ihnen heilig. Warum? Wo Ihnen sonst doch nichts heilig ist? Ich verstehe Sie nicht, Cremuel. Sie haben keine Angst, wenn Sie Angst haben sollten. Sie benehmen sich wie jemand, der die Würfel gezinkt hat.«

»Die Würfel gezinkt?«, sagt er. »Tun die Leute so was?«

»Sie spielen mit den mächtigsten Männern des Landes.«

»Was, Leuten wie Carve-Away?«

»Sie wissen, dass Sie allein nicht bestehen können. Wenn die neue Ehe nicht hält, was bleibt Ihnen dann? Sie haben Henrys Gunst. Aber wenn er sie Ihnen entzieht? Sie kennen das Schicksal des Kardinals. All seine Würden als Mann der Kirche konnten ihn nicht retten. Wäre er nicht schon auf dem Weg nach London gestorben, hätte ihm Henry den Kopf abgeschlagen, mitsamt Kardinalshut und allem. Und Sie haben niemanden, der Sie schützt. Sie haben bestimmte Freunde, zweifellos. Die Seymours sind Ihnen dankbar. Das Ratsmitglied Fitzwilliam ist bei Ihren letzten Unternehmungen als Vermittler aufgetreten und hat geholfen, die Konkubine loszuwerden. Aber Sie verfügen über keine eigene Verwandtschaft, haben keine große Familie im Rücken. Am Ende des Tages sind Sie nicht mehr als der Sohn eines Schmieds. Ihr ganzes Leben hängt von Henrys nächstem Herzschlag ab, Ihre Zukunft von seinem Lächeln oder seiner gefurchten Stirn.«

Im Januar, als ich dachte, der König sei tot, denkt er. Alle schrien und ich bin aufgesprungen und habe gesagt: »Ich komme, sofort.« Aber bevor ich hinausging, habe ich Sand auf das Papier gegeben, die Tinte getrocknet und den türkischen Dolch mit dem Sonnenblumengriff vom Tisch genommen, der dort zur Zierde lag. Damit hatte ich ein Messer im Mantel und noch eines zusätzlich, dann bin ich zu Henry und habe ihn von den Toten erweckt.

»Ich erinnere mich an die kleinen Ravioli«, sagt er. »Bei den Frescobaldi haben wir sie, wenn die Fastenzeit vorüber war, mit Schweinehack gefüllt. Sie mochten sie mit etwas Zucker.«

»Typische Bankiers«, sagt Chapuys und schnaubt. »Mehr Geld als Verstand.«

Wriothesley segelt nach Austin Friars herein, als sie vom Abendgebet kommen.

Richard sagt: »Nennt-Mich ist hier, aber Sie hatten heute schon genug um die Ohren – soll ich ihn wegschicken?«

»Nein. Ich will, dass er Mary besucht und mit ihr spricht.«

»So sehr vertrauen Sie ihm?«

»Ich schicke Rafe mit, falls der König ihn entbehren kann. Mary ist empfindlich, was ihre Stellung angeht, und sie könnte denken, Rafe ist zu sehr …«

»Mit uns verbunden«, sagt Richard.

Mr Wriothesley dagegen entstammt einer Heroldsfamilie. Herolde haben ihren ganz eigenen Status und sind darauf aus, anderen das ihnen Zustehende zu gewähren, nicht mehr. Nennt-Mich kommt mit Pergamenten in der Hand herein: »Ab wann sollen wir Sie mit Lord Cromwell anreden, Sir?«

»Sobald Sie mögen.«

»Ich frage mich … Jetzt, wo Sie in den Adelsstand erhoben wurden, wollen Sie da nicht noch einmal auf Ihren Stammbaum sehen?« Er entrollt seine farbigen Bögen. »Hier sehen wir das Wappen von Lord Ralph Cromwell von Tattershall Castle, dem Lord Schatzmeister des großen Harry, der Frankreich erobert hat.«

Das hatten wir schon. »Ich bedeute Lord Ralphs Leuten nichts, genauso wenig wie sie mir. Sie wissen, wer mein Vater war und woher ich komme. Wenn nicht, fragen Sie Stephen Gardiner. Er hat einen Mann nach Putney geschickt, um meine Geheimnisse auszugraben.«

Nennt-Mich würde zu gerne fragen, und hatte er Erfolg? Aber er bleibt bei der Sache: »Sie sollten sich das noch einmal überlegen. Der König würde sich wohler mit Ihnen fühlen.«

Richard sagt: »Er könnte sich kaum wohler fühlen als im Moment.«

»Aber mit einem alten Namen würden Sie mehr geschätzt werden. Nicht nur von Ihren Peers, sondern auch vom gemeinen Volk und an ausländischen Höfen. Sie schätzen Sie gering im Ausland – sie sagen, Henry hat Sie abgesetzt und zwei Bischöfen die Geschäfte übergeben.«

»Ich würde wetten, einer von ihnen ist Bischof Stephen.« Er bewundert die spekulativen Welten, die in den Rissen zwischen den Wahrheiten gedeihen. »Was sagt man sonst noch?«

»Dass die Liebhaber der Konkubine gevierteilt wurden und sie dabei zusehen musste, bevor sie verbrannt wurde. Sie halten uns für Barbaren, wie sie selbst welche sind. Sie sagen, Annes ganze Familie sitzt im Kerker. Ich sehe schon, dass ihr Vater Schwierigkeiten haben wird, den Leuten zu erklären, dass er nicht tot ist. Ich nehme an, Sie haben ihn geschont, weil …« Nennt-Mich zögert. »Ich nehme an, er ist Ihren Wünschen gefolgt und Sie wollen den Leuten zeigen, dass sie belohnt werden, wenn sie das tun.«

Wenn du es eine Belohnung nennst, das Leben, das Thomas Boleyn fortan führen wird. Er sagt: »Ich glaube, wir sollten wirtschaftlich handeln. Der Henker muss bezahlt werden, Wriothesley. Denken Sie, er betreibt sein Gewerbe gratis

Nennt-Mich schluckt, blinzelt und holt Luft. Voller Ernst bleibt er bei seiner Aufgabe. »Sie sagen, Lady Mary ist bereits wieder am Hof und trägt den Schmuck der toten Königin. Und dass der König vorhat, sie mit dem Sohn des französischen Königs zu verheiraten, dem Herzog von Angoulême, und dass der Prinz kommen und in England leben wird, um auf den Thron vorbereitet zu werden.«

»Ich höre, sie steht der Ehe ablehnend gegenüber.«

»Haben Sie das in Umlauf gebracht?«

»Man muss die französischen Hoffnungen am Leben erhalten.«

Nennt-Mich ist nicht sicher, ob er gefoppt wird. Er, Lord Cromwell, betrachtet das Wappen des anderen Lords Cromwell. »Da ziehe ich die kornischen Krähen vor, die ich vom Kardinal habe. Irgendetwas heute aus Calais?«

Die Gehässigkeiten und Fehden der führenden Familien in Calais gedeihen auf beschränktem Raum, von Stadtmauern umschlossen. Diese Mauern, Englands Schutz, bröckeln und sind finanziell ein Fass ohne Boden, von Gerüchten durchsiebt und Intrigen untergraben. Calais ist eine Art Fegefeuer, man wartet und wartet, von Schmerzen gequält, nicht auf Vergebung, sondern auf einen günstigen Wind. Und was sie in der Zitadelle reden, wird übers Meer getragen, zischend, fauchend, von den Wellen verstärkt, und findet die Aufmerksamkeit des Königs in Whitehall. Calais ist unser letzter Brückenkopf auf dem Festland, unser letztes Territorium dort. Es sollte vom tüchtigsten, standfestesten Mann des Königs regiert werden, aber es ist Lord Lisle, der es tut. Lisle ist der Onkel des Königs, einer der unehelichen Sprösslinge des alten Königs Edward, und Henry mag ihn sehr, war er ihm in seiner Kinderzeit doch ein angenehmer Spielkamerad. Nun versucht er aus den jüngsten Vorkommnissen einen Vorteil zu gewinnen. Darauf bedacht, dem König stets im Bewusstsein zu bleiben, setzte Lisle Harry Norris ein, den er in der Tasche hatte und der immer dann seinen Namen ins Spiel brachte, wenn es um Pfründe und Beförderungen ging. Das ist vorbei, jetzt, wo Norris die Würmer fressen. »Es ist Lisles Frau, die den Ärger macht. Sie ist eine Giftspritze und, wie ich höre, auch eine Papistin«, sagt Nennt-Mich. »Sie wissen, dass sie Töchter aus erster Ehe hat, Sir? Sie hat immer versucht, eine von ihnen bei Anne unterzubringen. Jetzt wird sie es bei der neuen Königin versuchen.«

»Ich glaube, Jane ist versorgt«, sagt er. »Nennt-Mich, ich möchte, dass Sie und Rafe nach Hunsdon reiten und Mary zur Vernunft bringen. Aber seien Sie sanft mit ihr. Es geht ihr nicht gut.«

Marys Brief steckt in seiner Tasche. Selbst im eigenen Haus traut er sich nicht, ihn irgendwo liegen zu lassen. Mary schreibt, sie hat einen Katarrh im Kopf. Sie kann nicht schlafen. Ihre Zähne schmerzen. Es würde ihr guttun, ihren Vater zu sehen. Falsche Freunde halten sie getrennt. Wenn die falschen Freunde beiseitegeschoben oder vom Schwert der Gerechtigkeit getroffen werden, wenn die falschen Berater in die Themse gedrängt werden, wird ihr Vater, der König, sich ihr wieder zuwenden, sagt sie, wie Schuppen wird es ihm von den Augen fallen und er wird sehen, wer sie ist, seine wahre Nachfolgerin und Tochter.

Aber erst muss der König nach ihr schicken. Sie ins Licht seiner Gegenwart holen. Bis dahin ist sie die Jungfrau in der Laube, sitzt in einem abgeschlossenen Garten und wartet darauf, gefunden zu werden. Verzaubert, in einem Dornendickicht, wartet sie auf jemanden mit der Hingabe, sich zu ihr durchzuhacken.

»Fahren Sie selbst, Sir«, sagt Wriothesley.

Er schüttelt den Kopf.

»Sie wollen wohl nicht der Überbringer der schlechten Nachricht sein.«

»Sie liebt ihren Vater«, sagt er. »Sie kann es nicht glauben – nun, sie muss dazu gebracht werden. Er wird keinen Trotz hinnehmen. Nicht von einem Kind, dem er das Leben geschenkt hat.«

Die Sonne geht unter, ein letzter Strahl Wärme wandert über die Bücher auf seinem Tisch: die Dekretale Papst Gregors, ein heftig kommentiertes Exemplar, mit dem Monogramm TC versehen – Thomas Cardinalis. Im wechselnden, wie im Wasser verschatteten Zwielicht kann er Marys Gestalt sehen: in sich selbst gekehrt, das Gesicht blass und bestimmt. Die schleichende Bewegung des Lichts, die sie vor seinen Augen aufscheinen lässt, einen lebenden Geist, bannt ihn. Sie sieht ihn nicht an, er sieht sie an. »Sie müssen ihr sagen, Wriothesley: ›Gehorsam, Madam, ist die Tugend, die Sie retten wird. Gehorsam ist keine Unterwürfigkeit, weder Ihrer selbst noch Ihres Gewissens. Nein, es ist Anstand und Wahrhaftigkeit.‹«

»Nun«, sagt Nennt-Mich, »ja … wenn Sie denken, ich sollte zu ihr sprechen, wie Sie es vorm Unterhaus tun. Ich könnte andeuten, nehme ich an, dass mit dem Gehorsam eine Minderung der Verantwortung einhergeht.«

»Das könnte sie beruhigen. Aber, Nennt-Mich, reden Sie nicht mit ihr, als wäre sie ein kleines Mädchen. Und versuchen Sie nicht, ihr Angst zu machen. Sie ist mutig wie ihre Mutter und wird um sich schlagen, und sie ist auch eigensinnig wie sie. Wenn Sie wütend werden, treten Sie zurück und lassen Sie Rafe zu Wort kommen. Sprechen Sie ihre weibliche Seite an. Die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Sagen Sie ihr, wie sehr es den König schmerzt«, er legt sich eine Hand aufs Herz, »sagen Sie ihr, es tut ihm weh, hier, wenn sie die Toten den Lebenden vorzieht.«

Die Umrisse von Master Wriothesley verwischen: Er verschwindet im Nichtunterscheidbaren, als leckte die Nacht an ihm. Er, Cromwell, möchte, dass die Prinzessin verweilt, wo sie ist, bis sie in der Hitze seines Willens zerschmilzt, bis sie sich in Fügung auflöst – was sie tun wird, wenn er nur die richtigen Sätze findet, um sie zum Umdenken zu bewegen.

»Sir«, sagt Wriothesley, »ich glaube, Sie wissen etwas, was sonst niemand weiß.«

»Ich? Ich weiß gar nichts. Niemand sagt mir etwas.«

»Hat es mit Wyatt zu tun?«

Rafe hat ihm erzählt, dass Verse gegen Wyatt geschrieben werden, verschlüsselte Anklagen und bittere Scherze, die unter den Höflingen kursieren, direkt unter den Augen des Königs. Ein Zettel wird in ein Gebetbuch gesteckt, in einen Handschuh oder statt des Pik-Königs ausgespielt. »Sie haben alle Angst«, sagt Nennt-Mich. »Sie sehen über die eigene Schulter und wissen nicht, ob es noch mehr Anklagen geben wird. Ich war tief im Gespräch mit Francis Bryan, und als Wyatts Name fiel, verlor er den Faden und sah mich an, als würde er mich nicht kennen.«

»Francis?« Er lacht. »Er war wahrscheinlich betrunken.«

»Die Frauen haben ebenfalls Angst, wie mir scheint. Als ich Jane, der Königin, eine Nachricht brachte, gab es Blicke – Geflüster und Gescharre und Zeichen, die sie sich machten …«

»Mein armer Junge! Sie kommen herein, und die Frauen machen sich Zeichen? Hat es das schon mal gegeben? Sagen Sie mir, was für Zeichen, und ich werde versuchen, sie zu interpretieren.«

Nennt-Mich wird rot. »Sir, das ist kein Witz. Die Königin – ich meine, die andere – hat für ihre üblen Taten bezahlt, doch da ist mehr. Da gibt es noch etwas anderes. Sie gehen in einen Raum, Sie hören eine Tür zuschlagen und haben das Gefühl, dass jemand vor Ihnen wegläuft. Aber gleichzeitig spüren Sie, dass Sie jemand beobachtet.«

Jemand tut das, denkt er.

»Alle glauben«, sagt Nennt-Mich, »dass es Wyatts Aussage war, die Anne den Kopf gekostet hat. Aber sie wissen nicht, warum er sie gemacht hat, weil sie ihn für mutig und unbekümmert halten und …«

»Einfältig?«

»Das nicht, aber er ist sehr beherzt, und sie denken, was hat Anne ihm getan, um aus dem Honig Galle werden zu lassen? Sie hatten sich vorgestellt, er würde mit ihr in einem Grab landen und nicht …«

Kein Wunder, dass du abbrichst. Manchmal machen unsere Fantasien einen Sprung, plötzlich und präzise, wie aufgereihte Tänzer. Wir sehen eine Truhe, für Pfeile, kaum groß genug für einen Menschen. »Die Leute denken, Wyatt hätte aus Liebe sterben sollen? Wo sie selbst dafür nicht mal die Straße überqueren würden?«

Er denkt an Wyatt in seinem Gefängnis, während die Dämmerung Ausläufer und Arme der Themse umfängt, das letzte Licht wie Seide dahingleitet, treibt, versinkt. Es ist das Licht, das sich bewegt, wenn der Strom stillsteht. Wyatt scheint ihm fern, wie durch einen Spiegel gesehen – oder als hätte er vor langer Zeit gelebt. Er sagt: »Eine gute Reise morgen. Merken Sie sich alles, was Mary sagt. Schreiben Sie es auf, sobald Sie bei ihr waren.«

Er geht in sein Zimmer, Christophe stampft hinter ihm her. »Der lächerliche Mathew«, sagt Christophe. »Ich höre, er ist befördert worden. Sie sollten ihn zurück nach Wolf Hall schicken. Er taugt eher zum Schweinehirten als zum Bediensteten eines Lords.«

»Ich könnte hinreiten und Mary selbst besuchen«, sagt er. »Hin und wieder zurück, bevor auch nur einer erfährt, dass ich weg bin.«

Er schließt die Tür zu seiner Kammer, schließt den Tag aus. Christophe sagt: »Wie als wir nach Kimbolton sind, heimlich, um die alte Königin zu sprechen. Als wir in dem Gasthof Rast gemacht haben und die dreiste Frau des Wirts …«

»Ja, genug.«

»… in Ihr Bett ist sie gesprungen, und am nächsten Morgen sagten Sie zu mir: ›Christophe, zahle die Rechnung‹, und Sie haben mir Ihren Geldbeutel gegeben. Und in Kimbolton sind wir in die Kirche. Wissen Sie noch, wie ich gepfiffen habe und der Priester kam?«

Er erinnert sich an den steinernen Teufel, die gewundene Schlange, den Erzengel Michael, die blaugrünen Federn seiner Flügel und das zum Schlag erhobene Schwert.

»Wir dachten alle, Sie wollten beichten, und hofften, mithören zu können. Aber Sie taten es nicht. Im Übrigen, selbst wenn uns etwas leidtut, kann es uns nicht vergeben werden, wenn wir es wieder tun wollen.«

Er sieht sich selbst in der Scheibe, im Hemd, das da weiß aufscheint. Er erschrickt. Ohne Brokat und Samt ist sein Körper breit, ein reizloser Klumpen Muskeln und Knochen. Sein ergrauendes Haar ist geschnitten, und so lässt nichts die Züge weicher wirken, mit denen Gott ihn gestraft hat – den kleinen Mund, die kleinen Augen, die große Nase. Er trägt Leinenhemden, die so fein sind, dass man die Gesetze Englands dadurch lesen könnte, hat einen grünen Samtrock, der im letzten Jahr für ihn geschneidert und nach Wolf Hall geschickt wurde, einen tieflila Reitmantel und seinen Rock von der letzten Krönung, so dunkel purpurn, dass eine von Annes Damen sagte, er sehe aus wie eine wandernde Wunde. Wenn Kleider einen Mann machen, ist er gemacht, aber niemand hat je gesagt, auch nicht als er jung war: »Tommaso sieht heute gut aus.« Es hieß immer nur: »Du musst früh aufstehen, um dem untersetzten englischen Bastard zuvorzukommen.« Man kann nicht einmal sagen, dass er auf einem Pferd gut aussieht. Nützlich sieht er darauf aus. Er steigt in den Sattel und reitet los. Im Passschritt reitet er dahin und kommt vor allen anderen an.

Die Nacht ist warm, dennoch hat Christophe ein kleines, knisterndes Feuer entfacht und die Duftpfanne entzündet. Süße Kräuter, Weihrauch – vertreiben alles Ansteckende zu jeder Jahreszeit. Eine Reihe Bienenwachskerzen, bereit für den Anzünder. Tinte zur Hand, sein Tagebuch auf dem Tisch, auf einer leeren Seite aufgeschlagen, falls er aufwacht und ihm etwas für die morgige Liste einfällt. Ich denke, ich sollte heute ausruhen, sagt er zu Christophe, und Christophe sagt, der Botschafter ist lange weg, selbst Nennt-Mich gegangen. Master Richard ist zu Hause bei seiner Frau, der König spricht seine Gebete, oder vielleicht müht er sich auch mit der Königin, um sie zu beglücken. Die Vögel haben die Köpfe unter die Flügel gesteckt, Londons Gefangene schnarchen im Tower, im Marshalsea, Clink und Fleet. Auf dem Gelände von Austin Friars hat Dick Purser die Wachhunde losgebunden. Gott weilt im Himmel. Die Tore sind verschlossen.

»Und ich«, sagt er, »bin ausnahmsweise einmal zu Hause in meiner Kammer.« Vor sieben Jahren, als Florenz vom Kaiser belagert wurde und um französische Hilfe bettelte, kamen die Bürger zu Kaufmann Borgherinis Haus: »Wir wollen Ihr Schlafzimmer kaufen.« Sie hofften, mit den schön bemalten Tafeln, dem üppigen Behang und den Möbeln König François bestechen zu können. Aber Margherita, die Frau des Kaufmanns, blieb standhaft und wies ihr Angebot zurück. Nicht alles im Leben ist käuflich, sagte sie. Dieses Zimmer ist das Herz meiner Familie. Fort mit euch! Wenn ihr mir mein Schlafzimmer nehmen wollt, müsst ihr eure Beute über meinen Leichnam hinwegtragen.

Er würde nicht für sein Mobiliar sterben. Aber er versteht Margherita – immer angenommen, es war tatsächlich so. Unsere Besitztümer überdauern uns, überleben Schrecken, die wir nicht überstehen. Wir müssen ihnen gerecht werden, da sie dereinst Zeugnis von uns ablegen, wenn wir nicht mehr sind. In diesem Raum befinden sich etliche Dinge von Menschen, die sie nicht mehr benutzen können. Da stehen Bücher, die sein Master Wolsey ihm geschenkt hat. Unter der Decke aus gelbem türkischem Satin hat Liz einmal geschlafen. In einer Kommode, in eine weiche Mütze gebettet, ruht ihr geschnitztes Bildnis der Jungfrau. Ihre pechschwarzen Rosenkranzperlen liegen in ihrem alten samtenen Geldbeutel. Es gibt einen Kissenbezug, den sie mit einem Bild bestickt hat, einem durch Laub rennenden Reh. Ob der Tod ihre Arbeit beendet hat oder sie die Lust daran verlor, die Nadel steckte noch im Stoff. Später hat eine Hand sie herausgezogen, und um die zwei kleinen Löcher, die sie hinterlassen hat, hat sich der Stoff zu spröden Kuppen versteift: Wenn du mit dem Finger den Pfad ihrer Stiche entlangfährst – den Pfad, den sie genommen haben würden –, spürst du sie wie Knoten im Gewebe. Er hat die kleine flandrische Truhe von nebenan hereingeholt, ihre pelzbesetzte rostbraune Robe liegt darin, zwischen Gewürzbeutelchen, zusammen mit ihren Ärmeln, ihrer goldenen Kappe, ihren Kleidern und Hauben, ihrem Amethystring und dem mit der Rose aus Diamanten. Sie könnte hereinkommen und sich ankleiden. Aber aus Hauben und Ärmeln kannst du keine Frau machen. Nimm all ihre Ringe, ihre Hand hältst du nicht.

Christophe sagt: »Sie sind doch nicht traurig, Sir?«

»Nein, ich bin nicht traurig, das ist mir nicht erlaubt. Ich bin zu nützlich, um traurig zu sein.«

Mein erster Gedanke war richtig, sagt er sich: Ich sollte nicht zu Mary reiten, jedenfalls noch nicht. Lass es seinen Lauf nehmen … Sieh, was Rafe und Nennt-Mich erreichen. Er denkt, der Kardinal hätte gewusst, wie in dieser Sache am besten vorzugehen ist. Wolsey sagte immer, finde heraus, was die Menschen wollen, vielleicht kannst du es ihnen bieten. Es ist nicht immer das, was du denkst, und mag billig zu beschaffen sein. Bei Thomas More hat es nicht funktioniert. Er war ein Ertrinkender, der die Hände wegschlug, die ihn retten wollten. Angebot um Angebot hat er ausgeschlagen. Die Zeit des Zuredens ist vorbei, so sieht Henry es, sie endete mit dem Tag, da More aufs Schafott fiel, um in Blut und Regen zu ertrinken. Heute leben wir in einer Zeit des Zwanges, in der der Wille des Königs ein Werkzeug ist, das jeden Morgen von einem Meisterschmied neu geformt wird: Scharf und spitz und harsch windet es sich tief in unsere verkommene Zeit. Du siehst Henry, den reinen Gaukler, wie er den Arm eines Botschafters nimmt und ihn umgarnt. Zu lügen erfüllt ihn mit einer tiefen, feinen Lust, so tief und fein, dass er nicht weiß, dass er lügt. Er glaubt, der wahrhaftigste aller Fürsten zu sein. Henry sagt, er, Cromwell, ist zu bescheiden, um mit ausländischen Granden zu verhandeln, und so steht er am Rand und hält den Blick auf Henrys Gesicht gerichtet. Danach führt er sein eigenes, eiliges Gespräch mit dem Botschafter: Cremuel, soll ich ihm diesmal glauben? Und er sagt voller Ernst: Das sollten Sie, Botschafter, das müssen Sie. Halten Sie mich für naiv? Das sagt er mir jetzt, aber was sagt er nächste Woche? Vertrauen Sie mir, Botschafter, ich schwöre, ich sorge dafür, dass er sein Wort hält! Ja, aber worauf schwören Sie, nachdem Sie alles Heilige weggeworfen haben?

Dann legt er eine Hand aufs Herz. Bei meinem Glauben, sagt er. »Ah, Master Sekretär«, erwidert der Botschafter darauf, »Ihre Hand liegt zu oft auf Ihrem Herzen. Und Ihr Glaube ist, wie ich denke, eine flüchtige Sache und von Tag zu Tag Änderungen unterworfen.«

Der Botschafter wirft einen vorsichtigen Blick über die Schulter und rückt näher an ihn heran: »Treffen Sie sich mit mir, Cremuel. Lassen Sie uns zusammen essen.« Dann wird der Würfel im Knochenbecher geschüttelt – und er ist nicht länger bescheiden. Wieder und wieder verhandelt er, und der Botschafter, der nicht an sich halten kann, macht seinem Unmut Luft: Mein Master, mein Master, der Kaiser, mein Master, der König … er gleicht Ihrem Master in mancher Hinsicht … und ich sollte mir die Bemerkung erlauben, mein lieber Cremuel, dass Ihre Ängste sich von meinen oft nicht sehr unterscheiden. Der Gesandte kommt mit kleinen Bluffs und Doppel-Bluffs und ist neugierig, wie sie aufgenommen werden, und wenn Cremuel nickt und sagt: »Verstehe«, gelangen sie auf festeren Grund. Mit dem Anheben einer Braue, einem aufflackernden Lächeln fahren sie fort und passieren die notwendigen Vorgeblichkeiten mit der Leichtigkeit von Männern, die über Pfützen springen. Sein neuer Freund wird verstehen, dass Ausflüchte für Henry eine Notwendigkeit sind, eine Lust, aus seinem tiefsten Inneren heraus. Fürsten sind nicht wie andere Menschen. Sie müssen sich vor sich selbst verstecken, oder sie würden vom eigenen Glanz geblendet. Wenn du das erst begriffen hast, kannst du anfangen, jene gesichtswahrenden Barrieren zu errichten, Wände, hinter denen sich Korrekturen vornehmen lassen, Ecken zum Rückzug, offene Räume, in denen sich kehrtmachen und alles auf den Kopf stellen lässt. Das hat einen angenehmen Reiz und führt zu erfreulicher Sachverständigkeit, hat aber auch seinen Preis: einen galligen Nachgeschmack, eine bittere Müdigkeit. Jean de Dinteville hat ihm einmal gesagt, haben Sie sich je überlegt, Cremuel, warum wir lügen und lügen? Und wenn uns auf dem Totenbett unsere letzte Beichte abgenommen wird, wird uns die Macht der Gewohnheit dann zur Hölle fahren lassen?

Aber auch das war nichts als eine List, etwas, das der Franzose bei ihm probierte. In Henrys eigenem Rat, ob der König nun anwesend ist oder nicht, gibt es eine Verschwörung der Gesten, der Seufzer, einen Kontrapunkt zu dem, was offen gesagt werden kann. Und wenn der Bote aus den Gemächern des Königs kommt, um zu sagen: »Seine Majestät verspätet sich«, geht ein Raunen um und eine verdeckte Erleichterung. Die Räte mögen spekulieren, warum: Vielleicht war er reiten, vielleicht widersetzt sich die Verdauung, oder ist er zu faul? Oder, wer weiß, einfach nur den Anblick unserer Gesichter leid? Jemand sagt: »Master Sekretär, würden Sie?« Und von ihm durch die Tagesordnung geführt, absolvieren sie ihre Raufereien und Nörgeleien, aber mit einer verstohlenen Kameraderie, die sie Henry nicht hätten sehen lassen, denn er mag seine Räte zerstritten. Wenn Räte ihre Feinde anblitzen, kann der König lächeln – der ach so gütige Fürst. Während sie einander drangsalieren, kann er belohnen. Insistieren sie, beschwichtigt er, schmeichelt, lockt. Es sind seine Räte, die niederträchtigste Mannschaft, die es je gab, die seine Sünden für ihn tragen – die bereit sind, die schlechteren Menschen zu sein, damit er der bessere ist.

Es ist Juni, und die Nächte sind kurz. Aber wenn die Stadttore geschlossen und die Feuer gelöscht sind, zieht er, Cremuel, die Bettvorhänge zu und schließt sich mit den Geschäften Englands ein. Vor seinem Zimmer, seinem Bett, breitet sich eine weite Dunkelheit aus, bis zur Küste und über die Wellen zu den Mauern von Calais, über die schlafenden Felder Frankreichs, die dunklen, schneebedeckten Gipfel nach Italien und weiter bis zu den Sultanaten. Die Nacht liegt auf London wie eine Decke, als wären wir bereits gestorben und ruhten unter unserem Sargtuch, schwarzem Samt mit einem kalten, silbernen Kreuz. Wie viele Leben haben wir, in denen wir schlafen und träumen und verlorene Sprachen in unsere Münder zurückfließen? Alle kannten Cromwell, als er ein Kind war. Mach’s-Scharf, nannten sie ihn – weil sein Vater Messer schärfte. Noch bevor er zwölf wurde, war er Walters kleiner Schuldeneintreiber: freundlich, lächelnd, beharrlich. Mit fünfzehn war er mit seinem Bündel auf der Straße, geschlagen und auf der Flucht, neuen Schlägen und Schlachten entgegen. Aber wenigstens wurde er als Soldat von König Louis dafür bezahlt, Schläge einzustecken. Er sprach Französisch, den Argot des Lagers. Er sprach jede Sprache, die er fürs Handeln und Feilschen brauchte – ob es ein Leintuch oder ein Heiligenbild ist, sag mir, was du willst, und ich besorge es. Mit achtzehn lagen zwei seiner Leben hinter ihm. Sein drittes begann im Hof der Frescobaldi, als er zerschlagen vom Schlachtfeld gekrochen kam. Sich an der Wand abstützend, sah er mit glasigen Augen sein nächstes Betätigungsfeld. Bald schon rief ihn sein Master nach oben: den jungen Engländer, der dazu fähig war, die Angelegenheiten seiner Landsleute zu entwirren und perfekt wurde im Geschäft seiner neuen Master, zuverlässig, diskret, ehrerbietig gegenüber den Älteren, niemals müde, verzagt oder überwältigt von einer Anforderung. Er ist nicht wie andere Engländer, sagten seine Master, wenn sie ihn zu ihren Freunden schickten: Schlägt sich nicht auf der Straße, spuckt nicht wie der Leibhaftige, trägt ein Messer bei sich, hält es aber unter der Jacke versteckt. In Antwerpen begann er noch mal neu, im Kontor englischer Kaufleute. Er ist ein Italiener, riefen sie, voller List und Tücke – zaubert aus dem Nichts einen Profit. Das war sein viertes Leben: die pays bas. Er sprach Spanisch, was nützlich war, und die Antwerpener Sprache. Er verließ die Stadt – verließ die Witwe Anselma, ihr am Wasser gelegenes Haus voller Schatten. Du musst nach Hause, sagte sie, eine junge, gut situierte Engländerin kennenlernen und darauf hoffen, dass sie dich glücklich macht, im Bett und am Tisch. Am Ende sagte sie, Thomas, wenn du jetzt nicht gehst, schnür ich dein Bündel und werfe es in die Schelde. Nimm dieses Boot jetzt, sagte sie, als würde es kein anderes mehr geben.

Sein nächstes Leben waren seine Frau, seine Kinder, sein Master, der große Kardinal. Das ist mein wirkliches Leben, dachte er, endlich bin ich angekommen. Aber wenn du das denkst, stehst du kurz davor, dein Bündel aufs Neue zu schnüren. Sein Herz und sein Denken zogen mit dem Kardinal nach Norden ins Exil: Das Ganze endete auf der Straße, und sie begruben ihn in Leicester, zusammen mit Wolsey. Sein sechstes Leben war das als Master Sekretär, Diener des Königs. Sein siebtes, Lord Cromwell, beginnt jetzt.

Zunächst müssen wir, denkt er, eine Zeremonie abhalten: Königin Jane krönen. Für Anne Boleyn habe ich die Straßen mit sprechenden Heiligen gefüllt, mit mannsgroßen Falken. Eine Meile Blau habe ich ausgelegt, eine Art Himmelspfad, von der Tür der Abbey bis zum Krönungsstuhl: Jedes Yard habe ich durchkalkuliert, und du, Lady, bist den Weg gegangen. Jetzt muss ich wieder anfangen: neue Banner, mit dem Phönix bemalte Stoffe, mit dem Tagestern, dem Himmelstor, der Zeder und der dornenumkränzten Lilie.

Er dreht sich im Schlaf. Er geht durch das Blau, die Wellen. In Irland wollen sie Langbögen, und für gute zahlst du fünf Mark für zwanzig Stück. In Dover wollen sie Geld für die Arbeiten an den Befestigungen des Königs. Sie wollen Spaten, Kellen und vierzig Dutzend Schaufeln, und das alles schon gestern. Ich muss mir eine Notiz machen, denkt er, einen Vertrag schließen, und ich muss herausfinden, was die Frauen am Hof plagt. Nennt-Mich hat es gesehen, ich habe es gesehen. Da gibt es eine Geschichte hinter der Geschichte. Sie haben Geheimnisse, die sie noch nicht preisgegeben haben.

George Boleyns Witwe Jane ist unten in Kent, versucht ihr Leben zu ordnen und sich der Zukunft zu stellen. Sie hat ihm von ihren Geldnöten geschrieben. Beth, die Frau des Earl of Worcester, ist mit ihrem dicken Bauch hinaus aufs Land. Es ist nicht sein Kind, trotz allem, was die Leute auch reden. Wenn es ein Junge wird, macht der Earl womöglich Theater, was den Vater angeht. Wird es ein Mädchen, zuckt er höchstens mit den Schultern und nimmt es als seines an. Frauen können sich verrechnen, ihre Hebammen sie in die Irre führen.

Einmal in Venedig, erinnert er sich, habe ich eine Frau hoch über dem Kanal an eine Wand gemalt gesehen, Sterne und Mond hinter ihr. »Heb die Fackel an«, sagte sein Freund Karl-Heinz. »Tommaso, siehst du sie?« Und einen kurzen Moment lang tat er es: Von der Mauer des Deutschen Hauses schaute sie auf Cremuello herunter, der fern aus Putney kam. Er war ihr Pilger, sie sein Schrein – nackt, bekränzt, berührte sie ihr brennendes Herz.

Als Anne starb, begleiteten sie vier Frauen. Sie wateten durch ihr Blut. Ihre Gesichter waren verschleiert, und er glaubt nicht, dass es die Frauen waren, die auch während ihrer letzten Woche bei ihr gewesen und mit ihr gewartet hatten. Frauen, die er um sie platziert hatte, damit sie ihm reportierten, was sie sagte. Er glaubt, dass der König, bekniet von weiß Gott wem, ihr erlaubt hatte, ihre eigenen Begleiterinnen für ihren letzten Gang über den rauen Grund auszusuchen. Der Wind zerrte an Annes Kleidern, und sie wandte den Kopf wieder und wieder nach einem Boten, der nicht kam.

Lady Kingston, denkt er, würde mir sagen, wer diese Frauen waren. Aber muss ich es wissen? Sie werden ihre Erinnerungen an den Tag haben. Vielleicht versuchen sie, sie mit anderen zu teilen.

Lasst mich, sagt er zu ihnen allen, ich muss schlafen. Bleibt an den Ecken des Betts, unter euren Tüchern. Wickelt eure keuchenden Köpfe in Stoff, wieder und wieder. Du weißt, was Medusa tut. Du darfst ihr nicht ins Gesicht sehen. Du musst ihr Bild in poliertem Stahl einfangen. Sieh in den Spiegel der Zukunft: das flecklose Glas, specula sine macula. Wir werden die Stadt für Jane schmücken. An jeder Ecke ein Paradies, mit Jungfern in Rosenlauben, die Rosen gestreift, in Silber und Zinnober, eine Schlange windet sich um einen Apfelbaum, Vögel singen, von Adam gefangen, in an den Ästen hängenden Käfigen.

Morgen wird er den Brief von George Boleyns Witwe beantworten. Jane möchte Geld und Güter ihres toten Mannes. Sie verfügt über nur hundert Mark im Jahr, und das ist nichts für eine edle Dame, die nie wieder heiraten wird: Denn wer will schon eine Frau, die zu Thomas Cromwell gelaufen ist und ihren eigenen Mann beschuldigt hat, mit seiner Schwester geschlafen und geplant zu haben, den König zu ermorden?

Wir werden diesen Wochen nicht entrinnen. Sie wiederholen sich, immer anders, immer neu – fortwährend, ohne Ende. Als Anne verhaftet wurde, kamen stündlich Briefe von Kingston, dem Konstabler des Towers. Rafe prüfte sie, sortierte einige aus, legte die anderen ab. »Sir William sagt, die Königin redet immer noch davon, dass der König sie ins Kloster schicken wird. Und im nächsten Atemzug schon, dass sie in den Himmel kommt wegen all der guten Taten, die sie vollbracht hat. Er schreibt, sie lacht und lacht. Sie macht Witze. Sie sagt, sie wird danach Anne die Kopflose genannt werden.«

»Die arme Frau«, sagte Wriothesley. »Ich bezweifle, dass sich überhaupt jemand an sie erinnern wird.«

Rafe sah auf den Brief. »So drückt Kingston es aus: ›Diese Lady hat große Freude und großen Genuss am Tod.‹«

»Für mich klingt das, als hätte sie Angst«, sagte Richard Cromwell.

»Wenn das so ist«, sagte Nennt-Mich Wriothesley, »sollten ihre Geistlichen ihr beistehen.«

»Und sie will«, las Rafe, »dass der Mr Sekretär weiß, sieben Jahre nach ihrem Tod wird eine große Strafe – welcher Art, sagt sie nicht – das Land treffen.«

»Gut, dass sie sich da zurückhält«, sagte er.

»Anne wird feststellen«, sagte Rafe, »dass Gott nicht wie mancher Mann nach ihrer Pfeife tanzt.« Er hatte einen weiteren Brief geöffnet und überflog ihn: »George Boleyn möchte Sie sprechen, Sir. Wegen etwas, das sein Gewissen berührt.«

»Er will beichten?« Wriothesley hob eine Braue. »Warum jetzt, nachdem das Urteil bereits ergangen ist und er so widerlicher Verbrechen überführt wurde, dass ihn nicht einmal der barmherzigste Fürst, der je ein Land regiert hat, begnadigen würde? Denn ich denke doch, würde ihm seine Strafe erlassen, dass ihn dann das Volk auf der Straße steinigte. Oder Gott ihn niederstreckte.«

»Und den Ärger sollten wir Gott ersparen«, sagte Richard. »Er hat viel zu tun.«

Ihm, Cromwell, war Wriothesleys schneller Blick aufgefallen. Die Jungen fingen an, sich zu streiten, wer den Zugang zu ihm kontrollierte. »Lord Rochford hinterlässt Schulden«, sagte er und hielt den Brief in die Höhe. »Er will, dass ich seine Geschäfte ordne.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass George sich darum kümmern würde«, sagte Rafe. »Es scheint, mir fehlt ihm gegenüber die Barmherzigkeit. Soll ich für Sie gehen, Sir?«

Er schüttelte den Kopf. Was ist er, George Boleyn, anderes als ein Mann, der zu Ruhm kam, weil seine beiden Schwestern für ihn arbeiteten, flach auf dem Rücken: erst Mary im Bett des Königs, dann Anne? Aber wenn die Sterbenden nach dir verlangen, musst du persönlich zu ihnen gehen.

Als Kingston ihn später in den Martin Tower führte, sagte er: »Es scheint, dass er nur Sie will, Master Sekretär. Dabei sollte man doch denken, dass er Freunde hat, aber die«, er sah sich um, »stecken wohl alle mit drin.«

George las ein Andachtsbuch. »Sir, ich wusste, Sie würden mir helfen.« Er kam auf die Beine, und die Worte purzelten nur so aus ihm heraus: »Ich habe Schulden und Schuldner …«

»Moment, Mylord.« Er hob eine Hand. »Soll ich einen Schreiber holen lassen?«

»Nein, es ist alles hier.« Auf dem Tisch lag ein Stapel Papiere. George blätterte hindurch. »Und ich habe eine Truppe Schauspieler. Können Sie die anstellen? Ich sähe es nicht gerne, wenn sie auf der Straße landeten.«

Er kann. Er hat vor, die Londoner mit dem ein oder anderen Spektakel abzulenken. »Possen über Mönche und ihre Schwindeleien und über Farnese an seinem Hof in Rom, unter seinen Speichelleckern.«

George war sehr daran gelegen. »Wir haben alles, was nötig ist: einen Papsthut, Bischofsstäbe und Stolen, Schellen, Schriftrollen und Eselsohren für die Mönche. Einer aus meiner Truppe, er spielt den Robin Goodfellow, er kommt mit einem Besen und fegt den Boden, bevor die Schauspieler auftreten. Später kommt er mit einer Kerze, um zu zeigen, dass das Stück vorbei ist. Hier, Sir.« Er hielt Papiere in seine Richtung. »Der König kriegt alles, auch meine Schulden – aber diese kleinen Leute, die mir etwas schulden, ich will nicht, dass sie schikaniert werden.«

Er nahm die Papiere. »Es ist nie zu spät, seine Mitmenschen zu achten.«

George wurde rot. »Ich weiß, Sie halten mich für einen großen Sünder. Und das bin ich auch.«

George, das sah er, war in keiner guten Verfassung. Die Haut unter seinen Augen war geschwollen, er war schlecht rasiert, als könnte er für den Barbier nicht still sitzen. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen, seine Hand hielt die Lehne gepackt, um das Zittern zu kontrollieren. Er sah sie an, diese Hand, als wäre sie ihm fremd, und tatsächlich schien sie erschreckend nackt. »Ich habe meine Ringe in Aufbewahrung gegeben.« Er hob die andere Hand. »Aber meinen Ehering, ich kann ihn nicht …«

Er wird später herunterkommen, wenn deine Hände kalt sind. Wer wird Georges Schmuck tragen? Seine Frau wird ihn verkaufen. »Brauchen Sie etwas, Mylord? Tut Kingston, was er kann?«

»Ich wünschte, ich könnte meine Schwester sehen, aber ich nehme an, das erlauben Sie nicht. Sie sollte ihre Schulden begleichen und sich darauf vorbereiten, vor Gott hinzutreten. Die Wahrheit ist, Master Sekretär …«, er lachte auf, »ich kann mir nicht vorstellen, vor Gott zu stehen. Dem Gesetz nach bin ich bereits tot, aber ich scheine es nicht zu wissen. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich noch atme. Vielleicht muss ich mir selbst einen Brief schreiben, um es mir zu erklären, oder … können Sie es mir erklären, Master Cromwell? Wie kann ich gleichzeitig tot und lebendig sein?«

»Lesen Sie das Evangelium«, sagte er. Er dachte, ich hätte doch Rafe schicken sollen. Er wäre zu stolz, um vor Rafe zusammenzubrechen.

»Ich habe es gelesen, aber nicht befolgt«, sagte George. »Ich glaube, ich habe es kaum verstanden. Sonst wäre ich ein lebendiger Mensch wie Sie. Ich hätte zurückgezogen leben sollen, fern vom Hof. Die Welt und ihre Schmeicheleien verachtend. Hätte allen Eitelkeiten ausweichen und allen Ehrgeiz überwinden sollen.«

»Ja«, sagte er, »doch das tun wir alle nicht. Keiner von uns. Wir haben die Predigten gelesen. Wir könnten sie ohne Weiteres niederschreiben. Trotzdem sind wir eitel und ehrgeizig und leben nicht zurückgezogen, weil wir morgens aufstehen, das Blut in unseren Adern pulsieren fühlen und denken, bei allen Heiligen, wen kann ich heute niedermachen? Welche Welten sind verfügbar und von mir zu erobern? Oder zumindest denken wir, wenn Gott mich zum Teil der Mannschaft dieses Schiffes voller Narren macht, wie kann ich dann den betrunkenen Kapitän umbringen und es ohne Schiffbruch in den nächsten Hafen steuern?«

Er war nicht sicher, ob er das laut gesagt hatte. George schien nichts wahrgenommen zu haben. Er hatte eine Frage gestellt, wartete auf die Antwort und beugte sich vor, die Hände auf dem Tisch gefaltet. »Hat Tom Wyatt behauptet, dass er meine Schwester besprungen hat?«

»Er hat hinter verschlossener Tür ausgesagt, nicht vor Gericht.«

»Aber es hat den König erreicht. Ich verstehe nicht, wie Wyatt solche Behauptungen aufstellen und es überleben kann. Warum erschlägt Henry ihn nicht auf der Stelle?«

»Von einem gewissen Punkt an hat ihn ihre Reinheit nicht mehr interessiert.«

»Sie meinen, was macht schon einer mehr oder weniger?« George lief rot an. »Master Sekretär, ich weiß nicht, wie Sie das alles nennen, Gerechtigkeit ist es nicht.«

»Ich würde es gar nicht benennen, George. Oder, wenn ich muss, necessità

Er war sich Georges Nachttopf in der Ecke bewusst, und als fiele dem seine, Cromwells, empfindliche Reaktion darauf auf – als hätten seine Nasenflügel gezuckt –, sagte George: »Ich würde ihn ja selbst leeren, aber sie lassen mich nicht raus.« Er öffnete seine Hände. »Master Sekretär, ich will nicht mit Ihnen streiten. Weder über das Urteil noch über die Strafe. Ich weiß, warum wir sterben. Ich bin nicht so dumm, wie Sie immer gedacht haben.«

Darauf sagte er nichts. Aber George schob seinen Stuhl zurück und folgte ihm zur Tür: »Master, beten Sie zu Gott, dass Er mir Kraft auf dem Schafott gibt. Ich muss ein Beispiel geben. Wenn wir, wie ich denke, die Ranghöhe beachten …«

»Ja, Mylord, Sie kommen zuerst.«

Viscount Rochford. Dann die Gentlemen. Dann der Lautenspieler. »Es wäre besser, Mark als Ersten zu schicken«, sagte George. »Als gemeiner Mann verliert er am ehesten die Fassung. Aber ich nehme an, der König will die Ordnung nicht gestört sehen.«

Damit brach er in Tränen aus. Er streckte die Arme aus, die Arme eines Schwertkämpfers, jung, stark und voller Leben, und schlang sie um Thomas Cromwell, als ränge er mit dem Tod. Sein Körper bebte, die unteren Gliedmaßen zuckten, er sackte, taumelte, und er zeigte, was er die Welt niemals würde sehen lassen: seine Angst, seinen Unglauben, seine Hoffnung, dass dies alles ein Traum sei, aus dem er erwachen mochte. Die Augen tränengeschlitzt und mit klappernden Zähnen suchte er blind nach Halt, suchte nach einer Schulter, auf der er ruhen konnte.

»Gott segne Sie«, hat er gesagt. Und er hat Lord Rochford geküsst, wie es ein Gentleman tun mochte, der einen anderen verließ. »Sie werden Ihren Schmerz bald hinter sich lassen.« Auf dem Weg hinaus sagte er zu den Wachen: »Leeren Sie seinen Nachttopf, Gott noch mal.«

Und jetzt liegt er wach, in seinem eigenen Haus. George und der Geschmack seiner Tränen schwinden dahin. Er hört Schritte im Zimmer, zieht den Bettvorhang zur Seite, schweren, mit Akanthusblättern bestickten Brokat. Es dämmert. Ich habe kaum geschlafen, denkt er. Manchmal, wenn du an Geld denkst, wie es hereintreibt und wieder hinaus, döst du etwas. Der Fluss trägt es heran, vom Ufer rechst du es heraus, doch dann tritt jemand in deinen Traum: Sir, wenn Sie Angestellte für das neue Unternehmen des Königs brauchen, mein Neffe weiß mit Zahlen umzugehen … Es ist nicht leicht, die Klöster aufzulösen. Es sind nur die kleinen Häuser, aber dennoch. Manche besitzen Land in zehn Counties. Fester und beweglicher Besitz, Aktivposten für die Staatskasse des Königs … Die Schulden und Verpflichtungen der Mönche gehen jedoch davon ab, die Altersgelder, Zahlungsausgleiche, jährlichen Ausgaben. Er musste eine neue Abteilung gründen, um die Erhebungen und Revisionen durchzuführen, Einzug und Ausgaben zu überwachen. Sir, mein Sohn lernt Hebräisch und sucht eine Stellung, in der er auch sein Griechisch anwenden kann … Er hat vierunddreißig Kisten mit Unterlagen, übrig geblieben aus der Zeit, als er solche Arbeiten für Wolsey erledigt hat. Er muss ihren Transport arrangieren. Kann Ihr Sohn schwere Dinge tragen? Vielleicht sollte Richard Riche die Kisten bei sich zu Hause lagern. Er ist gerade zum Kanzler des Court of Augmentations ernannt worden, der sich um den Besitz der Kirche kümmern soll – aber es gibt noch keine Räumlichkeiten für die neue Kammer, nur etwas Platz im Westminster Palace, um den er sich mit den Mäusen streiten muss. Das geht nicht, denkt er. Ich werde uns ein Haus bauen.

Auf dem Schwert des Scharfrichters aus Calais stand ein Gebet. »Zeigen Sie mal«, hat er den Mann aufgefordert. Er erinnert sich an die eingravierten Worte, das Gefühl, mit den Fingern darüberzufahren. Annes Liebhaber starben durch das Beil und wurden anschließend ausgezogen. Fünf Leichentücher. Fünf Tote. Fünf abgeschlagene Köpfe. Am Tag der Auferstehung hoffen sie sich selbst wiederzuerkennen. Was für eine Blasphemie wäre es, Köpfe und Körper zu vertauschen? Die völlige Unfähigkeit der Leute im Tower, es ist nicht zu glauben. Als die durchtränkte Ladung vom Karren fiel, ohne jedes Rangabzeichen, stellten sie fest, dass sie keinerlei Anhaltspunkt dafür hatten, wer nun wer war. Er war nicht da, sondern in Lambeth, beim Erzbischof, und so wandten sie sich an seinen Neffen Richard: »Was machen wir jetzt, Sir?«

Er denkt, ich hätte die Leichentücher geöffnet und mir die Hände angesehen. Norris hatte eine Narbe in der Handfläche. Marks Finger waren verschwielt von den Lautensaiten. Weston hatte abgebissene Nägel, wie das Kind, das er war. George Rochford … George trug noch seinen Ehering. Übrig blieb Brereton – es sei denn, sie hatten irrtümlich einem Passanten den Kopf abgeschnitten?

Was ich brauche, denkt er, sind Männer, die zählen können. Die fünf Köpfe und Körper auseinanderhalten können, vierunddreißig Kisten Unterlagen. Kann Ihr Sohn zählen? Macht es ihm etwas aus, bei jedem Wetter draußen zu sein? Würde er über winterliche Straßen reiten? Beamte sind für die Klosterauflösungen eingestellt worden, ehrbare, fähige Leute: Danaster und Freeman, Jobson und Gifford, Richard Paulet, Scudamore, Arundell, Green. Hat er Waters genommen, um ihn Spillman vorstellen zu können? Dann noch seinen Freund Robert Southwell und Bolles und Morice und … wer noch? Wer fehlt?

Nachdem Anne enthauptet worden war, zeigte ihm der Mann aus Calais sein Schwert – er fährt mit den Fingern über das Gebet, kann es aber nicht lesen. Der Stahl ist kalt, und seine Finger sind wie taub, und wenn mir kalt ist, ziehe ich den Ehering herunter. Er geht auf den König zu, immer auf den König zu, die nackten Hände vorgestreckt, ohne Waffe. Drei in Seide gekleidete Gentlemen wenden sich ihm in seinem Traum zu, um ihn vorbeigehen zu sehen. Howard-Gesichter mit dem howardschen Grinsen. Thomas Howard der Größere, Thomas Howard der Geringere. Halb wach fragt er sich, wozu ist der Geringere da? Was macht er mit seiner Zeit? Er ist ein schlechter Dichter. Seine Verse holpern und stolpern. Mich / nich. Auch / Bauch. Ding / bring. Flippflapp, sagen sie, pittpatt.

Zähle keine Howards, sagt er sich. Zähle die Beamten. Beckwith habe ich vergessen. Southwell und Green. Gifford und Freeman, Jobson und Stump – William Stump. Wer kann Stump vergessen?

Ich. Offenbar.

Ihr müsst alles aufschreiben, sagt er seinen Leuten. Misstraut euch. Das menschliche Gedächtnis ist fehlbar. Ihr seid Augmentationsbeamte. Zwanzig Pfund per annum plus großzügige Spesen. Nie werdet ihr zu Hause sein, ständig das Königreich durchreisen und es zerteilen. Pferde werdet ihr zu Tode reiten, wenn die Einnahme dringend ist. Jedes Mönchshaus hat andere Verpflichtungen, andere Gewohnheiten, andere Leute. Manche Äbte sagen: »Verschonen Sie uns«, und er sagt, vielleicht. Zahlt zwei Jahre in die Staatskasse ein, und wir machen möglicherweise eine Ausnahme. Er muss den Fortgang der Schließungen verstetigen und für die Mönche, die es wollen, Plätze in größeren Häusern finden. Revisoren müssen ernannt werden. Einige sind bereits im Dienst, und drei heißen William. Und dann sind da Mildmay und Wiseman, Rokeby und Burgoyne. Aber kein Stump. Verschwinde aus meinem Traum, Stump. Zur Zeit Christi gab es keine Mönche, auch keinen Stump. Die Kammer muss Boten haben, einen Amtsdiener: Jemand muss die Welle der Bittsteller abweisen, aber auch die Tür öffnen. Setz den Amtsdiener auf ein per diem, er wird genug Zuwendungen bekommen. Würdest du nicht jemanden wollen, der dir die Tür öffnet, wenn du dich aufmachst, in der Welt aufzusteigen? Glück, dein Tor ist weit geöffnet: Thomas Lord Cromwell, gehe hindurch.

Austin Friars beginnt sich zum Haus eines großen Mannes zu formen, seine Fassade wird von Erkerfenstern erleuchtet, der kleine Stadtgarten weitet sich zu großzügigen Obstwiesen. Er hat die angrenzenden Grundstücke gekauft, einige von den Ordensbrüdern, andere von befreundeten italienischen Kaufleuten im Viertel. Ihm gehört die Nachbarschaft, und in seinen Schreinen – einer Walnusstruhe mit Lorbeerschnitzereien und einem Schrank, größer als Charles Brandon – bewahrt er die Grundbucheinträge auf, die sie parzellieren, bewerten und benennen. Dort liegen seine Rechte und Titel, die alten Siegel und Namenszüge der Toten, beglaubigt von städtischen Beamten und Sergeanten, von Ratsherren und Gemeindevorstehern, aus deren Amtsketten Münzen geprägt wurden und deren Körper unter Stein ruhen. Freie Schneider und Kürschner betrieben hier ihr Geschäft, in der Broad Street, Swan Alley und London Wall. Zwei Schwestern erbten einen Garten: Bevor ihre Ehemänner ihn den Brüdern verkauften, spazierten sie gemeinsam unter den Obstbäumen umher, die Haut frisch im nach Äpfeln duftenden Abend, Isabellas Finger ruhten auf Margarets Arm. Durch das Flechtmuster der Äste sahen sie hinauf in den Himmel, und ihre hölzernen Pantinen hinterließen Wunden im Gras. Ein Weinhändler verkaufte ein Lagerhaus, ein Kerzenmacher seinen Laden: Lagerhaus und Laden landeten beim Prior, ein Jahrhundert verstrich, und jetzt – sein Finger folgt ihren Schriftzügen – gehören sie mir. Vorsicht, verschmier die Tinte nicht, die Namen sind noch nicht trocken. Salomon le Cotiller und Fulke St Edmund. Das sind ihre Siegel, sie zeigen Karnickel, Löwen, Blumen und Heilige, einen Vogel mit Jungen im Nest. Das Stadtwappen, ein Hufeisen, ein Stachelschwein und das Heiligste Herz Jesu. Geschichte wird aufgeschrieben: Sie steht auf der Haut von vor langer Zeit geschlachteten Schafen oder Kälbern, die nie einen Atemzug getan. Die Toten stechen uns den Boden unter den Füßen weg, und wenn er eine Treppe in Austin Friars hinabgeht, brechen die Stufen unter seinem Schritt weg, und darunter kommen andere, nur noch in der Vorstellung sichtbare, zum Vorschein: Nach unten führen sie, in die Stadt, in der die römischen Legionen ihre Asche unter der Erde zurückgelassen haben, ihr Glas im Lehm, ihre Knochen im Fluss. Und noch weiter hinunter geht es, hinunter in den Untergrund seiner selbst, durch Frankreich und Italien und die pays bas, durch Niederungen und Treibsand, an Marschen und Mündungswiesen vorbei, durch die Überschwemmungsebene seiner Träume, bis er aufwacht, in einen neuen Tag geschreckt: Der Klang des Ambosses in der Schmiede schüttelt das Sonnenlicht in einem Zimmer, in dem er, ein hilfloses Kind, gewickelt daliegt, aus dem Schlaf gerüttelt und vom Gefühl erfüllt, zum ersten Mal den eigenen Herzschlag zu spüren.

In seinem Raum im Tower sitzt Thomas Wyatt am Tisch, an dem er ihn zurückgelassen hat, im gleichen hellen Licht, als hätte er sich seit Annes Todestag nicht mehr bewegt. Er hat ein Buch vor sich liegen und hebt den Blick nicht von den Seiten, geschweige denn, dass er aufsteht und ihn begrüßt. Sagt nur: »Das würde Ihnen gefallen, Master Sekretär. Es ist neu.«

Er nimmt das Buch. Gedichte von Petrarca. Er blättert hindurch. Wyatt sagt: »In dieser Ausgabe sind die Verse in einer Ordnung, die dem Leben des Dichters entspricht. Sie erzählen seine Geschichte. Oder scheinen es zu tun. Ich wollte immer eine Geschichte, Sie nicht?« Er sieht auf, seine blauen Augen sind überwältigend. »Lassen Sie mich frei. Ich kann hier keinen Tag länger sitzen.«

»Gerade jetzt hat der König beschlossen, dass Anne am französischen Hof verführt und um ihre Jungfernschaft gebracht wurde. Ich will, dass sich das in ihm verfestigt und er nicht an irgendeinen Engländer erinnert wird, der ihr nahe gewesen sein mag. Hier sind Sie sicher.«

»Ich gehe nach Kent. Ich werde ihm nicht unter die Augen kommen. Ich gehe, wohin Sie mich befehlen.«

»Sie sind gern unterwegs«, sagt er. »Ganz gleich, wohin.«

Wyatt sagt: »Ich habe mein Leben aufaddiert – es sind jetzt zehn Jahre, dass ich zum ersten Mal in Frankreich war, mit Cheney auf seiner Mission. Es hieß, meine Beine seien jung und mein Magen robust, und so war ich der Mittelsmann, der in die Wellen geworfen wurde. Schweißüberströmt und verzweifelt kam ich zurück, ein totes Pferd unter mir, und Wolsey sagte nur: ›Wo in Gottes Namen hast du gesteckt, Junge – warst du Blumen pflücken?‹ Der Lord Kardinal hielt es mit der Geschwindigkeit.«

»Er hielt es mit vielem.«

»Jetzt, wo die Boleyns und ihre Freunde weg sind, haben Sie Platz für sich geschaffen. Sie können Ihre eigenen Leute in der Nähe des Königs platzieren. Harry Norris, ich kann verstehen, warum Sie ihn loswerden wollten. Brereton, George Boleyn – ich sehe den Vorteil für Sie. Aber Weston war noch ein Junge, und Mark mag einen Edelstein an der Mütze getragen haben, doch ich bin sicher, er besaß keine zwanzig Pence für ein Leichentuch.«

»Der arme Mark«, sagt er. »Niedergekniet ist er vor Anne, und sie hat ihn ausgelacht.«

Er stellt sich den Karren vor, die Leichen darauf, das Segeltuch über ihnen mit Blut beschmiert und bespritzt. Die Hand des Jungen ragt darunter hervor, als wollte er, dass sie jemand hält. Er sagt: »Ich wollte ihn nur als Zeugen, aber er hat sich selbst beschuldigt. Ich habe ihn nicht gedrängt.«

»Ich glaube Ihnen. Aber niemand sonst.«

»Geben Sie mir ein paar Tage, eine Woche, allerhöchstens, und wenn Sie freikommen, erhalten Sie hundert Pfund aus der Staatskasse.«

»Die will ich nicht.«

»Glauben Sie mir, Sie wollen sie.«

»Die Leute werden sagen, es ist der Lohn dafür, dass ich meine Freunde verraten habe.«

»Himmel noch mal!« Er knallt Petrarca auf den Tisch. »Ihre Freunde? Wie haben sie ihre Freundschaft je gezeigt? Was war Weston – eine grinsende Puppe, die ihren Schwanz nicht in der Hose halten konnte. Oder Brereton, dieser Aufschneider! Ich sage Ihnen, seine Leute im Norden sollten gewarnt sein. Sie denken, sie schreiben ihre eigenen Gesetze, aber die Zeiten sind vorbei. Es gibt keine privaten Königreiche mehr. Es gibt nur ein Gesetz, und das ist das Gesetz des Königs.«

»Seien Sie vorsichtig«, sagt Wyatt, »Sie stehen kurz davor, sich zu offenbaren.«

Oder fast, denkt er. »Ich habe Blut geschwitzt, um Sie zu retten, Tom. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden.«

Wyatt hebt den Blick. »Ich werde Ihnen sagen, warum ich noch lebe. Es ist nicht, weil ich Angst vor dem Tod habe oder zufrieden damit bin, in Schande zu leben. Es ist, weil eine Frau ein Kind von mir bekommt. Wäre es nicht so, hätten Sie, um Anne tot zu sehen, anders vorgehen müssen.«

Er starrt ihn an. »Wer ist sie?« Er setzt sich auf einen dreibeinigen Hocker. »Sie wissen, dass Sie es mir früher oder später sagen werden.« Ihm kommt ein Gedanke. »Ist es Edward Darrells Tochter? Die Katherine gefolgt ist, als der König sie weggeschickt hat?«

Wyatt senkt den Kopf.

»Können Sie keine Frau lieben, die nicht im Begriff ist, Sie zu verletzen?«

»Ich bin, wie ich bin, auch wenn das eine schwache Entschuldigung ist.«

Er sagt: »Ich erinnere mich an Bess Darrell als Kind, im Haushalt in Dorset. Ich habe Geschäfte für die Familie gemacht. Ich weiß, Darrell war Katherines Kämmerer, er war ihr in Treue verbunden, aber jetzt ist er tot, und das Mädchen war nie jemandem verpflichtet.«

»Denken Sie, bei Anne Boleyn wäre sie besser aufgehoben gewesen?«

Ein guter Punkt. »Im Kloster. Aber ich nehme an, Sie sehen das anders.«

»Das ist wohl so«, sagt Wyatt traurig. »Ich liebe sie, und das schon seit langer Zeit. Nur weil sie nicht am Hof war, konnten wir es geheim halten.«

Als ich nach Kimbolton geritten bin, denkt er, zu Katherine, hat sich Bess da im Dunkel versteckt gehalten? Er erinnert sich an die alten Spanierinnen: Sie trauten der Küche nicht, und so kochten sie für Katherine in ihrem eigenen Zimmer, und der Rauch und der Geruch von Gemüsewasser hing in ihren Kleidern fest. Sie beleidigten ihn in ihrer Sprache und fragten sich laut, ob er behaart wie der Satan sei. Er sieht sich zu Katherine kommen, sieht sie in ihren Pelz gehüllt. Der Geruch von Hinfälligkeit umfängt ihn, aus dem Augenwinkel sieht er eine schlanke Gestalt mit einer Schüssel davongleiten. Er dachte, ihre Magd trägt ihr Erbrochenes davon, als wäre es eine geweihte Hostie. Das muss Darrells Tochter gewesen sein, das goldene Haar unter der Bedienstetenhaube.

»Ich habe sie angefleht«, sagt Wyatt, »wenn sie Katherine schon nicht verlassen wolle, dann doch wenigstens den Eid zu schwören, als es ihr gesagt wurde. Was ändert es für dich, Bess, habe ich gesagt, wenn der König sich zum Oberhaupt der Kirche machen will? Ich habe ihr erzählt, an wem alles ein Exempel statuiert wurde, habe getan, was ich konnte. Auch Bischof Gardiner hätte nicht eindringlicher sein können. Aber sie wollte sich Henry nicht fügen. Sie war bei Katherine, als sie starb.«

»Geld?«, fragt er.

»Sie hat keins. Was Katherine ihr hinterlassen hat, wurde ihr nie ausgezahlt. Sie hat keinen Beschützer, wenn ich versage. Wobei sie weiß, ich bin verheiratet und dass sich daran nichts ändern lässt. Zurück zu ihrer Familie kann sie nicht, mit meinem Kind im Leib. Nach Allington kann ich sie auch nicht schicken, mein Vater wird sie nicht empfangen. Ich weiß nicht, wer sie bei sich aufnehmen wird: Die Familie meiner Frau hat alle gegen mich aufgebracht. Das Ganze wird sie jubilieren lassen. Sie lieben nichts mehr, als zu sehen, wie ich mich durch Dornen kämpfen muss.«

Wyatt wird den Namen seiner Frau nicht aussprechen, nicht, wenn es anders geht. Er hat ein Kind mit ihr, einen Jungen, aber Gott allein weiß, wie es dazu gekommen ist.

»Allington ist die beste Lösung. Soll ich mit Ihrem Vater sprechen?«

»Er ist krank. Ich will ihm das ersparen. Ich fürchte seine Verachtung, und ich weiß, ich habe sie verdient.«

Er will sagen, es ist keine Verachtung, es ist das Gegenteil, er liebt und bewundert Sie, aber das Schicksal hat ihn schroff werden lassen. Als Henry Wyatt in dieser Festung eingesperrt war, saß er in keinem luftigen Raum, sondern lag angekettet in einer Zelle und lauschte angestrengt auf die Schritte seiner Folterer und das Klirren ihrer Schlüssel. Folterer brauchen keine besonderen Mittel oder speziellen Apparaturen. Schmerzen lassen sich mit allem zufügen, mit Dingen des täglichen Gebrauchs. Die Wärter zogen Wyatts Kopf nach hinten, zwangen ihm eine Kandare in den Mund und schütteten ihm Senf und Essig in die Nasenlöcher, sodass er halb ertrank an dem beißenden Gemisch, ausspuckte, was er konnte, und den Rest inhalierte. Thronräuber Richard kam, um ihn leiden zu sehen, und drängte ihn, dem Tudor seine Gefolgschaft zu entziehen, der sich außerhalb des Reiches befand, ein Mann ohne Hoffnung und die nötigen Mittel. »Wyatt, warum seid Ihr so ein Narr? Ihr dienet einem ärmlichen Flüchtling für nichts als den Schein des Mondes im Wasser. Vergesset ihn und werdet mein, der Euch belohnen kann.«

Er wollte nicht aufgeben. Blutend warfen sie ihn ins Stroh, in die Dunkelheit. Die Zähne hatten sie ihm ausgeschlagen, und er erbrach sich auf den verdreckten Boden. Sein Magen war leer, in seiner Kehle ätzte es, er hatte weder sauberes Wasser, noch brachten sie ihm Brot, als er wieder etwas zu essen vermochte. Wyatt sagt: »Es mag eine nette Geschichte sein, dass eine Katze kam und meinem Vater Essen brachte. Ich habe es nie geglaubt, selbst als Kind nicht. Ich dachte, es wäre eine Geschichte für einfachere Gemüter als mich. Jetzt verstehe ich, was es bedeutet, eingesperrt zu sein. Gefangene glauben alle möglichen Dinge. Eine Katze wird kommen und uns retten. Thomas Cromwell bringt den Schlüssel.«

»Ich frage mich, ob Bess heute den Eid leisten würde. Katherine ist tot, und es würde sie nicht beleidigen.«

»Ich habe sie nicht gefragt«, sagt Wyatt, »und ich werde es auch nicht. Henry wird sie deswegen doch nicht verfolgen? Er hat genug Leute, die ihm sagen, dass er das Oberhaupt der Kirche ist und gleich neben Gott steht. Und wir hoffen, dass Lady Mary uns hilft, wenn sie zurück an den Hof kommt. Sie muss doch etwas für eine Frau übrig haben, die ihrer Mutter die Hand gehalten hat, als sie starb.«

»Zweifellos«, sagt er. »Aber während Sie hier mit Petrarca sitzen, bewegt die Welt sich weiter. Der König wird auch von Mary fordern, den Eid abzulegen. Wenn sie es ablehnt, leistet sie Ihnen hier Gesellschaft.«

Wyatt wendet den Blick ab. »Dann müssen Sie uns helfen. Meine Ehre steht auf dem Spiel.«

Er denkt, wo war dein Ehrempfinden, als du Bess Darrell die Röcke hochgehoben hast? Er steht von seinem Hocker auf und stößt mit dem Fuß dagegen. Was für ein erbärmlicher Ort für einen Rat des Königs. »Ich werde mit Bess reden. Es muss irgendwo einen Platz für sie geben. Nehmen Sie das Geld des Königs. Sie brauchen es.«

»Ich werde Ihnen gehorchen«, sagt Wyatt, »wie es mir mein Vater gesagt hat. Wahrscheinlich können Sie irren wie alle Menschen, und Gott weiß, vielleicht steuern Sie geradewegs in eine Katastrophe. Für mich führen alle Wege dorthin. Ich komme an einen Scheideweg und würfle, und wie immer das Ergebnis ist, es ändert nichts: Es ist ein Sumpf oder ein Abgrund oder das Eis. Und so folge ich Ihnen wie das Gänseküken seiner Mutter. Oder wie Dante Vergil. Selbst noch in die Unterwelt.«

»Ich bezweifle, in diesem Sommer weiter als bis an die Südküste zu kommen. Vielleicht auf die Isle of Wight.« Er nimmt das Buch mit den Versen. Es ist unbeschädigt, obwohl der Einband weich wie die Haut einer Frau ist: ein venezianischer Druck, der Titel steht in einem Holzschnitt vom Himmel fallender Putten, das Zeichen des Druckers ist ein Seeungeheuer. Angenommen, jemand hat die verstreuten Verse Wyatts gesammelt – die auf die Rechnung eines Waffenschmieds gekritzelte Idylle, das Gedicht, das eine Frau sich auf die nackte Brust drückt? Wenn sich ein Herausgeber des Lebens dieses Dichters annähme, stieße er auf eine Geschichte, die viele ruinieren könnte. Wyatt sagt: »Sie geht mir nicht aus dem Kopf, Anne Boleyn. Ich sehe sie so, wie ich sie zuletzt gesehen habe, hier an diesem Ort.«

Er denkt, ich sehe sie auch, ihren tapferen kleinen Hut mit der Feder. Ihre müden Augen.

Er geht hinaus: »Martin! Wer hat Wyatt so ein ärmliches Mobiliar gegeben?«

»Er hat sich nicht beschwert, Sir. Wobei, ein Gentleman, der tut das auch nicht.«

»Aber ich bin ein Lord«, sagt er, »und ich beschwere mich.«

Er denkt, als ich das erste Mal hier war, ist mir der verdammte Hocker nicht aufgefallen. Aber das ist verzeihlich, ich hatte gerade dabei zugesehen, wie der Henker aus Calais seine Kunst vorführte.

In Austin Friars wartet Gregory: »Fitzroy schickt nach Ihnen.«

»Ich war bei Wyatt«, sagt er.

»Und?« Gregory ist nervös.

»Das erzähle ich dir später.« Wir sollten den Sohn des Königs nicht warten lassen.

»Rafe nimmt an, Fitzroy will wissen, ob Sie ihn zum König machen werden.«

»Still.«

»Ich meine, eines Tages«, sagt Gregory. »Es ist kein Hochverrat zu sagen, dass alle Menschen sterblich sind.«

»Nein, aber es ist auch nicht unbedingt die beste Idee.« Er denkt, das war Anne Boleyns Fehler. Sie hat Henry für einen Mann wie andere Männer gehalten. Nicht für das, was er ist und was alle Fürsten sind: halb Gott, halb Tier.

Gregory sagt: »Richard Riche ist hier. Er verfasst eine Treueschrift. Sollen wir gehen und ihm zusehen? Ich sehe ihm gerne bei der Arbeit zu.«

Sir Richard geht durch seine Unterlagen wie ein Rabe durch einen Müllhaufen. Klack, klack, klack, mit seinem Federkiel, nicht dem Schnabel, bis alles vor ihm zerhackt oder zerrissen ist wie ein auf einem Stein zertrümmertes Schneckenhaus.

»Hallo, Mr Speaker«, sagt Gregory.

»Hallo, kleiner Crumb«, sagt Riche gedankenverloren.

Entspannt verfolgt sein gut aussehender Sohn, wie sich Sir Richard abrackert. »Riche hält seinen Namen für einen Hinweis des Schicksals«, sagt Gregory. »Er kann Tinte zu Geld werden lassen. Sie haben einen scharfen Verstand, nicht wahr, Ricardo?«

»Genial«, sagt Riche. »Alles in sich aufnehmend. Mehr würde ich nicht sagen.«

Riches Aufgabe ist es, den König willkommen zu heißen, wenn er das Parlament eröffnet. »Darf ich es Ihnen vorlesen, Sir? Ich bin schon ziemlich weit.«

Er setzt sich. »Tun Sie so, als wäre ich der König.«

»Lassen Sie mich Ihnen einen besseren Hut holen«, schlägt Gregory vor.

Riche sagt: »Mit Verlaub, kann ich anfangen?«

Er liest. Gregory albert herum: »Erinnern Sie sich an den Hut von Botschafter Chapuys? Den wir uns für den Schneemann ausleihen wollten?«

»Still«, sagt er. »Hör auf den Mr Speaker.«

»Ich frage mich, was damit geschehen ist.«

Riche unterbricht sich. »Mögen Sie meinen Anfang?«

»Ich glaube, der König wird ihn mögen.«

»Bin ich also auf dem richtigen Weg? Als Nächstes vergleiche ich seine Weisheit mit der Salomos.«

»Mit Salomo können Sie nichts falsch machen.«

»… dann kommt Samson, wegen seiner Kraft, und Absalom wegen seiner Schönheit.«

»Moment«, sagt Gregory, »Absalom hatte üppiges Haar, sonst hätte er sich nicht im Geäst eines Baumes verfangen können. Das Haar des Königs ist … nun … es ist weniger überreich. Er mag denken, Sie machen sich über ihn lustig.«

»Niemand wird den Mr Speaker des Spotts verdächtigen«, sagt er mit fester Stimme.

»Trotzdem«, sagt Gregory, »das Verhalten Absaloms war mitunter erbärmlich.«

»Legen Sie Ihre Rede zur Seite«, sagt er. »Kommen Sie mit zu Fitzroy.«

Riche ist mehr als bereit. Christophe kommt herbeigerannt, als sie das Haus verlassen. »Gehen Sie nicht ohne mich, Sir. Was, wenn Sie irgendein Rüpel belästigt? Sie sind jetzt ein Lord, Ihnen muss jederzeit jemand mit Kraft zur Seite stehen.«

»Und die hast du?« Riche ist amüsiert.

»Lassen Sie ihn mit uns kommen, er macht sich gern nützlich.«

Er hält Christophes blasse Anwesenheit zunehmend für einen Vorteil. Niemand verhält sich vor solch einem Simpel besonders vorsichtig. Als sie hinausgehen, fasst er ihn vorne bei seiner Livree, richtet ihn auf und zupft ihm ein paar Flusen herunter. »Das solltest du bei mir tun«, sagt er. »Warst du heute Nacht bei mir im Zimmer?«

»In der Nacht habe ich geschlafen«, sagt Christophe. »Es war wohl irgendein alter Geist.«

»Sicher nicht«, sagt Riche. »Ich habe noch nie von Geistern gehört, die im Juni umgehen.«

Da ist was dran. Es waren wohl die verschleierten Ladies – lebendige Frauen, soweit man weiß –, die sich um ihn gekümmert haben, bis der Morgen kam und sie in der Wand aufgingen. Er erinnert sich an die Tupfen auf ihren Kleidern und die Streifen Finsternis, wo das Blut der Königin Spuren hinterlassen hatte.

Der König ist auf der Jagd, aber da sich Richmonds Ärzte besorgt zeigen, ist sein Sohn in London geblieben, in St. James’s, dem Palast auf dem Gelände, das früher zum alten Krankenhaus gehörte. Es war vom Tyburn überschwemmt worden, und sie haben es gesäubert und trockengelegt, und jetzt ist es ein hübscher Park. St. James’s ist ein Rückzugsort für den König und seine Familie, weit weg von den Mengen, die sich um Whitehall drängen.

Der Hof hinter dem Tor ist voller Gerüste, und als sie hereinkommen, schallen ihnen die Rufe der Arbeiter entgegen, dazu lautes Hacken und Hämmern. Kaum, dass die hohen Herren gesichtet werden, verstummt der Lärm, doch die Schläge von Metall auf Stein hallen noch zwischen den Mauern wider. Ein Arbeiter rutscht eine Leiter herunter und zieht sich die Mütze vom Kopf. »Wir schlagen die HA-HA herunter, Sir.«

Die Initialen meint er, von Henry und der toten Königin: so innig miteinander verbunden wie kopulierende Schlangen.

»Ich möchte, dass ihr eine Stunde lang Ruhe gebt, während ich mit Mylord Richmond spreche.«

Der Mann schlägt sich den Staub von der Mütze. »Das wagen wir nicht, Sir.«

»Gehorchen Sie diesem Mann«, sagt Christophe.

»Sie werden für die Zeit bezahlt«, drängt er.

»Das wird der Vorarbeiter schriftlich brauchen.«

Er legt dem Mann seine Hand flach auf den Kopf und zieht ihn nahe an sich heran, Nase an Nase. »Soll ich deinem Vorarbeiter nicht einen Liebesbrief schreiben? Sag mir seinen Namen, und ich male seine Initialen in ein Herz.« Er riecht den Schweiß des Mannes. »Christophe, geh in die Küche und bitte um Brot, Ale und Käse für diese Leute. Sag, Cromwell will es so.«

Der Mann setzt sich seine Mütze wieder auf. »Es ist sowieso Essenszeit. Wenn Sie König Harry sehen, sagen Sie ihm, wir heben einen Becher auf seine neue Braut.«

In einem kleinen holzvertäfelten Raum hinter dem Audienzzimmer empfängt sie der junge Herzog von Richmond als kranker Mann. Er trägt einen langen Umhang und eine Schlafmütze. »Ich hatte Fieber letzte Nacht, und so wollen mich die Ärzte wieder nicht hinauslassen.«

Ein paar Regentropfen treffen aufs Fenster. »Es ist kein schöner Tag, Sir. Drinnen ist es am besten.«

»Es ist nicht das Schweißfieber, Mylord«, sagt Riche beruhigend.

»Nein«, sagt der Junge. »Dann hätte ich Sie nicht hergerufen, Masters, damit Sie sich nicht anstecken.«

Sie verbeugen sich dankbar dafür, dass man sich um ihr Leben sorgt: die einfachen Männer, die sie am Ende sind.

»Und auch nicht die Pest«, fügt Riche hinzu. »Im Umkreis von fünfzig Meilen gibt es keinen einzigen Fall. Wenigstens bis jetzt.«

Er lacht laut auf. »Erinnern Sie mich, Sie nicht zu empfangen, sollte ich je krank werden. Ist das eine Art, Mylord aufzuheitern?«

Steif bittet Riche den Herzog um Entschuldigung. Aber er ist verwirrt: Was war da witzig?

Fitzroy sagt: »Riche, ich danke Ihnen für Ihre liebenswürdige Anteilnahme, doch jetzt spräche ich gerne mit dem Master Sekretär.«

Riche möchte nicht gleich weichen. »Mit allem Respekt, Mylord, der Master Sekretär hat keine Geheimnisse vor mir.«

Wie sehr du dich da täuschst, denkt er. Riche schwankt, zögert und geht sich verbeugend hinaus. Fitzroy sagt: »Das Hämmern hat aufgehört.«

»Ich habe sie mit Brot und Käse bestochen.«

»Sie können für mich nicht schnell genug sein. Ich will sie weghaben, diese Frau. Alle Spuren von ihr. Alles, was sichtbar ist.« Der Junge wirft einen Blick aus dem Fenster, als würde ihm von draußen jemand Zeichen geben. »Cromwell, gibt es so etwas wie langsam wirkende Gifte?«

Er ist verblüfft. »Gott segne Ihre Lordschaft.«

»Ich dachte, vielleicht, da Sie in Italien waren …«

»Sie haben den Verdacht, dass die tote Königin Sie vergiftet hat?«

»Mein Vater sagt, sie hätte es getan, wenn sie gekonnt hätte.«

»Ihr Lord Vater war in einem Zustand von …« Was? »Die Verbrechen der toten Königin haben ihn schockiert.«

»Und diese Verbrechen waren größer, oder nicht, als das, was berichtet wurde? Mylord Surrey sagt mir, dass ihm Beweise offenbart wurden, die vor Gericht nicht zur Sprache gekommen sind. Es ist Schlimmeres geschehen, als zugegeben wurde. Ich hätte sie strenger bestraft.«

Wie?, fragt er sich. Was hätten Sie getan, Sir? Ihr den Kopf mit einem rostigen Küchenmesser abgehackt? Sie auf grünem Holz verbrannt?

»Und«, sagt Richmond, »sie war eine Hexe.« Seine Finger ziehen rastlos an der Schnur seiner Mütze. »Manche Leute glauben nicht an Hexen, auch wenn der heilige Thomas von Aquin von ihnen spricht. Ich habe gehört, dass sie Milch sauer werden und Vieh eingehen lassen können. Sie lassen Pferde auf ihrem Weg scheuen – immer an derselben Stelle, damit sich der Reiter verletzt.«

Er denkt, wenn es immer an derselben Stelle passiert, sollte der Reiter aufpassen.

»Sie können den Arm eines Mannes verkümmern lassen. Hat der Thronräuber Richard nicht dieses Schicksal erlitten?«

»Das hat er behauptet, und doch war sein Arm nach dem Fluch so gut wie zuvor.«

»Manchmal tun sie Kindern Böses. Mit Gebeten können sie das, die sie rückwärts sprechen. Oder mit Gift. Denken Sie nicht, dass es Anne Boleyn war, die den Mylord Kardinal vergiftet hat?«

Damit hat er nicht gerechnet. Wahrheitsgemäß sagt er: »Nein.«

»Aber er ist keines natürlichen Todes gestorben, das habe ich von weisen und diskreten Gentlemen gehört.«

»Vielleicht hat jemand seine Ärzte bestochen.« Er denkt an Dr. Agostino, der als Gefangener aus Cawood geholt wurde, die Füße unter dem Pferd zusammengebunden. Wohin ist er verschwunden? Direkt in Norfolks Verwahrung. Er kann dem Jungen nicht sagen, dass, wenn es hier einen Giftmischer gibt, es wahrscheinlich sein eigener Schwiegervater ist.

Fitzroy sagt: »Als ich noch ein kleines Kind war – ich glaube, das habe ich Ihnen schon einmal erzählt –, hat mir der Kardinal eine Puppe mitgebracht. Sie hatte mein Gesicht und trug ein Kleid, das ganz mit englischen und französischen Wappen bestickt war. Ich weiß nicht, wo sie heute ist.«

»Ich kann nach ihr suchen lassen, Sir. Sie denken nicht, dass Ihre Lady Mutter sie hat?«

Daran hat der Junge nicht gedacht. »Ich glaube nicht. Das war nach unserer Trennung. Jetzt hat sie andere Kinder und denkt sicher nicht mehr an mich.«

»Im Gegenteil, Sir. Sie sind der Ursprung ihres Glücks, ihrer gegenwärtigen ehrbaren Ehe und ihres Ranges. Ich bin sicher, sie schließt Sie in ihre Gebete ein.«

Sechs oder sieben Jahre lang leben männliche Nachkommen bei den Frauen. Dann werden sie eines Tages, ohne Diskussion oder dass es eine Wahl gäbe, von ihnen weggeholt, das Haar wird ihnen geschnitten, sodass sie immer kalte Ohren haben, und sie werden in die unfreundliche Welt gestoßen, wo man sie kritisiert und bestraft, und bis sie heiraten, gibt es Güte nur noch gegen Geld. So ist er, Cromwell, natürlich nicht großgezogen worden. Mit fünf schon zog er los, um den Altmetallvorrat der Schmiede aufzubessern. Mit sechs war er bei den Lehrlingen seines Vaters, unter ihrer Fuchtel, und gewöhnte sich an die weiß glühenden Funken, die spritzten und flogen, sowie an den durchdringenden Klang von Hammer und Amboss, der in seinem Kopf nachhallte, wenn die Arbeit des Tages getan war. Mit sieben konnte er fluchen, aber kaum lesen und verwilderte wie der Sohn eines Kesselflickers.

Richmond sagt: »Als Kind wusste ich nicht, dass Wolsey von niederer Geburt war. Er kam mir wie ein äußerst grandioser Mann vor. Nun, sein Ende war erbärmlich. Er hatte Glück, nicht durch die Axt zu sterben. Sie sagen, sein Herz versagte, auf der Straße, und das hat ihn umgebracht.«

Das ist durchaus eine Möglichkeit. Wer denkt, ein Herz kann nicht versagen, führt ein gesegnetes, geschütztes Leben. Fitzroy rutscht in seinem Sessel herum. »Denken Sie, Jane, die Königin, wird einen Jungen bekommen?«

»Ganz England weiß, Mylord, dass sie aus einer fruchtbaren Familie stammt.«

»Ja, aber wenn es wahr ist, was vor Gericht behauptet wurde, dass der König keine Frau befriedigen und begatten kann, wie er es sollte …«

»Ich rate Ihnen, Sir, ich rate Ihnen ernsthaft, das Thema nicht weiter zu verfolgen.«

Aber Richmond ist ein Königssohn, und er fährt fort: »Mein Bruder Surrey sagt mir«, er meint seinen Schwager, »mein Bruder Surrey sagt, das Parlament hat Unrechtes getan, als es das neue Nachfolgegesetz formuliert hat. Sie haben es dem König übertragen, seinen Erben zu bestimmen, wo sie mich doch hätten benennen sollen.«

Gott sei Dank hat der Junge genug Vernunft bewiesen, Riche aus dem Zimmer zu schicken. Würde Riche das hören, liefe er gleich damit zu Henry.

»Ich will König werden«, sagt Richmond. »Ich bin der Richtige dafür. Surrey sagt, mein Vater sollte das anerkennen. Wenn er jetzt stürbe, hätte ich keine Angst vor der kleinen Eliza, ist sie doch das Kind der Konkubine – oder sie wurde, wie es heißt, gar auf der Straße gefunden. Kein einziger Mann im Land wird einen Finger für ihren Anspruch heben.«

Er nickt. So viel ist wahr.

»Und was Lady Mary betrifft, wenn ich ein Bastard bin, ist sie auch einer, und ich bin ein wahrer Engländer, während sie eine halbe Spanierin ist. Zudem bin ich ein Mann. Im Übrigen sagt man, dass sie keinen Eid auf meinen Vater als Oberhaupt der Kirche leisten wird. Und wenn sie das nicht tut, ist sie eine Verräterin.«

»Mary wird den Eid leisten«, sagt er.

»Sie mag die Worte aussprechen. Sie mag ein Papier unterzeichnen, wenn Sie sie dazu zwingen. Aber mein Mylord Vater wird sie durchschauen. Mary darf keinen Erfolg haben und wird es auch nicht.«

Als er das letzte Mal mit Richmond gesprochen hat, war der Junge zufrieden mit seiner Situation. Wer kann hinter diesem plötzlichen unheiligen Ehrgeiz stehen? Sein Schwiegervater Norfolk? Norfolk mag seine Ränke schmieden, aber er tut es leise. Nein, es ist Norfolks Sohn, dieser dumme, eigenwillige Kerl, der seinen Freund in Richtung eines Throns schiebt, der nicht frei ist. Er sagt: »Hat Mylord Surrey vorgeschlagen, dass …«

»Ich bin mein eigener Herr«, schneidet ihm der Junge das Wort ab. »Surrey ist mein Freund, er gibt mir guten Rat, aber niemand wird mir Dinge diktieren, wenn ich erst König bin, oder mich ködern, wie mein Vater geködert wird. Ich werde mich nicht von Frauen führen lassen.«

Er neigt den Kopf. »Mylord, ich kann die Thronfolge nicht ändern. Die neue Regelung entspricht dem Willen des Königs. Ich sehe nicht, was ich für Sie tun kann.«

»Sie werden einen Weg finden. Alle sagen, dass Sie der Master des Parlaments sind. Wenn ich König bin, werde ich Sie dafür belohnen.«

Wenn du König bist? »So lange werde ich kaum leben.«

»Ich denke, schon«, sagt Richmond. »Seit seinem Sturz im Januar ist das Bein meines Vaters entzündet. Man sagt mir, die Wunde hat sich wieder geöffnet und ein Kanal führt durch sein Fleisch bis auf den Knochen.«

»Wenn das stimmt, trägt er den Schmerz mit großer Stärke.«

»Wenn das stimmt, kann die Wunde nicht sauber bleiben. Sie wird in Fäulnis übergehen, und er wird sterben.«

Mit jedem Atemzug begeht er Hochverrat und hört es nicht. Er, Cromwell, sieht den Willen in ihm aufkeimen, in diesem Körper, der zu dem eines Mannes wird. Die Haarsträhne, die unter der Mütze hervorrutscht, ist rot, die Farbe der Plantagenets. Sein Urgroßvater Edward IV. würde ihn anerkennen, das Haus York ihn für sich beanspruchen. König Edwards verschwundene Söhne, hätten sie überlebt, würden so aussehen, mit diesem Schimmer in den Augen, wie Licht, das sich auf der Klinge eines Schwertes bricht, diese glatte Haut, die sich verfärbt und verblasst und jede Erregung verrät. Richmond sagt: »Wenn der Mylord Kardinal noch lebte, würde er mich zum König machen. Sein Rat war, ich solle König von Irland werden, nicht wahr? In der Weise hätte er auch gewollt, dass ich König von England werde.«

Er wendet sich ab. »Sie sollten sich ausruhen, Mylord, und Ihre Unpässlichkeit überwinden.«

Er denkt, Löwen fressen manchmal ihre Jungen. Ist es ein Wunder?

Der Junge ruft ihm hinterher: »Tun Sie es, Cromwell.«

Er befindet sich in einem Zustand dumpfer Verwunderung, wie jemand, der einen Schlag erhalten hat, aber nicht weiß, woher. Gott, hilf mir, was sind das für Prinzen? Denken den ganzen Tag an Mord. Einen Vatermord, jetzt. Als hielte der Sommer nicht genug Überraschungen bereit. Riche lehnt an der Wand und schwatzt mit Francis Bryan. Sie drücken die Rücken durch, als sie ihn sehen. Bryans mit Edelsteinen besetzte Augenklappe zwinkert wissend in seine Richtung. »Grüße aus Frankreich. Bischof Gardiner schickt Ihnen seine allerbesten Wünsche, Küsschen-Küsschen. Ich bin nur bis zum Gezeitenwechsel hier. Sendungen einsammeln. Dem König was ins Ohr flüstern. Nach Ihnen sehen. Gardiner glaubt nicht, dass Sie ein Baron werden. Er meint, Ihr Glück kann nicht von Dauer sein.«

»Meint er das? Küssen Sie ihn zurück.«

»Oh, das werde ich«, sagt Francis. »Er fragt sich, warum Sie Katherines Kleine so mögen. Er behauptet, Sie beschützen Mary, und er sagt, passen Sie auf: ›Wenn sie Henry als Oberhaupt der Kirche nicht anerkennt, ist das genauso Hochverrat, als lehnte sie ihn als König ab.‹ Und weiter: ›Glauben Sie mir, Francis, Cromwell wird zu weit gehen, diese Geschichte wird ihn zu Fall bringen.‹«

»Danke«, sagt er. »Sie sind mir eine große Hilfe, Francis.«

Riche scheint beklommen. Meint der Master Sekretär das ironisch? Riche kann es nicht sagen. Er fragt: »Was wollte Fitzroy, Sir? Ich nehme an, er hat Schulden?«

»Wie viel?« Als alten Verschwender interessiert Bryan der vielversprechende einschlägige Nachwuchs.

»Er hat vom Kardinal geredet. Ich glaube, er leidet unter einem Anfall von Melancholie.«

Riche sagt: »Wenn Sie sich Sorgen um seine Gesundheit machen, sollten wir dann nicht mit dem König reden?«

»Er hat die besten Berater. Und der König wird sich nicht in seine Nähe begeben, Sie wissen, wie er auf Krankheiten reagiert.«

»Aber er ist auch zu Ihnen gekommen, als Sie ein Fieber hatten.«

»Erst, als ich es überwunden hatte. Im Übrigen war es ein besonderes italienisches Fieber.«

Ein richtiges, bis ins Mark gehendes Wechselfieber, nicht wie die kleinen Schweißausbrüche und das Zittern, das die befällt, die noch nie südlich des kentschen Marschlandes waren.

»Das war eine beachtliche Geste seiner Gunst.« Riche klingt neidisch.

Das Fieber wird zurückkommen, denkt er. Und Henry wahrscheinlich auch. Er glaubt nicht, dass der König bald sterben wird – auch wenn ein Mann ebenso gut tot sein kann, wenn sich sein Sohn gegen ihn wendet. Der Vater liebt den Sohn, aber der Sohn nicht den Vater. Der Sohn will ihn loswerden. Er will seinen Platz einnehmen. So geht es. Natürlich. So muss es sein.

Er denkt an den Kardinal am Tag seiner Verhaftung – wie Harry Percys Männer in seine Wohnstatt polterten, die Hand, die er sich auf die Rippen legte. »Ich habe da einen Schmerz«, sagte er. »Einen Schmerz, kalt wie ein Wetzstein.« Wenn ihm das Herz brach, wer steckte dahinter? Niemand außer dem König selbst.

»Soll ich die Männer zurück an die Arbeit beordern?«, fragt Riche.

Francis sagt: »Mir wurde gesagt, dass immer noch einer von Katherines geschnitzten Granatäpfeln am Dachgebälk in Hampton Court baumelt. Ich selbst kann ihn nicht sehen. Die Ärzte sagen, wenn man ein Auge verliert, fängt auch das andere an, schlechter zu werden. Ich werde erblinden und auf der High Road um Almosen betteln, und der gute Bischof Gardiner wird mich führen.«

Rafe Sadler und Thomas Wriothesley kehren aus Hunsdon zurück, ohne ein Papier von Mary in der Hand, ohne ihren Eid. Wriothesley sagt: »Warum haben Sie uns zu ihr geschickt, Sir? Sie müssen gewusst haben, dass wir keinen Erfolg haben würden.«

»Wie sah sie aus?«

»Krank«, sagt Rafe.

»Der König ist voller Wut auf ihre Ratgeber«, sagt er.

»Ganz ehrlich«, sagt Rafe, »ich glaube nicht, dass es an ihren Ratgebern liegt. Es ist ihr eigener starrköpfiger Stolz.«

»Was immer.« Er ist nicht interessiert.

Wriothesley sagt: »Sir, schicken Sie mich nie wieder dorthin.« Inbrünstig, er wird rot. »Wenn Ihnen Master Sadler nicht sagen will, wie es war, werde ich es tun. Das Haus war voll mit Nicholas Carews Leuten, Bediensteten der Courtenays und anderen in der Livree von Lord Montague. Sie sind dort ohne Ihre Erlaubnis und haben damit geprahlt, sie sagen, es macht nichts, Cromwell ist am Ende – Mary kehrt zurück an den Hof, der Papst wird wieder anerkannt und die Welt in ihr altes Recht zurückversetzt.«

»Sie haben sie ›Prinzessin‹ genannt«, sagt Rafe, »und es war ihnen egal, wer es hörte.«

»Wir haben sie mit ›Lady Mary‹ begrüßt«, sagt Nennt-Mich. »Sie schien außer sich und erwartete eindeutig, mit ›Prinzessin‹ angesprochen zu werden und dass wir vor ihr niederknieten. Dann, als wir Ihre Grüße überbrachten, brach es aus ihr heraus: ›Sagt mir, wie sie gestorben ist!‹ Alles, was sie wollte, war Anne Boleyn verfluchen. Wir sagten, sie ist ruhig gestorben, und Rafe sagte …«

»… ›ein Beispiel eines christlichen Abschieds.‹« Rafe wendet den Blick ab, erstaunt über seinen eigenen Satz: Er war nicht mal dabei.

»Aber das wollte sie nicht hören. Sie nannte Anne eine ›Kreatur‹ und sagte, sie hätte bei lebendigem Leib verbrannt werden sollen. Sie wollte wissen, was für Gebete sie gebetet hat, war sie bleich, hat sie gezittert … Ich hätte nicht gedacht, dass ein junges Mädchen so grausam sein und eine Frau eine andere so hassen könnte. Mit Verlaub, ich hätte speien können. Sie hat ein schwarzes Herz, und sie hat es uns gezeigt.«

Rafe sieht Nennt-Mich an. »Genug«, sagt er. »Es war schwer, aber es ist getan. Im Übrigen, Sir, scheint Mary nicht so unverrückbar in ihrer Entscheidung, wie es ihre Leute glauben. Sie fragte: ›Was, der Master Sekretär kommt nicht selbst?‹ Es war fast, als wartete sie auf Sie. Damit sie den Eid ablegen kann, ohne dass man es ihr vorwerfen kann. Sie wird der Welt erzählen, Sie hätten sie bedroht und dazu gezwungen, und Rom, und ganz Europa, wird es glauben.«

»Ich hätte es lieber, wenn sie aus freien Stücken gehorchen würde. Was immer die Welt sagt.«

»Gehorchen?« Nennt-Mich kann es nicht glauben. »Ich habe nie jemanden erlebt, der weniger gewillt schien, nachzugeben oder zu gehorchen. Worüber denkt sie nach, nachts im Bett? Liegt sie wach und ersinnt Folterqualen? Sir, Sie wissen, ich zucke da nicht zurück. Ich weiß, was für Dinge gemacht werden. Ich war im Tower, als Sie den Bruder an seinen Händen aufgehängt haben …«

»Habe ich nicht …«, sagt er.

»… und habe nichts dagegen eingewandt. Ich wusste, seine Schreie waren die eines verräterischen Schurken, der immer noch seine Pflicht erkennen und sich retten könnte …«

»Ich habe nichts getan«, sagt er. »Rafe? Erkläre es ihm.«

»Da täuscht Sie Ihre Erinnerung, Nennt-Mich«, sagt Rafe ruhig. »Es ging die Rede, ihn aufzuhängen. Aber tatsächlich geschehen ist es nur in Ihrer Einbildung.«

»In der Einbildung des Ordensbruders«, sagt er, Cromwell. »Das war es. Ich habe seine Einbildung in Gang gesetzt.«

»Dann tun Sie es auch bei Mary«, sagt Nennt-Mich. »Sehen wir, ob ihre Einbildung sie so krank macht, wie sie mich krank macht. Sie denkt, ihr Cousin, der Kaiser, wird das Meer auf einem weißen Pferd überqueren und sie zu sich auf den Sattel heben. Sagen Sie ihr, dass niemand sie retten oder für sie eintreten wird, aber ihr Vater wird ihr wehtun und ihren Willen brechen.«

Juni: Der Herzog von Richmond zieht mit den Lords ins Oberhaus. Sein heranwachsender Körper unter dem heißen Gewicht der Parlamentsrobe lässt bereits die schweren Muskeln seines Vaters erkennen. Sein schönes Gesicht ist von Ahnungen eingefärbt, als spürte er seine Zukunft wie eine warme Brise.

Dem König scheint Richard Riches Eröffnungsrede zu gefallen. Er hat nichts gegen die Vergleiche mit König Salomo und König David. Und er hat vergessen, dass Absalom sagte: »Ich habe keinen Sohn, der meinen Namen in Erinnerung hält.«

Es sind nicht nur die Leute in Hunsdon, die glauben, mit dem Wechsel der Königin wird sich auch alles andere umkehren und England sich wieder Rom zuwenden. Als Antwort darauf bringt er, Lord Cromwell, ein Gesetz ein, das Gesetz zur Auslöschung der Autorität des Bischofs von Rom. Schon im Titel wird klar, worum es geht.

So wie das Parlament zusammentritt, gibt es in der Provinz Canterbury eine Synode. Das Geknister und Gemurre, die Rügen und Debatten, alte Bischöfe, neue Bischöfe – meine Bischöfe, hat Anne sie genannt. Sie disputieren von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang über die Sakramente, ihre Natur, ihre Anzahl, welche löblich sind, welche götzendienerisch, wem es erlaubt sein sollte, die Schrift zu lesen, und in welcher Sprache. Er thront zwischen ihnen, der Vicegerent der Kirche unter Gott und dem König, während er einst, in den Tagen Erzbischof Mortons, der kleinste und niedrigste der Jungen war, die in der Küche von Lambeth Palace Gemüse schrubbten. Gregory ruft: »Zu denken, dass mein Vater über all den Bischöfen steht!«

»Ich stehe nicht über ihnen, ich bin nur …« Er hält inne. »Stimmt. Du hast recht.«

Seit der Woche, da die Lady hingerichtet wurde, ist sein Erzbischof schwer zu fassen. Jetzt, in einem Nebenraum sitzend, wird Cranmer geschäftig. Er zieht ein Bündel Papiere hervor. Die einzelnen Blätter sind voller handschriftlicher Änderungen. »Sehen Sie«, sagt er, »wie mich Bischof Tunstall völlig umgeschrieben hat.« Er greift nach einer Feder. »Jetzt verbessere ich Bischof Tunstall.«

»Tun Sie das.« Hugh Latimer klopft dem Erzbischof auf die Schulter. »Cromwell, wie kann es sein, dass Richard Sampson zum Bischof gemacht wurde? Er schmeckt so nach Papist, dass ich denke, ich kaue auf dem Bischof von Rom persönlich.«

Cranmer sagt: »Er hat die Annullierung der königlichen Ehe eiligst durchgebracht, deshalb, es ist seine Belohnung. Obwohl ich wünschte, der König … Ich wünschte, er hätte sich eine Zeit des Nachdenkens zwischen den beiden …«, seine Stimme versiegt, »… vor der neuen …« Er legt die Papiere vor sich hin und reibt sich die Augen. »Ich verkrafte das nicht«, sagt er.

»Anne war unsere gute Lady«, sagt Hugh. »Das haben wir gedacht. Wir waren völlig fehlgeleitet.«

»Ich habe ihr die letzte Beichte abgenommen«, sagt Cranmer.

»Ja«, sagt er. »Und?«

»Cromwell, Sie erwarten doch nicht, dass ich Ihnen erzähle, was sie gesagt hat?«

»Nein. Aber ich dachte, Ihr Gesicht würde es mir vielleicht verraten.«

Cranmer wendet sich ab.

Latimer sagt: »Die Beichte ist kein Sakrament. Sagen Sie mir, wo Christus sie eingerichtet hat.«

Cranmer sagt: »Dazu werden Sie die Zustimmung des Königs nicht bekommen.«

Henry gefällt es, seine Sünden auszusprechen und Vergebung zu erfahren. Sie tun ihm stets ernsthaft leid, und er wird es nicht wieder tun. In diesem Fall vielleicht tatsächlich nicht. In die Versuchung, deiner Frau den Kopf abzuschneiden, kommst du nicht jedes Jahr.

»Thomas …«, sagt der Erzbischof. Er macht eine Pause. Sein Gesicht zeugt von seinen inneren Kämpfen. »Thomas … was den Sitz in Wimbledon angeht …«

Hugh starrt ihn an. Was immer er dachte, was Cranmer sagen würde, das war es nicht.

»Da er Teil Ihres neuen Titels ist«, sagt Cranmer, »werden Sie ihn wollen, nehme ich an. Im Moment gehört er mir – der Erzdiözese, sollte ich sagen.«

»Und das Haus in Mortlake«, sagt er, Cromwell. »Wenn Sie dem zustimmen. Der König wird Sie entschädigen.«

Hugh Latimer sagt: »Das können Sie kaum ablehnen, Cranmer. Sie schulden Cromwell Geld.«

Die Bischöfe möchten eine Erklärung gemeinsamen Glaubens formulieren, die der Bosheit der Neider und den Missdeutungen der Narren widersteht, die den deutschen Geistlichen gefällt, mit denen sie ein Einvernehmen finden wollen, die aber auch die Ängste des Königs beruhigt, der allem Neuen misstraut und den deutschen Neuerungen ganz besonders. Sie wollen eine Erklärung herausgeben, und wenn sie bis zum nächsten Osterfest dafür brauchen. In Anbetracht der Differenzen, die sie dafür beizulegen haben, und all derer, denen sie damit gefallen wollen, wäre es eine Überraschung, wenn sie vor Verlöschen der Sonne und Erkalten der Erde zu einer Einigung fänden.

Wir brauchen den Rat toter Männer, sagt Hugh Latimer. Father Thomas Bilney sollte hier bei uns sein. Er hat uns den Weg und die Wahrheit gelehrt und unsere gefühllosen Herzen geöffnet. Aber Little Bilney wurde in einem Graben in Norwich verbrannt, seine Knochen haben sie den Hunden vorgeworfen. Und wann immer man daran denkt, kann man Thomas More kichern hören.

Es ist Latimer, der als Bischof von Worcester mit seiner Predigt die Sitzungsperiode eröffnet. »Definieren Sie mir erst diese drei Dinge: was Klugheit ist, was die Welt, was das Licht. Und wer sind die Kinder der Welt, wer die des Lichts?«

Latimer riecht ebenfalls, wie es brennt. Die Luft um ihn herum ist voller Funken.

Der König, der die Sorge seiner Tochter um ihren Status nicht vergisst, befiehlt dem Herzog von Norfolk, sie in Hunsdon zu besuchen und dazu zu bringen, sich zu fügen. Norfolk rangiert hinter dem jungen Richmond am höchsten im Land.

Norfolk ruft ihn zu sich, um sich über den sinnlosen Auftrag zu beschweren. Der Herzog hat, wie er sagt, Glück, überhaupt eine Aufgabe zu haben. In den zwei Wochen nach dem Tod seiner Nichte wusste Norfolk, wie er zugibt, nicht, wohin er davonlaufen sollte. Hätte er ihm bei ihrem Prozess nicht so gute Dienste geleistet, denkt er, hätte Henry ihn verbannt und ihm seinen Titel genommen. Jetzt, wütend vor Ungeduld, läuft er klingelnd und klappernd auf und ab. Um den Hals trägt er eine schwere goldene Kette, auf der sich die Symbole der Howards mit der Rose der Tudors abwechseln. Unter seinem Hemd, in einem filigran gearbeiteten Kästchen, trägt er Reliquien von Heiligen, verblichene Haare und Knochensplitter, an seiner Schwerthand ein breites goldenes Band mit einem gräulichen Diamanten, der aussieht wie ein abgesplitterter Zahn. »Ich habe Henry erklärt«, sagt er, »sieh her, ich habe keine Salon-Manieren, ich bin kein Mann für Süßholzgeraspel mit einer kleinen Koketten. Wenn Mary meine Tochter wäre … aber das hat keinen Sinn.« Als kämpfte er gegen einen Impuls an, ballt er eine Faust in der anderen.

Die Herzogin von Norfolk hat ihm einmal erzählt, wie Thomas Howard, als er sie heiraten wollte – die bereits einen Liebsten hatte –, ins Haus ihres Vaters gestürmt war und gedroht hatte, alles zu zerschlagen. So hatte sie ihm denn nachgegeben, um es bald schon zu bedauern. Vielleicht wird Mary das Gleiche tun? Die Stimme des Herzogs dröhnt weiter und sieht Rückschläge voraus: »… also wird das Mädchen sagen … Dann sage ich … Ich erkläre ihr, das ganze Reich hält sie für stur und ungehorsam und denkt, sie hat eine exemplarische Strafe verdient … aber der König, aus seiner gütigen und göttlichen Natur heraus … Ist das richtig, Cromwell, sage ich, göttlich?«

»Versuchen Sie es mit ›väterlich‹, das besagt das Gleiche, ohne die Übertreibung.«

»Gut«, sagt der Herzog unsicher. »Gütig und väterlich et cetera und so weiter. Der König denkt, dass sie als Frau, zart und wankelmütig, leicht zu führen ist. Aber sie muss sagen, ob sie seine volle Autorität nun anerkennt oder nicht und sich seinen Gesetzen unterwirft – was mir, offen gesagt, Cromwell, für einen König sehr wenig, ich meine, dass es das Mindeste ist, was er von seinen Untertanen verlangen kann. Dann muss sie allen Versuchen et cetera und so weiter abschwören, Hilfe aus Rom zu bekommen – ist das richtig?«

Er nickt: Alle Streitigkeiten sind auf Englisch auszutragen, und das hier zu Hause.

Ein junger Mann neben ihm verbeugt sich. Es ist Thomas Howard der Geringere. Ah, denkt er, ich habe von deinen Versen geträumt: flipp / schnipp, Lippe / Hippe, Liebe / Diebe.

Der Größere ist nicht erfreut, seinen Halbbruder zu sehen. »Was bringt dich her, Junge, was lässt dich unter dem Rock einer Dirne hervorkriechen?«

»Sir – Mylord …«

»Eine nichtsnutzige Generation.« Norfolk saugt an seiner Lippe. »Nichts bis auf Rätsel und Spielchen.«

»Was würde Eure Lordschaft lieber mögen?«, fragt der junge Mann. »Einen Krieg?«

Er unterdrückt ein Lächeln. »Tom Truth.«

»Was?« Der junge Mann zuckt zusammen.

»Nennen Sie sich nicht so? In Ihren Versen? Ihr Mann, Tom Truth.« Er zuckt mit den Schultern. »Die Damen erzählen diese Dinge.«

Der Herzog lacht, wobei es wohl eher ein Knurren ist. »Master Cromwell hier weiß, was die Damen so treiben. Ihm ist nichts ein Geheimnis.«

»Es schadet nicht, Verse auszutauschen«, sagt er. »Selbst schlechte sind kein Verbrechen.«

Tom Truth wird rot. »Der König verlangt nach Ihnen, Sir.«

»Nach mir natürlich auch«, sagt Norfolk.

»Nein, Euer Gnaden. Er will nur Mylord Cromwell.« Der Junge wendet sich vom Herzog ab. »Wenn Sie bitte … der König hat den Narren Sexton geschlagen. Der Bursche hat … nun, einen Scherz gemacht. Jetzt hat er eine blutende Birne. Gott, hilf ihm, er hat sich den falschen Zeitpunkt ausgesucht. Seine Majestät hat einen Brief von einem Cousin bekommen und schreit, als käme er direkt aus der Hölle und wäre vom Teufel unterschrieben. Und ich weiß nicht … wir wissen nicht … welcher Cousin es ist. Er hat so viele.«

So viele Verwandte. Und so wenige sind, was sie sein sollten: treu und ehrlich. »Lassen Sie mich durch«, sagt er, »alles wird gut. Ihnen einen guten Tag, Mylord Norfolk.« Zu Tom Truth sagt er über die Schulter noch: »Das ist Pole. Reginald Pole. Lady Salisburys Sohn.«

Während er zu den Gemächern des Königs eilt, spürt er einen besonderen Schwung in den Sohlen seiner Stiefel. Ihm ist bewusst, dass die Howards hinter ihm erregt sind: Der geringere Thomas hat den größeren beim Arm gepackt und flüstert dringlich auf ihn ein. Was immer es ist, es muss warten.

Im Wachraum sitzt Sexton auf dem Boden, die Beine vor sich ausgestreckt, als wäre er gerade niedergeschlagen worden. Die Verletzung ist so nichtig, dass es kaum lohnt, sie zu reiben, dennoch hält er sich den Kopf und jammert: »Mein Hirn leckt.«

Er steht über ihm. »Warum bist du hier, Patch?«

Der Mann hebt den Blick. »Warum Sie? Oder wollen Sie meinen Posten?«

»Ich dachte, du wärst weg. Hat dich der König nicht letztes Jahr vor die Tür gesetzt?«

»Ja, das hat er, und geschlagen hat er mich auch, weil ich diese Frau ein Lästermaul genannt habe. Nicholas Carew hat mich aufgenommen, aus reiner Menschenliebe, bis meine Scherze wieder in Mode kamen. Was sie sind, oder? Jetzt weiß die ganze Welt, was Nan Bullen war. Sie war so gewöhnlich wie ein Feldweg. Sie hat’s noch mit Aussätzigen hinter der Hecke getrieben.«

Er sagt: »Der König hat jetzt Will Somer. Er braucht dich nicht.«

»Ja, Somer, Somer ist alles, was ich höre. Sexton? Werft ihn raus, seine Tage sind vorüber. ›Thomas Cromwell‹, sagen alle, ›der ist gut zu masterlosen Menschen, der hat die Leute des Kardinals aufgenommen, als sie auf der Straße standen.‹ Aber nicht Patch, nein, er tritt Patch in den Graben.«

»Ich würde dir eins mittenrein treten, wenn ich das Sagen hätte. Du hast dich über den Kardinal lustig gemacht, der nichts als gut zu dir war.«

»Warum lebe ich also noch?«, fragt Sexton. »Die vier Maskierten sind tot, die den Kardinal in die Hölle gezerrt haben. Und Smeaton auch, nur weil er aus ’ner Schweineblase Tom Wolseys Kopf gebastelt, eine Puppe getreten, ein Liedchen gesungen und ihr dabei Würste aus dem Bauch geholt hat. Sie alle sind so tot, wie Sie es nur verlangen konnten, und ich hab gehört, Sie haben sie mit den falschen Köpfen begraben. Wenn sie also am Jüngsten Tag auferstehen, wird Smeaton George Boleyn sein, und Westons hohle Rübe ziert den sanften Norris.«

Er denkt, es ist viel geschehen, dessen wir uns schämen sollten, das aber nicht.

»Es ist schon eine Plackerei, das Hinrichten. Ich nimm an, da waren Sie zu beschäftigt, um auch noch an Patch zu denken.« Sexton hebt seinen karierten Rock an und kratzt sich. »Lord Tom aus Putney. Sie drängen die Narren aus ihren Stellen und machen sie zu Bettlern. Soll Somer aufpassen. Wer muss noch Witze machen, wenn die längst zwei Beine haben, reden können und sich Baron nennen?«

Er muss über den Mann hinwegsteigen. »Zieh deine Kleider herunter und verschwinde, Sexton. Lass dich hier nie wieder sehen.«

Als er in die königliche Gesellschaft eintritt, sagt Henry ganz freundlich zu dem ihn umgebenden Schwarm: »Wollen Sie mir jetzt erlauben, mich mit meinem Lordsiegelbewahrer zu besprechen?«

Es gibt ein Gemurmel – Henry spricht seinen neuen Titel zum ersten Mal laut aus. Dann ein Geschiebe, ein Rückwärtsgewusele und Sich-Verbeugen. Sie können nicht schnell genug hinaus, angetrieben von den Blicken des Königs.

Henry hat einen dicken Folianten vor sich. Seine Hand liegt darauf, als verböte sie, ihn zu öffnen. »Bevor Sie einer meiner Räte wurden …« Er hält inne und blickt ins Nichts. »Pole«, sagt er. »Sein Buch ist angekommen, aus Italien. Mein Untertan, mein Gefolgsmann Reginald Pole. Mein Cousin, mein getreuer Verwandter. Wie kann er nachts schlafen? Wenn ich etwas nicht ertrage«, sagt Henry, »dann ist es Undankbarkeit, ist es Untreue.«

Während der König weitere Dinge aufzählt, die er nicht erträgt, ruht der Blick seines Rats auf dem Buch. Es ist, für ihn, kein Buch mit sieben Siegeln. Er war gewarnt. Ihn überrascht nur der Umfang des Ganzen. Das müssen dreihundert Blatt sein, jedes von ihnen mit Verrat durchtränkt. Er kennt die Geschichte, doch das wird das Bedürfnis des Königs nicht schmälern, sie noch einmal durchzugehen – die Geschichte der Familie Pole, mit ihrem Kummer und ihrem Groll: die ewigen Gemetzel vor den Tudors, als sich die großen Familien Englands auf dem Schlachtfeld in Stücke gehackt haben, als sie sich gegenseitig mit der Henkersaxt auf den Marktplätzen des Königreichs ermordet und die Körperteile an Stadttoren aufgehängt haben. Der Prozess, der das Manuskript auf diesen Tisch gebracht hat, an diesem Sommertag, begann, bevor irgendeiner von uns geboren wurde, bevor Henry Tudor in Milford Haven landete und mit dem roten Drachen auf dem weiß-grünen Banner durch Wales marschierte. Das Banner marschierte immer weiter, bis es vom Sieger auf den Altar von St. Paul’s gelegt wurde. Er kam mit einer zerlumpten Armee, ein Gebet auf den Lippen: Er kam, um England zu retten, mit einem Besen, um die verkohlten Knochen wegzufegen, und einem Lappen, um das Blut aufzuwischen.

Und was blieb vom alten Regime, nachdem die Schlacht gewonnen und Richard Plantagenet nackt in seinem Grab gelandet war? Die Söhne des alten Königs Edward verschwanden im Tower und kamen nicht wieder heraus. Seine Bastarde und Töchter blieben und ein Neffe, ein Kind, noch keine zehn. Nachdem er es dem Volk gezeigt hatte, schloss der Tudor das Kind weg. Er versagte ihm seinen Titel nicht, Earl of Warwick: Er versagte ihm nur, das neue Regime zu bedrohen.

Henry Tudor war mit vielen Kindern gesegnet, aber auch sie hatten sich fortzupflanzen. Eine Braut für Arthur, den erstgeborenen Sohn, musste unter den Prinzessinnen Europas gefunden werden. Der König und die Königin von Spanien boten eine ihrer Töchter an, aber nur unter einer Bedingung. Sie zögerten, Catalina einem Land zu überlassen, das so leicht zu destabilisieren war. Seine ganze Regentschaft über war Henry Tudor von wiederauferstandenen Männern geplagt worden, die die Krone für sich reklamierten, und wenn der junge Warwick auch eingesperrt war, was sollte einen Heuchler stoppen, in seinem Namen Truppen aufzustellen? Also musste der Anwärter sterben: nicht in einem Handgemenge in irgendeiner Zelle, erdolcht oder erwürgt, sondern im hellen Tageslicht, auf dem Tower Hill, mit der Axt.

Hochverrat wurde unterstellt, ein Fluchtplan. Wer glaubte es? Der junge Mann, von klein auf im Gefängnis, besaß keinerlei Ehrgeiz, hatte sich nie als Ritter geübt, nie ein Schwert in die Hand genommen. Es war wie die Ermordung eines Krüppels, aber Henry Tudor wollte die spanische Braut nicht verlieren. Als Warwick nicht mehr atmete, war seine Schwester Margaret in der Hand des Königs. Er versicherte sich ihrer, indem er sie mit einem Getreuen verheiratete. »Meine Großmutter verheiratete sie mit Arthur Pole«, sagt der König. »Es war eine bescheidene Verbindung, aber ehrbar, und ich war es, der sie in ihre vormalige Stellung zurückbrachte. Ich verehrte ihre Familie für ihr uraltes, edles Geblüt. Ich bedauerte ihren Fall. Ich habe sie zur Gräfin von Salisbury gemacht. Was hätte ich mehr tun können? Ich konnte doch die Toten nicht wieder zum Leben erwecken.«

Catalina, die spanische Prinzessin, wusste, worauf ihre Ehe fußte. Ihr ganzes Leben lang versuchte sie es Margaret Pole gegenüber wiedergutzumachen. Sie schenkte ihr Vertrauen und machte sie zur Gouvernante Marys, ihres einzigen Kindes. »Aber«, sagt Henry, »mir wurde erklärt, es gibt einen Fluch.«

Wiederhole ihn nicht, denkt er. Die Wiederholung ist die einzige Macht, die der Fluch besitzt.

»Die Ehe mit Katherine wurde geschlossen, und nur Wochen danach war Arthur tot. Dann, wie Sie wissen …«

Er denkt an Katherines Fehlgeburten, die blinden Gesichtchen und die zum Gebet gefalteten, unentwickelten Händchen. »Ich war nicht der Grund für Warwicks Tod«, sagt Henry. »Nicht mal mein Vater. Ich weiß nicht, warum er den Spaniern erlaubt hat, sich mit ihren blutigen Händen in die Angelegenheiten dieses Reiches einzumischen. Wie lange muss ich leiden, um das Gewissen Kastiliens zu erleichtern? Und was kann ich Warwicks Familie noch geben? Ich habe sie befördert, sie reich gemacht. Andere Könige hätten sie unterdrückt.«

So viel ist wahr. Sie haben deine Schuldgefühle ausgenutzt, denkt er. »Wer kann Margaret Pole lesen, Sir? Ich nicht.«

Henry sagt: »Ihr Sohn Montague hat mich nie gemocht. Um ehrlich zu sein, ich ihn auch nicht. Sein Bruder Geoffrey ist ebenfalls niemand, dem man trauen kann. Aber Reginald, bei ihm hatte ich Hoffnung – eine sanftmütige Seele, jemand, der es wert war, eingebunden zu werden. Wenigstens wurde mir das gesagt. Ich habe seine Studien bezahlt. Seine Reisen nach und in Italien. Ich habe ihm vertraut, für mich zur Sorbonne zu gehen, mich in Sachen meiner Annullierung zu vertreten.«

Seiner ersten Annullierung, meint er. »Ich hörte, er habe es sehr gut gemacht.«

Henry sagt: »Ich hätte ihn belohnt, hätte ihn zum Erzbischof von York gemacht. Sie wissen, er war noch in den unteren Rängen, noch nicht einmal Priester, aber mein Gedanke war, er könnte schnell geweiht werden, und da der Stuhl seit Wolsey unbesetzt war … Aber er wollte nicht. Sagte, er sei zu jung. Es nicht wert. Ich hätte es sehen sollen, er wollte sich abwenden.« Der König klopft auf den Folianten. »Alles, was ich von ihm wollte, war ein Wort aus Italien: eine Erklärung, die Meinung eines Studierten, etwas, das ich der Welt vorführen konnte, um zu zeigen, dass seine Familie mich unterstützt. Ich sagte, ich brauche kein Buch, Bücher habe ich genug, nur ein paar kurze Worte. Und ich habe gewartet. Mit großer Geduld. Habe Versprechungen bekommen, wieder und wieder, aber es folgte nichts. Immer gab es einen Grund für die Verzögerung. Die Hitze, die Kälte, der Ausbruch einer Krankheit, der schlechte Zustand der Straßen, die Boten, auf die man sich nicht verlassen konnte. Und sein Bedürfnis, den Ort zu wechseln, eine seltene Abhandlung zu konsultieren, einen erfahrenen Geistlichen. Nun, jetzt endlich ist es da. Und es ist doch ein Buch.« Der König wirkt so erschöpft, als hätte er es selbst geschrieben. »Und es war das Warten wert, denn jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen.«

Er bewegt sich vor, um das Manuskript zu nehmen, doch der König legt seine Hand darauf. »Ich werde Ihnen den Aufwand ersparen. Als Erstes gibt es eine Nachricht an mich, kalt und unverschämt im Ton. Danach: eine Seite bitterer als die andere. Ich bin eine größere Gefahr für die Christenheit als die ungläubigen Türken. Er nennt mich einen Nero, eine wilde Bestie. Er rät Kaiser Karl einzumarschieren. Er behauptet, dass ich während meiner gesamten Regentschaft meine Untertanen ausgeplündert und den Adel entehrt habe. Jetzt seien sie bereit aufzubegehren, die Lords wie das einfache Volk, und er mahnt sie, es zu tun, sich zu erheben und mich zu morden.«

»Es muss Ihrer Majestät erscheinen wie …«

»Ich bin verdammt«, sagt Henry. »Die Hölle lechzt nach mir. Wenigstens sagt er das.«

»… Ihre Majestät muss sehen, dass so ein Aufbegehren, wie er es fordert, sich nicht nur gegen jemanden richten kann. Es muss auch für jemanden sein.«

»Natürlich. Sehen Sie, wie alles ineinandergreift? Pole fordert Europa auf, die Waffen gegen mich zu erheben, und exakt zur gleichen Stunde fordert meine Tochter mich heraus. Sagen Sie mir: Warum ist Reginald noch kein Priester? Wenn er seine Gebete so mag? Ich will es Ihnen sagen. Weil seine Familie vorhat, ihn mit meiner Tochter zu verheiraten.«

Nicht schlecht, wenn sie es könnten. Mary Tudor trägt das beste spanische Blut in sich. Verbindet es mit dem der Plantagenets: Das ist der Gedanke. Die Poles und ihre Verbündeten träumen von einem neuen England, genauer gesagt, einem alten, in dem sie die Herrschaft wieder übernehmen.

»Ich glaube«, sagt er, »Lady Mary schätzt die Gunst Ihrer Majestät höher als die jedes Bräutigams. Selbst wenn ihn der Himmel schickt.«

»Das sagen Sie. Aber Sie verteidigen sie ja immer.«

»Sie ist eine Frau, sie ist jung. Vertrauen Sie mir, Majestät, sie wird ihre Pflicht erkennen, sie wird nachgeben. Diese Leute, die sagen, sie unterstützen sie, nutzen sie nur aus, und ich glaube nicht, dass sie ihre Pläne durchschaut.«

Der König sagt: »Ich habe zwanzig Jahre mit ihrer Mutter zusammengelebt, und ich sage Ihnen, sie vermochte alles zu durchschauen. Sie sagten selbst, wäre Katherine ein Mann gewesen, wäre sie ein Held wie Alexander geworden.«

Er hat einmal zu Cranmer gesagt, die Träume der Könige sind nicht wie die anderer Männer. Sie sind anfällig für Visionen, in denen Gestalten ihrer Vorfahren auftauchen und über Krieg, Rache, Gesetz und Macht zu ihnen sprechen. Tote Könige besuchen sie, sie sagen: »Kennst du uns, Henry? Wir kennen dich.« Es gibt Orte im Reich, an denen Schlachten geschlagen wurden, Orte, an denen du, wenn der Wind in eine bestimmte Richtung weht, der Mond abnimmt und die Nacht sich verfinstert, das Donnern der Hufe hören kannst, das Knarzen der Geschirre und die Schreie der Hingemetzelten. Und wenn du dich näher heranschlichest – wenn du Luft wärst, ein Geist, der zwischen den Grashalmen durchschlüpfen könnte –, würdest du das Sehnen der Sterbenden hören, würdest du hören, wie sie Gott um Gnade anflehen. Und sie alle, die Seelen Englands, flehen mich an, sagt ihm der König, mich wie alle Könige: Jeder König trägt mit an den Verbrechen der anderen, und das Verlangen nach Entschädigung pflanzt sich über die Jahre immer weiter fort.

»Sie halten mich für abergläubisch«, sagt Henry. »Sie verstehen mich nicht. Wie immer die Poles mich beschimpfen, ich bin mit ihnen verbunden, die Geschichte verbindet uns.«

Die Bande der Geschichte können gelockert werden, denkt er. »Wenn es ein Verbrechen gab, ist es ein altes Verbrechen. Wenn es eine Sünde gab, ist sie vergangen.«

»Sie können meine Schwierigkeiten nicht verstehen. Wie sollten Sie auch?«

Du hast recht, denkt er, wie sollte ich? Die Cromwells werden von keinen Geistern bedrängt. Walter ersteht nachts nicht wieder auf, einen Krug Ale in der Hand, einen Meißel hinterm Gürtel, krakeelt am Kai herum und zeigt Putney seine wunden Knöchel. Ich habe keine Geschichte, nur eine Vergangenheit. »Da ich Sie so schlecht verstehe, was soll ich für Sie tun, Sir?«

»Besuchen Sie Margaret Pole. Sie ist hier in London. Finden Sie heraus, ob sie von diesem Buch ihres Sohnes wusste. Was seine Brüder wussten.«

»Sie werden alles abstreiten. Da bin ich sicher.«

»Ich frage mich, was Sie wussten?« Der Blick des Königs ruht auf ihm. »Sie scheinen kaum so erstaunt wie ich.«

»Ihre Majestät wird sich erinnern, warum der Mylord Kardinal mich angestellt hat, damals. Es war nicht meine Kenntnis der Gesetze. Anwälte gibt es genug. Es waren meine Verbindungen nach Italien. Ich habe dort sehr gute Freunde. Ich schreibe ihnen Briefe, sie schreiben mir.«

»Wenn Sie davon wussten, hätten Sie es unterbinden können.«

»Ich hätte Reginald davon abhalten können, es Ihrer Majestät zu schicken. Aber er war entschlossen, seiner Meinung Ausdruck zu geben. Ihn daran hindern, sein Traktat zum Beispiel dem Papst zu schicken, hätte ich nicht können.«

Henry schiebt das Buch über den Tisch. »Er schwört, es gibt nur ein einziges Exemplar, dieses hier. Aber warum sollte ich ihm glauben? In zwei Monaten könnte es gedruckt und überall zu lesen sein. Wahrscheinlich liest der Papst es gerade jetzt. Und der Kaiser ebenfalls.«

»Ich nehme an, Karl muss aufgestachelt werden. Wenn er diese Invasion anführen soll, wie Pole es will.«

»Ihnen wird es niemals gelingen, dieses Land zu erobern«, sagt Henry. »Ich fresse sie bei lebendigem Leib.«

Jetzt fällt alles von Henry ab, der Schmerz, der Zweifel und die verbitterte Angst, die ihn in der letzten Stunde erfüllt haben. Jetzt schlägt er mit der Hand auf das Buch, und ein kannibalisches Schimmern in seinen Augen erinnert dich: Ein Hund frisst den anderen, aber niemand wird jemals England fressen. Er erhebt sich von seinem Stuhl. Du denkst, jetzt sagt er: Hol mir Excalibur!

Aber es sind nicht die Tage von Helden und Riesen. Er sagt zum König: »Ich glaube, in Hunsdon wurden Männer in der poleschen Livree gesehen, mit Nachrichten für Lady Mary. Wobei wir natürlich nicht wissen, ob die sie gelesen hat. Die Courtenays sind ebenfalls dort …«

»Die Courtenays? Lord Exeter selbst?« Der König ist schockiert.

»Nein, seine Frau, Lady Exeter. Ich glaube, Lady Mary hat es nicht abwenden können. Sie wissen, wie sie ist, Gertrude Courtenay.«

»Sie wird sich in die Geschichte hineinwerfen, mein Gott. Sie spielt mit meiner Geduld. Sagen Sie Exeter, er ist aus dem Rat entlassen. Ein Mann, der seine Frau nicht kontrollieren kann, taugt nicht dazu, seinem Land zu dienen.« Henry zieht die Brauen zusammen. In Gedanken lässt er verschiedene Gesichter an sich vorbeiziehen. »Was ist mit Riche, sollen wir Riche dazuholen?«

Es wäre ihm lieber, wenn der Rat kleiner wäre. Aber es würde helfen, einen weiteren Mann mit einem Kopf für Zahlen dabeizuhaben.

»Gut. Sie können es ihm sagen«, befiehlt Henry.

Richard Riche im Rat! Er kann sehen, wie sich Thomas More im Grab umdreht wie ein Hähnchen an seinem Spieß. Und als könnte er es ebenfalls sehen, deutet Henry auf den Folianten. »Pole sagt, ich habe More und Fisher ermordet. Er sagt, er habe gezögert, gegen mich zu schreiben, seine Treue habe ihn daran gehindert. Aber als er von ihrem Tod erfuhr, nahm er es als einen Fingerzeig Gottes.«

»Er hätte es als einen Fingerzeig von mir verstehen sollen.«

Henry geht zum Fenster hinüber. »Holen Sie Reginald hierher.« Seine Gestalt ist schwach in der Bleiverglasung zu erkennen. Seine Kleider scheinen schwer auf ihm zu lasten, seine Stimme ist kaum mehr als ein Murmeln. »Versprechen Sie ihm, was Sie wollen. Sichern Sie ihm zu, was Sie wollen. Sagen Sie ihm, er soll zurück nach England kommen. Ich will ihm in die Augen sehen.«

Im Wachraum eine miteinander flüsternde Gruppe Räte. Er tritt in ihre Mitte. Sie verstummen. Er sieht sich im Kreis um. »Haben Sie gehofft, er würde mich schlagen wie Patch?«

Es ist durchgesickert. Poles Buch ist angekommen, Henry mag es nicht, er wird darin Nero genannt. William Fitzwilliam sagt: »Pole hätte es zeitlich nicht schlechter erwischen können, selbst wenn er es versucht hätte. Es wird Mary treffen, falls Henry sie für beteiligt hält.«

»Es sieht düster aus für die Poles«, sagt Lordkanzler Audley. »Düster für das alte Blut. Für die Courtenays ebenfalls.«

»Exeter ist aus dem Rat entlassen. Sie sind drin, Riche.«

»Was, ich?«

»Halten Sie ihn aufrecht, Fitzwilliam.«

»Himmel! Danke!«, sagt Riche. »Ich danke Ihnen, Lord Cromwell.«

»Es war die Idee des Königs. Ich glaube, es hat ihm gefallen, was Sie über Absalom gesagt haben.«

»Was?«, sagt der Lordkanzler. »Über König Davids Sohn? Der an den Haaren im Baum hängt? Was hat Riche über ihn gesagt? Und wann?«

Jemand nimmt Lord Audley beiseite und erklärt ihm alles.

Riche wirkt benommen. Fitzwilliam sagt: »Crumb, Sie sind vor diesem Buch gewarnt worden.«

»Ich habe mich in Reginalds Gedanken gebohrt wie ein Wurm in einen Apfel.«

»Wann? Wann haben Sie davon erfahren?« Fitzwilliams Verstand arbeitet sichtlich.

Riche sagt: »Kein Wunder, dass Sie sich in den letzten Wochen so kühn gezeigt haben, mit dieser Karte in der Hinterhand. Damit besteht keine Gefahr mehr, dass sich der König wieder Rom zuwendet.«

»Es wird dem Jungen eine Lehre sein«, sagt er zu Fitz.

Ich habe Pole ein Jahr lang beobachtet, gibt er zu, in Italien, habe beobachtet, wie der junge Kerl schwankt und zaudert. Von den eigenen Worten gequält, kritzelt er vor sich hin und streicht alles gleich wieder aus. Berichtigt es, schreibt mehr, und es wird schlimmer. Doch der Tag musste kommen, der Brief endlich unterzeichnet werden – die Tinte getrocknet, die Papiere eingerollt und zusammengebunden, der Bote bestellt, sie nach England zu bringen. Anne Boleyns Tod musste alles beschleunigen, er ließ Pole denken: Jetzt ist Henry geschwächt, jetzt ist er bereit zu bereuen, jetzt werde ich ihm mit der Verdammnis drohen und ihm genug Angst machen, dass er nach Rom zurückkehrt. Und so hätte es sein können, hätte er seine Argumentation entsprechend vorgebracht. Aber Reginald versteht Henry nicht, nicht als Mann, und noch weniger begreift er das Denken und den Willen eines Fürsten.

»Ich habe ihn einmal getroffen«, sagt er, »Pole.« Er war noch jung, ein unerfahrener Gelehrter. Weder groß noch klein, weder stämmig noch schlank, leicht helles Haar, ein offener, angenehmer Ausdruck. Reginalds einfaches Äußeres gibt keinen Hinweis auf die verschlungene, nutzlose Natur seines Denkens mit ihren winzigen Ecken und Nischen, ihren Skrupeln und Zweifeln. »Ich glaube, ich habe ihn ausgelacht.« Der Junge hatte darüber geschwafelt, wie ein Fürst regieren sollte. Lies ein paar Bücher, hat er ihm gesagt, um deine dürftige Erfahrung zu erweitern. Die Italiener verstehen diese Dinge.

Seitdem hat Reginald Angst vor ihm. Er spricht schlecht über ihn, sagt, er ist der Teufel. Schlechter kann man über jemanden nicht sprechen. Und doch, wenn ihn ein reisender Gelehrter besucht oder ein junger italienischer Adliger vorbeischaut, um sein Englisch zu verbessern, kommt Pole nie darauf, sich zu fragen: »Könnte das ein Gesandter Satans, alias Cromwell, sein?« Es gab eine Zeit, da Reginald von den Lehren Luthers versucht wurde: Wir wissen, wie er in diese Richtung schwankte und dann wieder zurück. Es gab eine Zeit, da er die Autorität des Papstes anzweifelte – seine Zweifel wurden registriert. Poles Torheit ist, laut zu denken. Ein früher Schülersatz, frei nach Cicero, zittert in der Luft, er glaubt, ihn hört niemand. Er schreibt und glaubt, niemand liest es. Aber Freunde Luzifers sehen in sein Buch. Bei Sonnenuntergang schließt er sein Manuskript in eine Kommode, doch der Teufel hat einen Schlüssel. Dämonen kennen jedes durchgestrichene Wort und jeden Tintenklecks. Seine Tinte verrät ihn. Die Fasern in seinem Papier sind Spione. Legt er sich abends hin, lauschen das Pferdehaar in seiner Matratze und die Federn in den Kissen auf alles, was England betreffen könnte, während er auf verklausulierte, ausweichende Art die Form Gottes anbetet, an die er gerade glaubt.

Fitz sagt: »Damit können Sie die Poles zu Fall bringen. Die ganze Familie.«

»Bis auf Reginald«, wirft Riche ein. »Er befindet sich außerhalb unserer Gerichtsbarkeit.«

Lord Audley sagt: »Wohl wahr, Mr Speaker. Aber Sie setzen einen Singvogel im Käfig fest, um einen anderen zurück nach Hause zu locken.«

Riche sagt: »Wie kann das gehen, Lordkanzler? Es ist eher umgekehrt, denken Sie nicht? Pole ist frei, und sein Gezwitscher lockt die anderen an. Das ist gefiederter Hochverrat.«

»Oh«, sagt Audley. »Ja, ich nehme an, Sie haben recht.«

Er sagt: »Ich hätte sie vor zwei Jahren zu Fall bringen können.«

»Die Prophetin«, sagt Fitz. »Elizabeth Barton, hinter ihr stand ein großer Verräter, der ihnen glich und sich hinter den Röcken dieser verblendeten kleinen Nonne versteckte, die dachte, Gott spräche zu ihr. Nur dass sie den Anspruch der Courtenays dem der Poles vorzog.«

»Der Unterschied zwischen den Familien entzog sich ihr immer wieder«, sagt Riche. »So habe ich das gesehen. Ich glaube, der Master Sekretär hat recht. Sollen sich ihre Pläne totlaufen. Wir bewahren Ruhe. Sie werden sich selbst hängen.«

»Mein Gott, bereits ein Rat«, sagt Fitz, schnappt Riche den Hut vom Kopf und wirft ihn längs durch den Raum, hinauf zu den Tudor-Rosen an der Decke. Lauert da oben noch ein verirrtes HA-HA? Der Lordkanzler, die treue Seele, verdreht sich den Hals und blinzelt in die Höhe.

L’Erber, das Haus der Poles: Margaret, die Gräfin, hebt den Blick, als er eintritt, sagt aber nichts.

Was macht sie da? Nähereien, wie irgendeine alte Hexe. Ihr Raubvogelgesicht ist über ihre Arbeit gebeugt, als wollte sie hineinpicken.

Margarets Sohn, Henry Lord Montague, zuckt sichtbar zusammen, als er ihn sieht: »Master Sekretär, bitte setzen Sie sich.«

Er würde lieber stehen. »Ich nehme an, Sie wissen, was in dem Buch steht, mehr oder weniger? Der König behält es bei sich. Er wird Ihnen ein paar Auszüge zukommen lassen, hätte aber gern, dass Sie Ihrem Bruder in Italien schreiben, er, der König, fühlt sich nicht angegriffen.«

Montague starrt ihn an. »Nicht angegriffen?«

»Es wäre schön, wenn Ihr Bruder zurück nach England käme, um seinen Fall vorzubringen.«

»Ich frage Sie«, sagt Montague, »würden Sie kommen, wenn Sie Reynold wären?«

Reynold: So nennt ihn seine Familie. Ein Name mit einer flüssigen, feinsinnigen Natur.

»Der König bietet ihm freies Geleit. Und Sie wissen, er hält sein Wort.«

Montague sagt: »Wir, seine Familie, ich sage Ihnen, Cromwell, wir staunen über das Vorgehen meines Bruders. Ich glaube, Sie wussten mehr darüber als wir.«

»Soll ich dem König sagen, dass Sie Reginald verstoßen?«

Montague zögert: »Das ist heftig …«

»Wir missbilligen sein Verhalten.« Margaret Pole meldet sich zu Wort. »Sagen Sie dem König, wir missbilligen, was er schreibt, und sind bestürzt.«

»Erstaunt«, schlägt er vor. »Von Kummer erfüllt und starr vor Entsetzen, festzustellen, dass er sich so gegen den König wendet. Dass er Lügen über ihn verbreitet, ihn verleumdet, ihm mit einer Invasion droht und sagt, er sei verflucht.«

»Ich bin nicht der Wächter meines Bruders«, sagt Montague.

»Jemand muss es sein. Wenn nicht Sie, dann ich. Reginald muss zu seinem eigenen Schutz eingesperrt werden. Im Moment stehe ich zwischen Ihnen und dem Verdruss des Königs.«

»Wie gut von Ihnen«, sagt Montague.

»Ich stehe auch zwischen dem König und seiner Tochter. Sie müssen doch sehen, dass Lady Mary, bevor das Buch kam, ausgelöst durch ihren eigenen dummen Stolz, in Gefahr war. Jetzt ist ihre Stellung noch um einiges bedenklicher, und es ist Ihre Familie, die sie in Gefahr bringt.«

Montague ist ein träger Mensch, schwer zu erregen, schwer zu ködern. Es ist Margaret Pole, die ihre Arbeit zur Seite legt und spricht: »Wir haben Ihnen geholfen, die Boleyns zu Fall zu bringen, als sie Ihr Leben bedrohten.«

»Ich habe das Risiko der Unternehmung getragen, nicht Sie.«

»Sie schulden uns etwas«, sagt sie, »was Sie jetzt nicht zahlen wollen. Sie wussten, dass das Buch in Vorbereitung war. Sie wussten, was kommen würde.«

»Können Sie das Nicholas Carew erklären? Er scheint es nicht zu begreifen. Ich schulde ihm nichts, und auch Ihnen nicht, Madam. Im Gegenteil. Und ob Mary lebt oder stirbt, ich sage nicht, dass es in meinen Händen liegt, aber womöglich in Ihren. Ich bitte um Ihre Hilfe, um sie im Land der Lebenden zu halten. Wo sie, wie ich denke, am ehesten Gutes tun kann.«

»Ihre Mutter, sie ruhe in Frieden, hat mich zu ihrer Gouvernante gemacht. Wie würde ich Katherines Vertrauen erwidern, wenn ich der Prinzessin riete, gegen ihr Gewissen zu handeln?«

Montague sagt: »Ich verstehe wirklich nicht, Cromwell, wo Ihr Interesse in dieser ganzen Sache liegt. Sie scheinen Mary vor sich selbst retten zu wollen und vor ihren Freunden. Aber Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass sie Ihnen anschließend ihre Gunst schenkt.«

»Wenn sie Königin wird«, sagt Margaret Pole, »und ich hoffe und bete, dass ihr dieses Unglück nie zustoßen wird, wird sie sofort, gewiss …«

Was? Mich in den Tower werfen? Mir den Kopf abschlagen? Mich zum Lordkanzler machen?

»Meine Lady Mutter …«, warnt Montague.

»Ah, ich verstehe, das Hochverratsgesetz«, sagt Margaret unbekümmert. »Ich sehe den Fallstrick. Es ist ein Verbrechen, sich die Zukunft vorzustellen. Wir stecken in der Gegenwart fest.«

»In den letzten Monaten«, sagt er zu Montague, »haben Sie dem Vertreter des Kaisers, Chapuys, versichert, dass England bereit ist, gegen den König aufzubegehren.« Er hebt bestimmt eine Hand: Unterbrechen Sie mich bitte nicht. »Vor nur zwei, drei Wochen haben wir im Südwesten einfache Leute unter Waffen gesehen.«

»Das ist Courtenay-Territorium«, sagt Montague. »Werfen Sie es denen vor.«

Keine Loyalität unter Dieben, denkt er. »Ein Glück für Sie, dass nichts Großes passiert und es im Land wieder ruhig ist. Aber mit jedweder Wiederholung, mit jedem weiteren Bruch des königlichen Friedens, gleich, wo im Reich, wird es für Sie schwer werden zu beweisen, dass Sie nicht dahinterstecken.«

»Aber könnten Sie beweisen, dass er es tut?«, wirft Margaret ein. »Weil es meinem ärmlichen Verständnis nach dem Ankläger obliegt, die Schuld nachzuweisen.«

»Das sollte keine große Schwierigkeit sein. Im Übrigen schaffen die allgemeinen Gesetze Möglichkeiten, das Reich vor Verrätern zu schützen. Ich meine den Entzug der bürgerlichen Rechte, für den es keines Prozesses bedarf.«

Margaret bleibt stumm. Sie steckt ihre Nadel in den Stoff. Ihr Vater ist so an sein Ende gekommen.

»Madam«, sagt er, »untergraben Sie mit Ihren Widerständen, Ausflüchten und Komplotten keinen guten König, der alles in seiner Macht Stehende getan hat, um Ihre Familie für das, was sie hat erleiden müssen, zu entschädigen. Beten Sie für Eintracht, wie es alle guten Christen sollten. Und schreiben Sie Mary einen Brief.«

»Werden Sie ihn überbringen?«, fragt Montague.

»Geben Sie ihn Ihrem Freund Chapuys. Dann wird die junge Lady nicht sagen, er ist gefälscht.«

Margaret sagt: »Sie sind eine Schlange, Cromwell.«

»Oh, nein, nein, nein.« Ein Hund, Madam, und Ihnen auf der Spur. Er bringt seine beruhigende Masse zwischen sie und das Licht. Margaret stickt eine Blumenbordüre. Es ist die Wappenblume ihrer Familie, das Veilchen: auch als Acker-Stiefmütterchen oder Wildes Stiefmütterchen bekannt. »Mein Kompliment. Ich bin überrascht, dass Sie für diese Arbeit noch gut genug sehen.«

Sie greift nach der Schere. »Ich habe andere Tage erlebt, bessere.«

Er schickt seinen Neffen Richard mit der Anordnung in den Tower, Wyatt freizulassen. Poles Buch, und was von seinem Inhalt langsam nach außen sickert, verursacht solch eine Aufregung am Hof, dass niemand auf Wyatt achten wird. Niemand hat den Text gesehen, und wenn sie mutmaßen, was in ihm steht, ahnen sie nicht, wie schlimm es wirklich ist. Sie können sich seine bittere Weitschweifigkeit nicht vorstellen, das achtlose Herabsetzen der Lebenden und die Lobpreisung der Toten. Gerüchte von neuerlichen Verhaftungen machen die Runde. Lady Hussey, die einmal in Marys Haushalt gedient hat, wird Hals über Kopf in den Tower gebracht. Er schickt Wriothesley, um mit ihr zu reden. Sie gibt zu, dass sie, als sie zur Pfingstzeit mit Erlaubnis des Königs in Hunsdon war, Lady Mary mit »Prinzessin« angesprochen hat.

»Sie behauptet, es geschah aus einer alten Gewohnheit heraus«, sagt Wriothesley. »Sie schwört, sie hat damit nicht, Gott strafe sie, behaupten wollen, dass Mary Henrys rechtmäßige Nachfolgerin sei. Es war eine Unbedachtheit. Sagt sie.«

Richard Cromwell kommt hereingeplatzt. »Ich habe Wyatt gesagt, gehen Sie hinunter nach Kent und denken Sie nicht mehr an die toten Männer. Er solle da bleiben, bis ihm anderes befohlen wird. Konstabler Kingston will wissen, braucht er eine Unterkunft für andere vornehme Gefangene, und wenn ja, können Sie ihm sagen, wie viele und vor allem welchen Rangs, Geschlechts und Alters und wann sie kommen werden? Er will vorbereitet sein.«

»Ist Kingston nicht immer vorbereitet? Du erstaunst mich.«

»Sir«, sagt Wriothesley, »Sie haben Mitleid mit Lady Mary. Aber lassen Sie es jetzt gut sein.« Zu Richard sagt er: »Sie wirkt bescheiden wie alle Mädchen, spricht leise und weicht vor Männern zurück, aber als Sadler und ich in Hunsdon waren – wenn sie da einen Dolch gehabt hätte, ich schwöre, sie hätte ihn mir in den Leib gestoßen, als ich ihr sagte, wie hervorragend der Mann aus Calais seine Arbeit gemacht hat.«

Es ist schwer, sie zu mögen, sagt er. Das ist alles, was er dazu sagen will.

Als Henry zu seinem Platz an der Tafel des Rats geht, setzt er eine Faust auf den Tisch, um sich abzustützen. Der König bewegt sich vorsichtig voran, will nirgends anstoßen oder unbedacht auftreten. Höflich murmelt er ein Danke, als sein neuer Rat, als Riche einen Stuhl zurückzieht, um ihm mit seinem bandagierten Bein den Durchgang zu erleichtern. »Vereidigt, Riche? Gut.« Er lässt sich mit einem leichten Ächzen auf seinen Platz sinken, greift nach dem Tisch und zieht sich heran.

»Ein Kissen, Majestät?«, schlägt Lord Audley vor.

Henry schließt die Augen. »Danke, nein. Heute geht es nur um einen Punkt …«

»Einen breiteren Stuhl vielleicht?«

Die Stimme des Königs zittert, »… einen wichtigen Punkt … Danke, Lord Audley, ich sitze bequem.«

Er, Cromwell, fängt den Blick des Lordkanzlers auf und drückt sich eine Hand auf den Mund. Aber Richard Riche lässt sich nicht so leicht zügeln, als er Edward Seymour sieht. »Sie hier, Sir? Ich hatte nicht gedacht, dass Sie vereidigt sind.«

»Nun, es scheint …«, sagt Edward.

»Es scheint, dass ich seine Meinung hören möchte«, sagt der König. »In diesem Moment zumindest. Das sind Dinge, die mir sehr nahe gehen. Verstehen Sie, Riche?«

Edward ist jetzt der Bruder des Königs, natürlich will er seinen Rat. Aber Edward sitzt verlegen auf einem Hocker am Ende des Tisches. Er wirkt wie ein Mann, der auf die Probe gestellt werden soll: Kann er den Rat zufriedenstellen? Vielleicht geht es seiner Schwester genauso.

Richard Riche kann sich nicht beruhigen. Er beugt sich vor zu Cromwell und flüstert: Sir, ist das wirklich eine Ratssitzung oder eine andere Art von Besprechung? Er flüstert zurück: Warten Sie und hören Sie zu. Fitzwilliam sieht sich um. »Wo ist Mylord Norfolk?«

»Ich habe ihn angewiesen«, sagt Henry, »mir aus den Augen zu bleiben.«

Eine gute Nachricht für Fitz. Er streitet mit den Howards schon seit zehn Jahren und mehr. »Sie hätten ihn niemals zu Mary schicken sollen, Sir. Sie wissen, wie er ist. Er spricht mit einer Frau, als wäre sie eine Stadtmauer, die er durchbrechen muss.«

»Ich denke nicht«, sagt der Lordkanzler, »dass Sie von der Tochter des Königs als ›einer Frau‹ sprechen sollten.«

»Nun, was sonst ist sie?«, fragt Fitzwilliam. »Wenn ich sie eine Lady nenne, ändert das nichts. Sie ist undankbar und eine kleine Närrin, und Norfolk ist der Letzte, der etwas bei ihr bewegen könnte.«

Henry sagt: »Ich gebe zu, es war eine schlechte Wahl. Es ist unwahrscheinlich, dass sie auf Druck reagiert.« Lässt sich da aus seinem Ton eine Art perverser Stolz heraushören? »Wir müssen einen anderen Boten schicken. Vielleicht den Mylord Erzbischof mit seinen sanften Reden …«

Fitz starrt ihn an. »Sie hasst Cranmer. Wie auch nicht? Cranmer hat Sie von ihrer Mutter geschieden und Mary das Produkt eines Inzests genannt.«

»Was sie ja auch ist.« Der König neigt den Kopf. »Es war eine große Sünde, begangen, wie Sie wissen, in Unwissen.«

»Majestät«, sagt Edward Seymour. »Wir alle wissen … Es besteht keine Notwendigkeit … Ersparen Sie sich …«

»Vergeben Sie mir, wenn es den Anschein hat, als laste das Gewicht von zwanzig Jahren auf meinen Schultern.« Der König scheint ruhig, schicksalsergeben: Aber ich kenne es, denkt er, dieses gefährliche Zucken seines Mundes. »Da es unter Christen seit einer vollen Generation im Speisesaal eines jeden Colleges debattiert und von jeder Kanzel gebrüllt wird, sich die Leute in jedem Ale-Haus deswegen ankeifen, habe ich nichts dagegen, wenn wir die Sache noch einmal konstatieren. Auch wenn die Schrift klar sagt, dass eine solche Ehe nicht erlaubt ist, glaubte ich damals, dass der Papst die Macht hätte, uns davon auszunehmen. Heute weiß ich es besser. Meine Tochter Mary ist das Ergebnis einer unerlaubten Verbindung. Wenn Katherine diese Sünde zu Lebzeiten nicht anerkennen wollte, wie es der Fall war, fürchte ich, wird sie dafür an dem Ort leiden müssen, an dem sie sich jetzt befindet.«

Peterborough, denkt er.

»Was mich betrifft«, sagt der König, »nachdem mir über die Irreführungen und die Heuchelei Roms die Augen geöffnet wurden, habe ich sieben Jahre lang daran gearbeitet, mich von dieser verwünschten Rechtsprechung zu befreien und mein Land auf den wahren Weg Christi zu führen. Wenn ich meinen Fehler bis jetzt nicht gesühnt habe – dann, Gentlemen, weiß ich nicht, wie, und weiß ich nicht, wann. Von meiner Tochter herausgefordert zu werden, zu wissen, dass meine eigenen Verwandten, Cousins sie antreiben, in meinem eigenen Haus von diesem undankbaren Ungeheuer Pole verunglimpft zu werden – als Ketzer, Spalter und Judas …«

»Nein, Sir«, unterbricht ihn Riche. »Es war nicht Ihre Majestät, die Pole als Judas bezeichnet hat. Es war Bischof Sampson, weil er bei Ihrer Scheidung als Prokurator gewirkt hat.«

»Unser neuer Rat ist ein genauer Mann.« Henry wendet sich an Riche. »Wie nennt er mich dann? Antichrist? Luzifer?«

Tagesstern, denkt er, der Überbringer des Lichts.

»Ich warne Sie«, sagt Henry. »Wenn ich eine Stimme höre, die meine Tochter, diese fehlgeleitete Kreatur, unterstützt, weiß ich, es geht um Verrat. Ich hole Rat ein. Ich habe die Richter zusammengerufen, um zu überlegen, was die beste Möglichkeit ist, sie vor Gericht zu bringen.«

Fitzwilliam wirft seine Feder auf den Tisch. »Vor Gericht? Gott, hilf uns! Ihr eigen Fleisch und Blut.«

Er geht dazwischen: »Sir, Mary ist krank.«

»Dem König wird schlecht!«, sagt Riche. »Sehen Sie ihn an!«

Edward Seymour flüstert: »Riche, lassen Sie das.«

Henry wendet sich ihm zu. »Sagen Sie mir, Crumb, wann ist sie nicht krank? Ich frage mich, wie eine so schwächliche Kreatur von mir sein kann. Ihre Brüder und Schwestern sind alle gestorben, und ich frage mich, wie sie überleben konnte. Ich frage mich, was Gott damit sagen will.«

Fitzwilliam sagt: »Nun, wenn Sie das nicht wissen, Harry, wer dann? Sie sind sein Stellvertreter, oder? Sie kennen unser aller Schicksal.«

»Ihres kenne ich«, sagt Henry.

Henry sieht zur Tür. Ein Kopfnicken, und die Wachen kämen hereinmarschiert. Richard Riche sitzt starr auf seiner Bank, das Kinn unten, die Finger so, als wollte er sich etwas notieren. Edward Seymour erhebt sich halb: »Entschuldigen Sie, Majestät. Entschuldigen Sie die offenen Worte des Master Kämmerers. Wir sind alle … wir sind alle überarbeitet …«

Henry seufzt. »Überarbeitet, geschmäht, erschöpft. Es stimmt, Ned, das sind wir. Gehen Sie, Fitzwilliam, entfernen Sie sich aus dem Ratssaal, bevor ich Sie daraus entfernen lasse, meine Geduld währt nicht ewig, weder mit Ihnen noch mit meiner Tochter. Also, Crumb, erzählen Sie uns von ihrer Krankheit. Was ist es diesmal? Ich habe gehört, sie habe Krämpfe, dann Fieber, Kopfschmerz, Zahnschmerz …«

»Ich fürchte, es ist alles zusammen. Sie schreibt …«

»Zeigen Sie mir ihren Brief.«

Der Brief steckt in seiner Tasche.

»Ich lasse ihn holen.«

»Einige von Ihnen wissen mehr darüber, was meine Tochter denkt, als ich.« Wieder dieses angespannte Lächeln: Henry hat Schmerzen. »Der Master Sekretär hat versprochen, sie zum Nachgeben zu bringen, dass er sie dazu bringen würde, den Eid abzulegen, ohne Whitehall verlassen zu müssen. Doch auch er hat mich enttäuscht.«

Fitzwilliam ist an der Tür, dreht sich aber noch einmal um, sieht die Räte an und drückt sich seine Papiere vor die Brust. »Einige von uns versuchen Sie vor sich selbst zu schützen, Majestät. Sie schlagen um sich und verletzen die Leute, weil Pole Sie beleidigt hat. Rechnen Sie mit Ihren Feinden ab, nicht mit Ihren Freunden. Was Mary betrifft: Sperren Sie sie ein, ja, halten Sie sie in Ihrer Nähe, wo sie keinen Schaden anrichten kann. Aber dass Sie so weit gehen, Richter zu konsultieren, dass Sie überlegen, Ihre Tochter vor Gericht zu bringen – ich meine, was dann? Ich sage Ihnen, sie ist schuldig. Was braucht ein Richter? Was brauchen Geschworene? Sie wird keinen Eid ablegen, und sie wird Ihnen die Gründe dafür nennen, anders als Thomas More. Sie wird Ihnen sagen, dass sie kein Bastard ist, sondern eine englische Prinzessin und Sie genauso wenig das Oberhaupt der Kirche sind wie ich. Was werden Sie dann tun? Ihr den Kopf abschlagen?«

Audley senkt den Kopf: »Ein mutiger Mann.«

»Ein toter Mann«, murmelt Seymour.

Er, Lord Cromwell, erhebt sich von seinem Platz. Er durchquert den Raum und packt den Master Kämmerer beim Mantel, bringt ihn aus dem Gleichgewicht und schiebt ihn in Richtung Tür. Sie öffnet sich ruhig, wie das Tor zur Hölle. Er greift nach der Amtskette des Kämmerers und versucht sie ihm über den Kopf zu ziehen. Fitz stolpert nach hinten, brüllt. Die Kette verdreht sich, Fitz fährt mit den Fingern hinein: sie kämpfen. »Hände weg, Cromwell«, ruft Fitz und schlägt mit der Faust nach ihm. Aber er, Cromwell, hält die Kette fest in der Hand, zieht Fitz nahe an sich heran und faucht ihm ins Gesicht: »Geben Sie sie her, Sie Dummkopf.«

Fitz begreift. Er lässt los. Er heult auf, ein Finger hängt noch fest, als die Kette über seinen Kopf fliegt. Ein Stoß vor die Brust. Fitz wankt zurück. Die Türen schlagen zu.

Er, Lord Cromwell, durchquert den Raum und lässt die Kette vor dem König auf den Tisch fallen. Scheppernd.

»Nein, das reicht nicht«, sagt Henry. »Sich für mich mit ihm zu schlagen, wo ich doch weiß, dass Sie seiner Meinung sind.« Seine Hand greift nach der Kette. Das Gold ist noch warm von der samtenen Brust ihres Trägers. »Trotzdem, gut gemacht, Mylord. Fitz ist kein Leichtgewicht.« Er sieht seine Räte nicht an. »Schicken Sie Lord Montague zu mir. Ich möchte ihm Teile des Briefes seines Bruders vorlesen. Holen Sie Bischof Judas – seltsamerweise halte ich Sampson für einen Mann, auf den ich mich wirklich verlassen kann. Vielleicht sollten wir Gardiner aus Frankreich zurückbeordern. Er hat für gewöhnlich Ideen, was man tun sollte, Sie alle offenbar nicht. Sagen Sie Sir Nicholas Carew, falls er daran denkt, mit meiner Tochter zu kommunizieren, er soll sich hüten. Sagen Sie den Courtenays, ich weiß um ihre Machenschaften. Schicken Sie Francis Bryan in den Tower. Wie ich höre, verbreitet er in der Stadt, dass Mary misshandelt wird und ich ein abnormaler Vater bin.«

»Oh, Sie kennen doch Francis«, sagt Edward Seymour. »Er meint es nicht so. Er liebt Ihre Majestät.«

»Und Fitzwilliam?« Audley legt die Stirn in Falten. »Müssen wir einen neuen Master Kämmerer ernennen?«

»Fitzwilliam«, sagt der König sanftmütig, »kann keine große Schuld gegeben werden. Er ist mein alter Freund, und ich glaube, Sie, meine Räte, denken wohl auch, dass er mich besser kennt als irgendein anderes lebendes Wesen.« Henry blickt furchtbar müßig in die Runde. All ihre Stunden gehören ihm. »Sehen Sie«, sagt er, »ich weiß, was Sie sagen und wie Sie versuchen, mich zu beherrschen, indem Sie darüber reden, wen ich liebe und wen nicht. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, dem ein Mann trauen sollte, ist es seine jungfräuliche Tochter. Sie sollte keinem anderen Willen als seinem folgen, keinen Gedanken haben, der ihn nicht erfreut. Dafür beschützt er sie und fördert sie. Aber der Master Kämmerer hat keine Kinder. Gott hat es so gefügt. Und da er kein Vater ist, kann er nicht fühlen, was ich fühle, und weiß nicht, wie sehr ich in den letzten Wochen gelitten habe. Denn ich bleibe dabei: Mary weiß, welche Erklärung ich von ihr verlange, und das, seit der Eid zum ersten Mal formuliert wurde. Wenn sie glauben will, mein Titel und mein Recht wären eine Laune der jüngst verstorbenen Frau, hat sie sich getäuscht, wurde sie in die Irre geführt, und wenn sie die Vorstellung hat, ich kröche zurück nach Rom, ist sie eine größere Närrin, als ich gedacht habe. Aber was Sie nicht sehen, was niemand von Ihnen zu verstehen scheint, ist, dass ich meine Tochter liebe. Ich denke an all meine Kinder, die in der Wiege schon gestorben sind oder gar, bevor sie überhaupt das Licht erblickten. Wenn ich Mary verliere, was bleibt mir dann noch? Fragen Sie sich das … Welchen Trost habe ich in dieser Welt außer ihr?«

Es ist still im Raum. Ich hatte das Gefühl, wird Audley später sagen, dass ich mich bekreuzigen und »Amen« sagen sollte. Nicht einmal der neue Rat ist ungehobelt genug zu sagen: »Nun, Majestät, da ist noch der junge Richmond«, oder ihn an das fuchsrote Ferkelchen Eliza zu erinnern, das irgendwo landeinwärts herumbrüllt. Aber Edward Seymour zieht die Brauen zusammen: Wenn dem König nichts bleibt, was ist dann mit seiner Schwester Jane, was mit der Familie in Wolf Hall?

»So, guter Master Sekretär«, sagt der König. »Lord Cromwell, da Sie mich und Ihre Dienste für mich so lieben, bringen Sie diese Sache zu einem Abschluss. Wir werden hier nicht wieder darüber debattieren.«

Der König legt die Hände auf den Tisch und erhebt sich. Sie purzeln von Stuhl und Bank und knien nieder. So verharren sie, bis er aus dem Raum ist. Selbst noch als sich die Türen hinter ihm geschlossen haben, bleiben sie stumm. Bis der Lordkanzler sagt: »Zu einem Abschluss? Was soll das bedeuten?«

»Das weiß Gott allein«, sagt er.

Riche sagt, voller Vehemenz: »Ich wünschte, ich wäre nicht zum Ratsmitglied gemacht worden. Ich wünschte, ich wäre in China.«

Seymour murmelt: »Ich wünschte, ich wäre in Utopia.«

In ihrem Brief, der immer noch in seiner Tasche steckt, erklärt Mary ihm: Cromwell, ich kann nicht weiter gehen, nicht mehr zugestehen. Ich werde nichts unterschreiben, was meine Mutter, die Königin, verunglimpft. Ich werde niemals zustimmen, dass mein Vater das Oberhaupt der Kirche ist oder sein sollte. Lassen Sie nicht zu, dass man mich drängt und anfleht. Ich bin so weit gegangen, wie es mir mein Gewissen erlaubt. Sie sind mein oberster Freund und meine Stütze. Ich setze mein ganzes Vertrauen in Sie.

»Ich glaube, er will sie umbringen«, sagt Edward Seymour.

Der Kardinal pflegte damals darüber zu lachen, wenn er sich erinnerte, wie der junge Henry einmal ein Bein unter seinem Umhang vorstreckte und den französischen Botschafter dazu einlud, seine Wade zu bewundern. »Hat Ihr König solch ein Bein?«, fragte er. »Sagen Sie schon, hat er das? König Francis ist ein großer Mann, ich weiß, aber hat er so breite Schultern wie ich?«

Und genau dieser Fürst schleppt sich jetzt aus dem Ratssaal und wickelt seinen Umhang um sich. Seine so schöne Wade ist sichtbar bandagiert, sein Gesicht verquollen und blass. Henry ist das Zentrum, sein Körper der Schauplatz, das Blut, die Galle, der Schleim, sein so in Anspruch genommenes, geschundenes Fleisch der Ort, wo aller Streit zur Ruhe findet.

Im Tower fragt Francis Bryan: »Haben Sie hier auch Tom Wyatt festgehalten?«

»Luftig«, sagt er, »nicht wahr? Ich lasse meine Freunde immer gut unterbringen.«

»Einer rein, einer raus.« Francis sackt auf seinem Stuhl zusammen und sieht sich um: ein Auge mit Klappe, das andere trübe. »Ich nehme an, ein bloßer Hausarrest hätte nicht gereicht.«

»Hier sind Sie sicherer. Das habe ich Wyatt auch gesagt.«

»Wie ich höre, sind Sie jetzt der Lordsiegelbewahrer. Sie steigen so schnell auf, Mylord, dass dem Königreich die Leitern ausgehen.«

»Leitern? Ich habe Flügel.«

»Dann flattern Sie ins Dämmerlicht«, sagt Francis, »bevor Sie schmelzen.«

»Der König denkt, Mary würde ihm nicht trotzen, wenn da kein Mann dahintersteckte. Vor allem verdächtigt er Ihren Schwager Carew.«

»Der alte Carve-Away.« Francis lacht. »Er malt ein Bild von sich, dem treuen Ritter in schwarzer Rüstung. Er gibt Mary zu verstehen, dass er sie zur Königin machen wird.«

Niemand führt Protokoll. Da liegt nur Cromwells Mappe mit seinen Unterlagen auf dem Tisch, auf dem Petrarcas Verse lagen: die Putten und Seeungeheuer, der Einband weich wie Haut. Seine Hand bewegt sich nicht. Es ist noch genug Zeit, alles aufzuschreiben. »Carew also. Wer noch?«

»Sie kennen sie. Exeters Leute. Und der schniefende kleine Montague.«

»Wenn der König sie festnimmt, sagen Sie gegen sie aus?«

»Ja. Wenn es mir sonst an den Kragen geht. Warum sollte ich besser sein als Wyatt?«

»Niemand hat das je angenommen.«

»Aber Sie wollen sie nicht einsperren, oder? Sie wollen lieber Abmachungen treffen.«

»Es ist meine barmherzige Natur, die mich davon abhält …«

Francis schnaubt. »Nichts hält Sie von etwas ab. Aber wenn Sie Marys Leute vernichten, dann vernichten Sie auch sie, und Sie wollen sie nicht verlieren. Sie denken, Sie können Henry nicht kontrollieren, wenn er weiter die Menschen tötet, die ihm nahestehen.«

Er sieht Francis in seinem Lederwams schwitzend neben dem Schafott stehen und darauf warten, zu den Seymours laufen zu können, um ihnen zu sagen, dass Annes Kopf herunter ist. Wenn du es eilig hast, wähl Francis Bryan. Er macht deine Wünsche zu seinen, er ist bereit. Willst du jemanden bestechen oder bezaubern, geht es um ein geheimes, schmutziges Geschäft, weißt du, an wen du dich wenden musst. Wenn du etwas Unaussprechbares ausgesprochen hören willst, nicke Francis einmal zu. »Ich kenne Sie, Cromwell«, sagt er. »Sie halten sich für einen vorsichtigen Politiker. Aber Sie sind ein Spieler wie ich.«

»Nicht wie Sie. Sie würden auch noch zum Tarottisch kriechen, wenn man Sie vergiftet hätte. Falls Sie erblinden, erschnüffeln Sie die Kelche und Schwerter und ertasten die Punkte des Würfels.«

Francis sagt: »Ein anderer Mann, der daher kommt, woher Sie stammen, würde sich einen ruhigen Ort suchen und seine Gewinne zählen. Cromwell nicht. Er will alles kontrollieren. Wenn die Seymour dem König einen Sohn schenkt, wer wird dann die Ausbildung des Prinzen überwachen, wenn nicht Cromwell? Wird Fitzroy zum Thronerben erklärt, steht Cromwell in seiner Gnade. Folgt Mary dem König, wird sie sich immer daran erinnern, dass Cromwell ihr das Leben gerettet hat.«

»Glauben Sie mir, Francis«, sagt er lächelnd, »ich hege keinerlei Erwartungen. Ich will nur die Woche überstehen.«

»Sie werden nicht nachlassen, bis Sie Herzog sind. Oder König.« Francis schiebt seine Augenklappe hoch. Er reibt sich die vernarbte Haut. »Nicht, dass Sie ein schlechter König wären, nebenbei bemerkt.«

Sein Blick wendet sich vom zerstörten Gesicht Bryans ab. Der lacht. »Sie haben schon Schlimmeres gesehen.«

Er geht zur Tür. »Martin? Holen Sie mir einen richtigen Stuhl. Wie kann es sein, dass der elende Hocker hier immer noch steht? Habe ich ihn nicht hinausbefördert?«

Martin erscheint. »Er muss von ganz allein zurückgekommen sein. Ich werde den kleinen Mistkerl die Treppe hinunterwerfen.«

»Machen Sie Feuerholz daraus«, sagt Francis. »Zeigen Sie ihm, wer hier das Sagen hat.«

»Und holen Sie uns einen Claret«, sagt er. »Setzen Sie ihn mir auf die Rechnung.«

»Sie haben hier ein Konto?«, fragt Francis. »Heilige Agnes, stehe mir bei.«

»Ich überlege, ob ich nicht einen eigenen Koch hier einstellen sollte, mit ein paar Küchenjungen und einem Kühlraum für Teig. Ein paar saubere Hemden habe ich längst hier und meinen Lammfellmantel. Und Schreiber.«

»Keine Schreiber«, sagt Francis. »Oder ich verstumme.«

»Sie geben mir die Aussage, die Sie versprechen, und ich schließe sie weg, bis ich sie brauche. Ich notiere alles selbst, und niemand muss je erfahren, dass es von Ihnen kommt. Aber wenn auch nur einer von uns die nächste Woche noch erleben soll, muss Carve-Away Mary schreiben und zugeben, dass sie keine praktische Hilfe von ihm oder seinen Freunden erwarten kann und verloren ist, wenn sie nicht genau tut, was ich ihr sage. Und ich spreche bei Henry für Sie vor und …«, er reibt sich die Augen, »… und sobald wir das hier hinter uns haben, kommen Sie frei. Es wird nicht lange dauern. Mary muss sich entscheiden, zwischen ihrem Vater und dem Papst.«

»Zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter«, sagt Francis. »Gegen Tote lässt sich nicht kämpfen. Vielleicht müssen Sie sie ihnen überlassen. Weiß Gott, warum Sie denken, sie ist Ihre Zukunft. Selbst wenn Sie Lady Mary jetzt retten, wird sie Ihnen wegsterben. Sie ist ständig krank, und wenn sich der König gegen Sie, Cromwell, wendet, wird es nicht wie beim alten Henry Guildford sein, der, als er aufgehört hat, aufs Land gezogen ist, um seine Obstbäume zu beschneiden und den Vögeln zu lauschen. Denken Sie daran, wie Wolsey gestürzt ist. Verpatzen Sie die Sache, und Henry bringt Sie dahin, wo ich jetzt sitze. Oder an einen schlimmeren Ort, wo Sie froh wären, so was wie den dreibeinigen Hocker zu haben.«

»Sie klingen, als sorgten Sie sich um mich«, sagt er. »So, wie Sie mir gute Ratschläge geben.«

Francis sagt: »Was ist dieses Land ohne Sie? Ich würde Sie gerne aufsteigen sehen. Schließlich muss ich mir womöglich Geld von Ihnen borgen.«

Martin kommt herein und stellt einen Stuhl vor ihn hin. Er denkt, das erfordert jetzt Geduld: Selbst wenn ich sichere Beweise für einen Verrat bekomme, kann ich es mir leisten, sie zu benutzen? Bryan hat recht. Es ist keine kleine Sache, zwei große Familien und ihre Verbündeten zu Fall zu bringen, nachdem du gerade erst die Boleyns beerdigt hast – und das, ohne die junge Frau zu beschädigen, für die sie einzutreten behaupten. Henry darf nicht bereit sein, bevor ich es bin: Ich muss meinen menschenfressenden König zähmen.

»Eines noch, Francis. Wenn Carew seinen Brief geschrieben hat, muss Ihre Schwester Eliza ihn persönlich nach Hunsdon bringen und sich mit Ihrer Lady Mutter bereden. Lady Bryan hat Mary von klein auf großgezogen. Ich vertraue darauf, dass sie ihre Interessen im Herzen trägt.«

»Meine Lady Mutter«, sagt Francis, »ist nicht die schrullige Alte, die sie zu sein scheint.«

»Sie müssen zu Mary gehen, Mutter und Tochter, ehrlich zu ihr sein und ihr zureden, so gut es geht. Ich vertraue auf Ihre ganze Familie, mir in dieser Sache zu helfen.«

»Nun«, sagt Francis widerwillig, »wenn Sie die Frauen da mit hineinziehen müssen.«

»Sie stecken längst mit drin. Es geht nur um Frauen. Um was sonst noch?«

Francis sieht in seine Tasse. Er schwenkt den Inhalt darin herum, als sähe er in die Zukunft und versuchte das Schicksal im Kaffeesatz zu ändern. »Die Leute sagen, Henry wird seine Tochter nicht umbringen. Andere sagen, wir haben auch nicht gedacht, dass er seine Frau aufs Schafott schicken würde. Aber ich … Ich habe immer gewusst, dass er Anne Boleyn töten würde. Oder wenn nicht er, dann einer seiner Männer für ihn.«

Das warme Wetter ist da. Die langen Tage, während derer, wenn die Gerüchte stimmen, Lady Mary nicht isst: die kurzen, hellen Nächte, in denen sie schlaflos umherwandert, das Gesicht verquollen, die Augen rot gerändert, in denen sie in ihren Tränen schwimmt wie in einem salzigen Becken, dem Ertrinken nahe. Tränen sind gut für junge Frauen, besonders für die, bei denen der Monatsfluss gestoppt ist, oder die, die sich einen Mann im Bett wünschen, jedoch gezwungen sind, ohne auszukommen. Wenn Mary zu weinen aufhörte, wäre sie vielleicht noch kränker als sowieso schon. Wenn sie also schluchzt und würgt, rührt sich niemand, um sie zu trösten. Wenn sie weint: »Jesus, habe Mitleid«, sieht es aus, als hätte er es nicht.

Die Juristen, die Henry konsultiert, schlagen vor, Mary den Eid noch einmal vorzulegen, damit kein Zweifel daran besteht, dass sie weiß, was von ihr verlangt wird. Natürlich weiß sie das, sagt der König. Das ist ihr nicht unklar. Aber er sagt, wie schon im Monat zuvor in der Sache Anne Boleyn: »Cromwell, ich möchte in jeder Einzelheit mit dem Gesetz konform gehen.«

Er sagt zu Richard: »Schick nach Chapuys. Er muss mit mir essen. Er wird beteuern, dass er keinen Appetit hat, aber dann kann er mir beim Essen zusehen.«

Richard sagt: »Sie hätten das vor zwei Wochen schon lösen können. Sie haben uns alle in Gefahr gebracht. Warum sind Sie nicht selbst zu Mary geritten?«

»Weil es nur aus der Ferne geht«, sagt er.

Er muss an Schloss Windsor denken, an einen Tag brütender Hitze. Im Jahr unserer Errettung, 1531. In den Höfen standen die Gepäckwagen des Königs abfahrtbereit, der Haushalt brach zu einem Sommer auf dem Land auf, zum Jagen, Tanzen und zu anderen sportlichen Betätigungen. Er selbst, angehalten, im Hintergrund zu bleiben, stieg Treppen hinauf und wanderte durch leere Räume mit geschlossenen Fensterläden, bis der Hundelärm verklang und die hallenden Lebewohlrufe zum Flüstern aus einem fernen Land wurden, wanderte durch die Räume der Königin, bis er Katherine allein dasitzen sah, verlassen, verstockt, wissend, sich aber nicht eingestehen wollend, dass Henry ohne ein Wort des Abschieds gegangen war. Die kleine Mary, zart wie ein Strohhalm, lehnte hinten an ihrem Stuhl. Madam, sagte er, Ihre Tochter ist krank, sie sollte sitzen. Ein Schmerz durchzuckte das Mädchen, ließ es in sich zusammensacken und sich am vergoldeten Holz festhalten. Katherine sagte zu Mary auf Kastilisch: »Du bist eine Tochter Spaniens, steh aufrecht.«

An dem Tag hat er für den kranken, mageren Körper gekämpft und gewonnen. Zu seinen Füßen ein Hocker: auf dem Hocker ein Kissen mit einer aufgestickten Meerjungfrau. Er nahm den Hocker mit der einen, die Meerjungfrau mit der anderen Hand, hielt den Blick auf die spanische Königin gerichtet und knallte den Hocker auf die Fliesen. Die Sonne strömte durch das bunte Glas, Lichtquadrate, blassgrün und zinnoberrot wie Standarten, flatterten über den hellen Stein.

Katherine schloss die Augen. Als litte sie selbst, gab sie die Erlaubnis mit kaum mehr als einem Nicken. Öffnete die Augen wieder und richtete den Blick in unbestimmte Ferne. Er sah, wie die Prinzessin wankte, bewegte sich vor und fing sie auf, mit ausgestrecktem Arm. Er hielt sie fest: Er erinnert sich an ihre winzigen Knochen, den zitternden, federleichten Körper, die schweißglänzende Stirn. Sie sank auf den Hocker. Er gab ihr das Kissen und studierte ihr Gesicht. Sie drückte sich die Meerjungfrau gegen den Bauch, schlang die Arme darum und beugte sich vor, um den Schmerz zu lindern. Dann stieß sie mit einem Ächzen alle Luft aus sich heraus, ihr Kopf fuhr in die Höhe, und sie sah ihn an, erstaunt und dankbar. Einen Augenblick später schon wischte sie den Ausdruck jedoch wieder weg, und der Wandel vollzog sich so schnell, dass er kaum sagen konnte, er hatte stattgefunden. Aber bis das Gespräch beendet war und er sich verbeugend aus dem Raum bewegte, folgte ihm ihr Blick, wohin immer er trat.

Nach dem Essen, als es stiller wird und sich der lange Mittsommertag auf die Dämmerung vorbereitet, klettern er und der Botschafter auf einen der Türme im Garten. London lauert unter ihnen im blauen Dunst. Vor ihnen steht ein Teller mit Erdbeeren, die sie, bevor der Mond aufgeht, aufzuessen haben. Der Botschafter hat seine Unterlagen unten neben dem Turm liegen lassen. Sein weißer, mit einem Doppeladler geschmückter lederner Foliant liegt auf einem mit Gänseblümchen gesprenkelten, rasenbewachsenen Erdwall.

»Wissen Sie, was mich ärgert?«, sagt er zu Chapuys. »Kein Fürst Europas hat das Recht, auf Henry herabzusehen. Sie haben ihre Parlamente zerstört, soweit es so etwas gab, quälen ihre Völker mit Steuern, plündern die Kassen der Kirche, töten ihre Räte – aber wenn sie vor dem Vatikan das Knie beugen, ist alles gut, dann sind sie moralisch einwandfrei, und der Papst schickt ihnen seinen Segen und sagt: Macht so weiter. Wer von denen hätte eine unfruchtbare Frau ertragen, Jahr um Jahr? Vergiftet hätten sie die Ärmste. Wer von denen würde Nachsicht für ein ungehorsames Kind aufbringen? Wäre Mary die Tochter eines dieser Fürsten, wäre sie längst eingemauert und vergessen, oder sie erlitte einen Unfall.«

»Ja«, sagt Chapuys. »Aber das ist nicht das, was Sie empfehlen werden.«

»Es ist egal, was ich empfehle. Diese Geschichte bricht mir den Hals. Ich bin ein toter Mann.«

»Das haben Sie schon einmal gesagt. Als die Konkubine Sie geplagt hat.«

»Ich sage es, und ich meine es ernst. Ich stecke so tief in dieser Sache, dass es kein Zurück gibt. Ich habe dem König versichert, dass Mary nachgibt, und er hasst Menschen, die ihre Versprechen nicht einhalten.«

Chapuys ist nachdenklich und fährt mit einem Finger über das schwache fedrige Muster der marmornen Tischplatte. »Wie haben Sie die hier heraufbekommen?«

»Mit einer Winde durchs Fenster. Denken Sie, ich habe zu den heiligen Gebeinen Bischof Fishers gebetet und er hat ihr Flügel gegeben?«

Er hat dieses Haus von den Stiftsherren von St. Bartholomew’s in Smithfield gepachtet. Ihr Prior Will Bolton war einmal der Baumeister des Königs, ein Mann mit einem guten Kopf für die Planung und Durchführung größerer Projekte. Meine Güte, Bolton, sagt er, Lord Cromwell, manchmal, wenn er hier ankommt und durchatmet, während sein Pferd in den Stall gebracht wird und Christophe sich um seine Taschen kümmert. Der Prior kam früher im Sommer her, um zu jagen und sich zu erholen, und sein Rebus – eine Tonne oder ein Fass, durch das ein Armbrustbolzen schlägt – ziert nach wie vor die Gartenmauern. Es ist ein kleines Haus mit einem guten quadratischen Zimmer auf jeder Etage, Obstbäumen und Lauben überall, und die Gartentürme stehen so, dass sie den Sommerwind einfangen und man von ihnen aus über die Bäume auf die Stadt hinaussieht.

»Prior Bolton hat während seiner fünf letzten Lebensjahre gelahmt«, sagt er. »Hier herauf, um den Ausblick zu genießen, hat er es nicht mehr geschafft, wobei er auch wenn man es nicht erwartet hätte zweiundachtzig geworden ist.«

»Sie werden natürlich ewig leben«, sagt Chapuys. »Und immer in die Höhe klettern.«

»Wenn wir nach drinnen gehen, werde ich Ihnen die emaillierten Kacheln im Salon zeigen. Sie sind von einem reinen Lapisblau. Er muss sie aus Italien bekommen haben.«

Das leise Murmeln ihrer Stimmen, die heimgekehrten, sich putzenden Tauben in ihrem Schlag. Wie eine Flocke Sommerschnee weht eine verirrte Feder vorbei, und sein Blick folgt ihr ins Dämmerlicht. Chapuys sagt: »Natürlich wundere ich mich nicht, dass alle in diesem Land den Vatikan verachten. Rom hat Katherine im Stich gelassen, zaudernd, Jahr um Jahr.«

»Alle haben sie im Stich gelassen. Ihre Ratgeber waren lauter alte Frauen. Fisher mag ein sehr heiliger Mann gewesen sein, aber nutzlos. Soweit ich weiß, hat er ihr vorgeschlagen, den Kopf nicht hängen zu lassen und aufs Beste zu hoffen. Und was ihre Freunde im Ausland anging – was hat der Kaiser für sie getan? Kriegerische Töne hat er hören lassen.«

Chapuys sagt: »Mein Master muss gegen die Türken kämpfen. Er hat anderes zu tun, als mit dem eigensinnigen König einer kleinen Insel zu streiten.«

»Warum sollte sich mein König also zurückhalten? Ihm geht es gut in seinem Königreich, und er kann mit seiner Tochter machen, was er will.«

»Vergeben Sie mir meine Worte«, sagt Chapuys, »und ich hoffe, die Toten vergeben sie mir ebenfalls – wenn der Kaiser nichts dafür getan hat, seine edle Tante zu retten, lag es vielleicht daran, dass er nicht wusste, was er dann mit ihr anfangen sollte. Sie wäre eine Last für ihn gewesen. Sie war es gewohnt, Geld auszugeben, wie es Königinnen nun einmal tun. Und sie hätte sehr alt werden können.«

Du musst einen Mann respektieren, der die Frömmeleien durchsticht, wie es der Botschafter tut. Er sagt den Leuten immer, unterschätzt mir Chapuys nicht. Hinter seiner Höflichkeit ist er ein leidenschaftlicher kleiner Mann, und auch ausgefuchst, jemand, der bereit ist, Risiken einzugehen.

»Mit Mary verhält es sich anders«, sagt der Botschafter. »Wenn sie es selbst nicht auf den Thron schafft, tun es vielleicht ihre Kinder, und sie könnten die Welt auf eine Weise verändern, die dem Kaiser sehr entspricht. Sie sagen, Henry geht es gut. Aber sollte er seine Tochter schlecht behandeln, wird der Kaiser Schiffe schicken.«

»Der Kaiser wird niemals bei uns einfallen können.«

»Haben Sie einmal die Karte dieser Inseln studiert? Mein Fürst ist der Herrscher der Meere. Wenn Sie die Küste in Kent bewachen, kommen seine Schiffe von Irland herüber. Bewachen Sie den Südwesten, marschiert er vom Nordosten ein.«

»Seine Kapitäne werden an den Küsten sterben. Der König sagt, wir fressen sie bei lebendigem Leib.«

»Soll ich das als Nachricht überbringen?«

»Wenn Sie mögen. Sie wissen, und ich weiß es, dass der Kaiser Mary mit Waffen nicht retten kann. Ihr Fall ist zu eilig.«

Ein Kopf taucht auf, er kommt die Wendeltreppe herauf. Es ist Christophe. »Mylords, mögen Sie etwas Süßes?« Scheppernd stellt er ein Silbertablett vor sie hin. »Master Nennt-Mich ist hier.« Er wirft einen bösen Blick auf Chapuys. »Er will ein paar Codes dechiffrieren. Seinem Scharfsinn widersteht keiner.«

Chapuys drückt die Hände zusammen. Er hat Angst um seine Unterlagen, die er unten gelassen hat. Seine Kniegelenke schmerzen, und er stöhnt leise auf bei dem Gedanken, die drei Etagen nach unten und wieder herauf steigen zu müssen.

»Sag Nennt-Mich, er soll sich ins Grüne setzen und den Nachtigallen lauschen. Dann bring die Papiere des Botschafters herauf, und sieh nicht hinein.«

Christophes Kopf verschwindet aus dem Blick. »Was für ein Trampel der Kerl ist!« Chapuys greift nach einer Erdbeere und sieht sie düster an. »Thomas, ich verstehe, dass es nicht leicht ist, einer unschuldigen jungen Frau zu zeigen, dass die Welt nicht so ist, wie sie denkt. Die verstorbene Katherine hat ihr Kind nie ein negatives Wort über ihren Vater hören lassen. Alles war der Fehler des Kardinals, seines Rats oder seiner Konkubine. Henry war für nichts verantwortlich. Natürlich erwartet sie da, von ihm ans Herz gedrückt zu werden, ohne Frage, jetzt, wo Anne Boleyn tot ist.« Er nimmt einen vorsichtigen Bissen. »Natürlich müssen Sie sie von dem Irrtum befreien.«

Er nickt. »Sie kennt ihren Vater nicht.«

»Wie sollte sie? Sie hat ihn seit fünf Jahren kaum gesehen. Sie war im Gefängnis.«

»Im Gefängnis? Es hat ihr an nichts gefehlt.«

»Aber das dürfen wir ihr nicht sagen, Thomas. Besser, wir sagen ihr, sie habe bereits schmerzlich gelitten: Falls sie denkt, sie hat noch nicht genug getan. Sie hat mir gegenüber damit geprahlt, keine Angst vor dem Beil zu haben.«

»Tatsächlich nicht? Wenn ihre letzte Nacht auf Erden kommt und sie schlaflos auf ihr Ende wartet und alles, was noch vor ihr liegt, ein trauriges Frühstück mit dem Henker ist, hat es keinen Zweck mehr, nach mir zu rufen, damit ich sie rette.«

Im nachfolgenden Schweigen fragt er sich, wo Christophe steckt. Liest er nun doch die Papiere des Botschafters? Was für ein Bruch der Etikette das sein würde. Aber hilfreich, falls sie in französischer Sprache verfasst sind. Christophe hat ein gutes Gedächtnis.

»Es ist ihre Mutter …«, sagt Chapuys. Jetzt, da die Schatten dichter werden, fürchtet er, schlecht über die Toten geredet zu haben. »Ich glaube, sie hat Katherine gelobt, niemals nachzugeben. Gelübde den Lebenden gegenüber lassen sich mit ihrer Erlaubnis auflösen, mit den Toten lässt sich nicht verhandeln.«

»Sie will nicht mehr leben?«

»Nicht um jeden Preis.«

»Wie wird sie dann vor der Geschichte dastehen? Die Enkelin der spanischen Könige, nicht findig genug, das eigene Leben zu retten?«

Christophe poltert von unten herauf: Der Botschafter verschluckt sich fast an einem Anisbonbon. Der Junge schießt zwischen ihnen hoch und knallt die kaiserlichen Unterlagen vor sie hin: der schwarze Adler auf weißem Marmor. »Was hat dich so lange aufgehalten, Christophe?«

»Jemand aus Islington, der sagt, er fürchtet, es wird donnern. Die Kühe auf den Feldern legen sich hin. Ich bitte Sie, kommen Sie beim ersten Regentropfen herunter. Wenn der Blitz einschlägt, sind Sie erledigt. Nur ein Narr würde oben in einem Turm bleiben.«

»Ich werde den Himmel im Auge behalten«, sagt er. »Es wird über London losgehen.«

Christophes Kopf verschwindet wieder nach unten, eine fettige Kugel unter einer schiefen Mütze. Er wartet, bis der Junge außer Hörweite ist, und sagt dann: »Wenn ihr Vater jetzt stürbe, könnte Mary plötzlich Königin werden, was immer ihr Vater verfügt haben mag, was immer als Gesetz das Parlament verlassen hat. Dann, als Königin, könnte sie die rechte Ordnung wiederherstellen. Uns wieder mit Rom vereinen. Den Blick auf unsere Fesseln richten. Sie hätte das Vergnügen, mir den Kopf abzuschlagen. Ich traue ihren netten Worten nicht.«

»Und was für Worte sind das?«

Er holt Marys Brief hervor und schiebt ihn über den Tisch. »Soll ich Christophe Licht bringen lassen?«

»Ich werde ihn schon entziffern«, sagt der Botschafter. Dann räumt er ein: »Es ist tatsächlich ihre Handschrift.« Er blinzelt auf das Blatt. Der Bogen hinter ihm füllt sich mit abendlichem Glanz, einem blassen, opalen Leuchten. »Sie besteht darauf, den Eid nicht zu leisten, nennt Sie aber ihren Freund, neben ihrem Vater. Gott erhalte ihr ihre Unschuld, sie nennt Sie ihren besten Freund auf dieser Welt.«

»Aber warum sollte ich ihr trauen? Sie ist voller List und Tücke.«

Er genießt es. Der Botschafter, denkt er, muss mich umwerben. Ich werde die flatterhafte Erbin geben, und er muss mir meine Ängste nehmen und mich mit seinen Versprechen beruhigen.

»Mary hat mich in große Bedrängnis gebracht«, sagt er. »Ihretwegen habe ich beim König mein Ansehen verloren. Und was sonst habe ich außer meinem Ansehen? Selbst wenn er mich nicht umbringt, wer will einen abgelegten Rat?«

Der Botschafter kennt das Spiel, will es aber nicht spielen, sondern sagt grimmig: »Warum glaubt sie, Sie sind ihr Freund? Das muss ihre Mutter ihr gesagt haben, anders kann es nicht sein. Zu denken, dass nach all diesen Anstrengungen …« Er bricht ab. Er scheint gleichzeitig wütend und beschämt. »Mir scheint, wenn sie Ihnen traut, muss ich es auch. Was eine unglückliche Situation ist.«

»Sie müssen ihr raten nachzugeben und das mit dem Kaiser klären. Seine Zustimmung einholen. Seinen Segen.«

»Unglücklicherweise habe ich den Kaiser nicht bei mir im Kämmerchen, wo ich ihn einfach so konsultieren kann.«

»Nein? Sie sollten ein Porträt von ihm aufhängen. Vielleicht könnten Sie ihm ja mit der Zeit das Sprechen beibringen.«

Er glaubt, Schritte zu hören. »Psst.« Er steht auf und ruft die Treppe hinunter: »Wer ist da?« Der Botschafter verspannt und sammelt sich, als wollte er sich bei jedweder Gefahr in die Tiefe stürzen. Das Fenster ist nicht verglast. Das verbleichende Licht überzieht das Mauerwerk mit einem schwachen Rosé.

Keine Antwort. Prior Bolton hat den Garten nicht mit einer hohen Mauer umgeben oder seine Zäune gesichert. Wollte jemand Übles tun, könnte er Flechtwerk und Weidengeäst zur Seite drücken, durch biegsame Haselnusssträucher dringen – so schliche sich der Verbrecher an. Er greift sich ans Herz und spürt das Messer, versteckt zwischen Seide und Leinen.

»Die Verteidigung eines Turmes ist leicht«, sagt er. »Selbst die eines Gartenturmes. Kommt jemand herauf, stößt man ihn einfach wieder hinunter.«

»Das würde Ihnen gefallen«, sagt Chapuys. »Sagen Sie mir nicht, dass Sie das Handgemenge mit Rat Fitzguillaume nicht außerordentlich genossen haben. Thomas, Sie sind so ein Kind.«

»Christophe?«, ruft er. Seine Stimme windet sich die steinerne Spirale hinab. »Bist du da?«

Eine Antwort hallt herauf: »Wo sonst?« Christophe ist überrascht. Er hält immer Wache, das ist seine frühe Diebesausbildung. Wenn er nichts zu tun hat, sinkt er auf seine Fersen, lehnt den Rücken gegen die Wand und lässt den Kopf vorsinken, als döste er. Aber seine Ohren sind offen, und der gesenkte Blick hält nach Bewegungen am Rand seines Gesichtsfelds Ausschau.

»Da ist niemand«, beruhigt er den Botschafter. »Nur Christophe.« Chapuys lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Essen Sie die Erdbeeren auf«, sagt er. »Schreiben Sie nach Rom.«

»Aber warum sollte ich diesen Beeren trauen? Warum sollte ich sie roh essen?« Chapuys legt die Stirn in Falten. »Chez moi backen wir Kuchen damit.«

»Der Papst wird ihr vergeben, wenn sie sich Henry unterwirft, um ihr Leben zu retten. Sagen Sie ihr, Sie haben um Absolution für sie gebeten. Wenn Ihnen die Kosten Sorgen machen, ich regle das selbst mit Rom.«

»Ich sorge mich mehr um meine Verdauung. Und ich bezweifle, dass sie dieser vordergründigen Argumentation folgen wird.«

»Besuchen Sie sie gleich als Erstes morgen früh. Ich stelle Ihnen einen Passierschein aus.« Er beugt sich zum Botschafter hin. »Sagen Sie ihr, als Anne Boleyn noch lebte, bestand keine Möglichkeit für Henry, sie wieder in die Thronfolge aufzunehmen. Jetzt jedoch, wenn sie ihm in allen Punkten gehorcht, mag ihr Schicksal besser aussehen.«

»Machen Sie ihr dieses Angebot?« Chapuys hebt eine Braue. »Wird Henry nicht seinen unehelichen Sohn bevorzugen? Ich dachte, Ihnen wäre Richmond ebenfalls lieber. Was ist passiert?«

»Richmond kann nicht ohne großen Zank und Groll inthronisiert werden. Mit welcher Lady der König auch verheiratet war, wenn er denn je mit einer verheiratet war, die ganze Welt ist sich darüber einig, dass es niemals Richmonds Mutter war. Und was einen möglichen neuen Erben angeht, auf das Leben eines kleinen Kindes kann man nicht über die Stunde hinaus zählen. Sagen Sie Mary: Sollte sie je bereit sein, einen Kompromiss mit ihrem Gewissen einzugehen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, will sie sich selbst etwas Gutes tun.« Er lehnt sich zurück. »Ja, natürlich wird sie sich anschließend dafür hassen. Aber das ist der Preis. Sagen Sie ihr, mit der Zeit wird es leichter.«

»Mir scheint«, sagt der Botschafter, »Sie sagen, du darfst leben, aber nur so, wie Cromwell es erlaubt. Du kannst sogar regieren, aber nur durch Cromwells Gnade.«

»Wenn Sie es so erklären wollen.« Er verliert die Geduld. »Erklären Sie es, wie Sie mögen. Ich werde ihr ein Dokument schicken, das sie unterzeichnen soll. Eine Ergebenheitserklärung. Sie muss sie nicht lesen. Tatsächlich sollte sie es besser nicht tun, da es später nötig werden könnte, sie nicht anzuerkennen. Aber sie muss sie vorher von einem Schreiber kopieren lassen, da sie nicht in meiner Handschrift an den König gehen kann.«

»Nein, das würde alles zunichte machen.« Chapuys lächelt. »Sie ist nicht einfach, wie Sie wissen.«

»Sagen Sie ihr, dass ich fortan für ihre Sicherheit sorgen werde. Sie wird leben können, wie sie will, als Tochter des Königs, und niemand wird sie bedrängen, dass sie die gleichen Gebete wie ich beten und ihre Heiligen oder ihre Zeremonien aufgeben soll. Aber sagen Sie ihr auch, wenn sie nicht nachgibt, ist sie verloren. Dann werde ich sie als die verstockteste, undankbarste Frau betrachten, die je gelebt hat. Ich werde mich dem Willen des Königs nicht entgegenstellen, und selbst wenn sie durch irgendein Wunder überleben sollte, für mich ist sie dann tot. Ich werde sie für immer hinter mir lassen. Niemals zu ihr kommen. Sie weder besuchen noch sprechen.«

Eine Pause. »Ich verstehe.« Der Botschafter wirkt sardonisch. »Den Brief schreiben Sie lieber selbst. Ich werde ihn ihr getreulich überbringen.«

»Gehen wir nach unten?«

Chapuys zuckt zusammen, als er aufsteht, und reibt sich den Rücken. »Sie zuerst, Mylord. Ich bin so langsam.«

Er nimmt den Folianten von der Marmorplatte. »Ich trage Ihre Unterlagen.« Er ist dem Botschafter ein Stück voraus. Vom ersten Treppenabsatz ruft er nach oben: »Ich sehe nicht hinein! Versprochen!«

Christophe hockt aufmerksam da, genau wie er es sich vorgestellt hat. Neben ihm in der Düsternis steht eine weitere Gestalt. »Guten Abend, Sir«, sagt die Gestalt leise. Es ist Wriothesley mit einem Strauß Pfingstrosen in der Hand.

Im Salon mit den lapisblauen Fliesen verbreitet eine einzelne Wachskerze ihr Licht, während er seinen ersten Entwurf niederschreibt. Es fällt ihm schwer, zur Tochter des Königs zu werden. Bei Sonnenaufgang nimmt er den Entwurf mit zurück in die Stadt und sitzt im Morgenlicht erneut davor: demütig, zitternd, gehorsam. Vielleicht sollte er das allein in seinem Zimmer tun. Aber er will nicht zu viel darüber nachdenken.

Er nimmt eine Feder. Untersucht die Spitze. »Es wird Selbsterniedrigung erfordern.«

Richard Cromwell sagt: »Soll ich gehen und jemanden suchen, der das besser kann als Sie?«

»Richard Riche kennt sich in der Kunst des Kriechens aus«, sagt Gregory. »Und Wriothesley kann es auch, wenn es gefordert ist.«

Er fängt an: »Voller Demut vor Ihrer Majestät kniend …«

»Versuchen Sie es mit: zu Füßen Ihrer Majestät kniend«, sagt Gregory.

»Ist das Gleiche«, sagt Richard.

»Ja, aber so klingt es … einfacher.«

Er ändert den Satz. »Kein Wort über unsere Anstrengungen außerhalb dieses Raumes. Der König muss denken, sie hat es selbst so formuliert. Ich schreibe, um … Warum schreibe ich?«

… um mein Herz Ihrer Gnade zu öffnen … während ich meine Seele Ihrer Führung unterstelle und unterstellen werde … so überlasse ich meinen Körper … keinen besonderen Status oder besondere Lebensumstände verlangend, weder einen gewissen Lebensstil noch Lebensstandard, nur das, was Eure Gnade mir gewährt …

»Das klingt wie direkt aus einem Gesetzestext«, sagt Richard. »Nicht dies, nicht das, nicht das andere.«

»Stimmt. Sie arbeitet nicht bei Gray’s Inn.« Er ist entnervt. Er kann nur schreiben, indem er alle Möglichkeiten abdeckt, darf keine Lücke lassen, haarfein, keinen Riss, der die Bedeutung schwinden lassen könnte. Vergeben Sie mir meine Vergehen … Ich erkenne an, akzeptiere, halte dafür und räume ein …

»Er muss erwarten, dass sie den Rat eines Anwalts einholt«, sagt Gregory. »Er wird erwarten, dass man es sieht.«

… erkenne Ihre Königliche Hoheit als das Oberhaupt der Kirche von England unter Christus an …

Ich gestehe ein und erkenne aus freiem Willen an, dass die Ehe zwischen Ihrer Majestät und meiner Mutter … nach Gottes Gesetz und irdischem Gesetz inzestuös und unrechtmäßig war …

»Inzestuös und unrechtmäßig«, wiederholt Gregory. »Es deckt alles ab, lässt nichts aus.«

»Nur«, sagt Richard, »dass sie den Eid noch nicht geleistet hat.«

Er trocknet die Tinte. »Solange niemand Henry darauf aufmerksam macht …«

Lass dies ihre eigene Art Eid sein, überzeugend und umfassend. Wenn sie von Katherine schreibt, sagt sie, die verstorbene Prinzessinwitwe, wie es jeder Untertan tun könnte. Aber sie schreibt auch meine Mutter, meine tote Mutter, deren Hand damit außer Gefecht gesetzt wird und in ihr Totenhemd zurückfährt. Catalina, heute wirst du abgesetzt, die Lebende schlägt die Tote, und England besiegt Spanien. Ich habe früher schon Briefe für Mary geschrieben, denkt er, kläglicher als der jetzige und noch nachgiebiger: Ich bin nur eine Frau und Ihr Kind. Sie hatten wenig Erfolg. Sie erreichten das Herz des Königs nicht. Was sein Herz berührt, ist, ihm zu geben, was er will – und das in einer Form, dass er nicht weiß, was ihm gefehlt hat, bis er es bekommt. Ich unterstelle meine Seele Ihrer Führung. Ich überlasse meinen Körper Ihrer Gnade.

»Ich will, dass Rafe ihn nach Hunsdon bringt«, sagt er. »Ihn heute Abend unterschreiben lässt.«

Wir sind jetzt in der dritten Juniwoche. Es war ein windiger, nasser Frühling, als Anne starb, ein Monat vergeht, und wir haben Hochsommer. An einem heißen Morgen schließt du die Augen, und auf deinen Lidern liegt das lodernde Muster eines Goldstoffes. Du hebst den Arm in die Sonne, und das Lodern wird purpurn, als schlüpften Bischöfe aus den Flammen. Zusammen mit den Herzögen von Norfolk und Suffolk reitet er nach Hunsdon, um die junge Lady zu ehren, die – reumütig, geläutert, gedemütigt – aufs Neue die Tochter des Königs genannt werden darf.

Hertfordshire ist ein reicher, dicht besiedelter Landstrich, gut bewaldet und mit Wohnsitzen von Gentlemen und Höflingen überzogen. Das Haus selbst, ein Ziegelbau auf einer Anhöhe, ist für die Unterbringung einer Königsfamilie geeignet. Das Anwesen ist uralt, das aktuelle Haus vielleicht achtzig Jahre alt. Wie Antiquitäten werden die Privilegien präsentiert, mit aufgemalten Schildern und den Wappen lange toter Lords: den schwarzen Schrägbalken einer Despencer-Erbin, den silbernen Löwen der Mowbrays und dem königlichen Wappen von Edmund Beaufort mit seinem silber-blauen Rand. Vor zwei Jahren hat der König dreitausend Pfund für neue Dachziegel und Gebälk ausgegeben und Leute aus der Galyon-Hone-Werkstatt hergeschickt, um die Haupträume mit gestreiften Rosen, goldenen Liebesknoten, zitternden weißen Falken und Fleur-de-Lys zu verglasen. Sie gleichzeitig, glücklicherweise, wie sich herausstellt, dichter und sicherer zu machen, mit neuen Haken, Beschlägen, Riegeln, Schließen und Schlössern.

Unterwegs halten sich die Züge der drei Lords voneinander getrennt, aus Angst vor Streitigkeiten zwischen den Bediensteten. Norfolk sagt gackernd: »Es ist gut bekannt, was Cromwell tut, wenn er sich nördlich von London bewegt: Er hält bei einer billigen Herberge, zerrt eine Spülmamsell aus der Küche und hat seinen Spaß mit ihr.« Nur dass er es noch derber ausdrückt und mit einem vorstoßenden Ellbogen und einer pumpenden Faust untermalt.

Charles Brandon brüllt vor Lachen. Das ist seine Art Witz.

Er, Lord Cromwell, blickt zum geringeren Thomas hinüber, der neben Norfolk reitet. Was immer die beiden Halbbrüder zu flüstern hatten, als er sie allein gelassen hat, sie flüstern noch immer. »Sehen Sie das?«, fragt er Suffolk.

»Ja«, sagt Suffolk. »Ihr Mann, Tom Truth. Gehen / sehen. Trinken /  stinken. Fischen / zischen.«

Der arme Kerl, denkt er. Sogar Suffolk versteht, wie schlecht seine Reime sind. Er erinnert sich, wie niedergeschlagen der junge Howard aussah, als er ihm eröffnete, dass die Damen seine Verse untereinander austauschten. Als hätte er sich nicht vorstellen können, dass sie das täten. Als hätte er gedacht, sie läsen seine Gedichte und äßen das Papier dann auf.

In der großen Halle empfängt sie Lady Shelton. In den letzten drei Jahren war sie Marys Hüterin, was kein Posten ist, um den sie jemand beneidet. Brandon kommt herein, sie entbietet ihm ihren Respekt: »Mylord Suffolk. Und Thomas Cromwell, endlich.« Sie küsst ihn herzlich, als wäre er ihr Cousin – während sie zu Thomas Howard, der tatsächlich ihr Cousin ist, sagt: »Dürfen wir darauf hoffen, dass Sie sich nicht am Mobiliar vergehen? Das Inventar ist erfasst, und der Wandteppich, den Ihre Lordschaft neulich zerrissen hat, war hundert Pfund wert.«

»War er das?«, fragt Norfolk. »Ich hätte mir den Arsch nicht damit abgewischt. Wo ist John Shelton? Schon gut, ich finde ihn selbst. Komm mit, Charles.«

Die Herzöge gehen hinaus und rufen nach ihrem Gastgeber. Er sagt: »Hat er sich an dem Wandbehang vergriffen? Was hat er sonst noch gemacht?«

»Er hat Lady Mary Schläge angedroht, seine Faust in die Wand gerammt und sich dabei verletzt.« Lady Shelton hebt eine Hand, um ihr Lächeln zu verbergen. »Er war wie ein betrunkener Bär. Ich dachte, Mary würde vor Angst ohnmächtig werden. Ich dachte, ich auch. Aber jetzt sind Sie hier, Gott sei Dank.«

»Hässlicher denn je«, sagt er. »Während Sie, Mylady – je mehr Sorgen Ihnen aufgebürdet werden, desto anmutiger tragen Sie sie.«

Es ist klar, dass Lady Shelton keinerlei Groll gegen ihn hegt: Was durchaus der Fall sein könnte, war die tote Königin doch ihre Nichte. Sie wischt sein Kompliment mit einer Handbewegung beiseite und sagt: »Heilige Mutter Maria, wir haben Sie seit Langem hier haben wollen. Lady Bryan, wie Sie wissen, ist nur für die Kleine und das, was sie betrifft, zuständig, aber da sie sich auch um Mary gekümmert hat, kaum dass sie abgestillt war, wirft sie bei jeder Gelegenheit mit Ratschlägen um sich und maßt sich an, Shelton zu erklären, wie er den Haushalt zu führen hat, als müsste sich die ganze Welt um Mylady Eliza drehen. Wir haben keinerlei Instruktionen in Bezug auf das Baby, nur dass sie nicht länger ›Prinzessin Elizabeth‹ genannt werden darf. Was denken Sie? Wird der König sie enterben?«

Er zuckt mit den Schultern. »Wir trauen uns nicht, ihn zu fragen. Sein Bein bereitet ihm Schmerzen, und er ist übellaunig, weil er morgens keine drei Stunden reiten und den Nachmittag über Tennis spielen kann. Mit ihm ist nie leicht umzugehen, wenn es ihm an Bewegung mangelt. Aber wer weiß, jetzt, wo Mary sich fügt, können wir ihn vielleicht darauf ansprechen. Was denken Sie? Sie sehen das Kind jeden Tag?«

»Ich glaube, sie ist von Henry. Sie sollten sie brüllen hören. Hatte einer von Annes Gentlemen rote Haare?«

»Keiner von den toten«, sagt er.

Sie zögert. Dann: »Ah, verstehe … Hat es vielleicht noch andere gegeben? Die nicht vor Gericht gebracht worden sind?« Er kann sehen, wie sich ihre Gedanken überschlagen. »Wyatt würde man blond nennen …«

»Ich würde ihn kahl nennen.«

»Ihr Männer seid grausam zueinander.«

»Der König sagt, Anne hat mit hundert Männern geschlafen.«

»Tut er das? Nun, ich nehme an, er kann nicht irgendein gewöhnlicher gehörnter Ehemann sein.« Sie sieht sich über die Schulter. »Stimmt es, dass Wyatt wieder frei ist?«

Er möchte sagen, die Erde schließt sich über Ihrer Nichte, wir sehen nach vorne. »Niemand wird im Moment festgehalten, nicht in dem Zusammenhang. Haben Sie von diesem Brief aus Italien gehört?«

»Reynold. Ja. Dieser riesige Narr. Ich dachte, er hätte Mary ruiniert, sage ich Ihnen. Und John Seymours Tochter, wie macht sie sich, jetzt, wo sie die Mistress von allem ist?«

»Sie ist gut für Henry. Sie beruhigt ihn.«

»Ein nasses Tuch kann das auch.«

Er lächelt. Ihr Frauen seid noch grausamer. Sie nimmt ihn bei der Hand, zieht ihn ins Haus und ruft nach Wein. »Ich werde Ihnen erzählen, wie es ging, als Sadler Ihren Brief brachte. Wir können uns auch setzen. Shelton wird eine Stunde mit den Herzögen reden und seine Beschwerden über Lady Bryan bei ihnen abladen.«

Er mag es, von Lady Shelton eine Geschichte erzählt zu bekommen. Er hat das Gefühl, es wird eine sein, der er beikommen kann. »Du kannst gehen, Rob«, sagt er zu dem wartenden Jungen. Der Junge – es ist Mathew aus Wolf Hall – dreht sich an der Tür noch einmal um und fängt seinen Blick auf. Er sieht weg. Ich werde ihm sagen, denkt er, auch wenn du dich einsam fühlst, in einem fremden Haus und unter falschem Namen, darfst du mir kein Signal geben, und ganz sicher nicht in Anwesenheit einer Frau – die sehen viel, was Männern entgeht.

»Wir haben stündlich mit Ihrem Brief gerechnet«, sagt Lady Shelton, »und dem Papier, das Mary unterzeichnen sollte, nachdem der Mann des Kaisers, Chapuys, zwei Tage vorher da gewesen und für drei, vier Stunden mit ihr eingeschlossen war. Als er ankam, wollte er nichts essen, trank aber einen großen Krug Ale, und bevor er zu ihr ging, sagte Shelton: ›Ich hoffe, der arme Kerl bedauert seinen letzten Schluck nicht‹, denn wenn eine junge Frau darauf besteht, eine Prinzessin zu sein, wie kann man da sagen: ›Entschuldigen Sie, Hoheit‹, und hinausgehen und nach einen Pisspott rufen? Wir konnten Mary die ganze Zeit reden hören, reden, reden, reden, und wenn er konnte, schob der Botschafter ein Wort dazwischen. Als er wieder herauskam, sah er aus, als hätte er vor Gericht gestanden und um sein Leben kämpfen müssen. Shelton brachte ihn zu seinem Pferd und verabschiedete ihn, und als er zurückkam und sich die Stiefel auszog, lief Mary in ihre Kammer und schob eine Kommode vor die Tür. Es war nicht das erste Mal. Wir haben einen kräftigen Kerl, der uns das Holz hackt, und Shelton schickte nach ihm, damit er die Tür aufschulterte. Und als der Holzhacker ins Zimmer fiel, ignorierte sie ihn und fuhr mit ihren Gebeten fort.«

Aber dann, denkt er, hatte sie den ganzen nächsten Tag, um darüber nachzugrübeln, was sie tun sollte.

»Als Sadler kam, das war lange nach Einbruch der Dunkelheit, ich glaube, so gegen elf, war Mary noch wach und lag im Hemd auf dem Bett – oben auf der Decke, wir konnten sie nicht darunterbekommen. Sie sagte: ›Wenn es ein Gentleman ist, werde ich mich ankleiden. Wenn es nur ein Brief ist, erkläre ich hiermit, dass ich ihn erst morgen früh lesen werde.‹ Wir sagten: ›Es ist Sadler‹, und dann wussten wir nicht, was sie tun würde, weil sie einmal gesagt hatte, er sei kein Gentleman, wobei sie doch weiß, er dient dem König in seinen privaten Räumen.«

Ich frage mich, als was ich bei ihr gelte, denkt er.

»Aber dann rief sie: ›Sadler ist Cromwells Diener!‹ Sie kam die Treppe heruntergerannt und schnappte ihm das Päckchen weg. ›Geben Sie her und lassen Sie es uns hinter uns bringen‹, sagte sie. Und sie drückte es an sich und lief damit zurück die Treppe hinauf. Sie rief: ›Ich werde unterschreiben. Ich muss. Botschafter Chapuys hat es mir geraten, und mein Cousin, der Kaiser, befiehlt es. Der Papst wird es mir vergeben, weil man mich zwingt, und somit ist es keine Sünde.‹ Ich war noch nie so überrascht«, sagt Lady Shelton. »Ein wenig später kam sie aus ihrer Kammer, schäumend und voller Groll, und rief mir zu: ›Shelton! Sie fliegen bald raus. Mein guter Vater wird mich zu sich holen. Sie werden sich nie wieder um mich kümmern müssen.‹«

Sie hält ihre Tasse in beiden Händen. »Um Mitternacht hatte sie unterschrieben. Sie sagte, sie wolle das Papier aus dem Haus haben, und befahl Master Sadler, sich gleich im Dunkeln wieder aufzumachen. ›Entweder verlässt der Brief das Haus‹, sagte sie, ›oder ich. Ich bleibe nicht unter einem Dach mit ihm.‹ Was dummes Gerede war, weil das Tor zum Park bewacht ist und sie keine fünfzig Schritt weit gekommen wäre. Und die ganze Zeit, müssen Sie sich vorstellen, wuselt Lady Bryan mit einem dampfenden Glas Kamillentee hinter ihr her und jammert: ›Mein Liebling, du holst dir ein Fieber!‹ Und im Kinderzimmer brüllt das Dämonenkind, weil seine großen Zähne noch nicht ganz da sind, und der normalerweise so manierliche Shelton schreit: ›Verschwinden Sie, Lady Bryan, und Sie, Prinzessin, trinken Sie den Becher aus, oder ich halte Ihnen die Nase zu und zwing es Ihnen rein!‹ Vergeben Sie ihm, dass er den Titel benutzt hat, es ist einfach die beste Möglichkeit, sie zu etwas zu bringen. Dann meldete sich Master Sadler sehr zuvorkommend und korrekt zu Wort und sagte: ›Ich hätte nichts gegen eine Pritsche in Ihrem Sommerhaus und würde den Brief dorthin mitnehmen. Das scheint mir eine Lösung, der alle Seiten zustimmen können.‹«

Guter Junge. Er lächelt. Rafe hatte ihm gesagt, ich schwöre Ihnen, Sir, um aus dem Haus zu kommen, hätte ich auch eine Hängematte genommen, hätte mich in eine Futterkrippe gelegt oder einfach im Gras geschlafen. Am Ende wurde es eine angenehme Nacht, und ich habe von meiner Frau Helen geträumt. Die Vögel haben mich geweckt, und ich hielt Helen im Arm. Brot und Ale haben sie mir gebracht und Wasser zum Waschen. Unrasiert und mit einem knappen Abschiedswort bin ich aufs Pferd gestiegen und wieder hergeritten. Und es ist eine Nacht unter Sternen wert, Sir, Ihnen dieses Papier zu übergeben und zu sehen, wie sich Ihre Miene aufhellt.

Er stellt seine Tasse ab. »Mylady, wir sollten zu den anderen gehen. Ich werde mich zwischen Sie und Norfolk stellen. Den Wandbehang mag er zerreißen, mich nicht.«

Er denkt, Mary Boleyn hat sich einmal an mich gelehnt, weil sie dachte, ich wäre eine Mauer. Norfolk wird mich mit seiner Faust bearbeiten, aber sie wird abprallen.

Lady Shelton sagt: »John und ich, wir fragen uns, wird dieser Haushalt aufgelöst?«

»Noch nicht.« Er zögert. »Der König wird Mary erst empfangen, wenn die Nachricht ihres Nachgebens im Ausland angekommen ist und er aus Rom und vom Kaiser hört, dass sie verstanden haben.«

»Natürlich. Ansonsten würde es aussehen, als hätte er einfach seine Meinung geändert und ihr alles erlassen. Oder dass der Kaiser ihm Angst gemacht hätte.«

»Sie sind eine Frau mit Verstand. Kommen Sie.« Er streckt seine Hand in ihre Richtung. Er denkt, alle Boleyns sind Politiker. »Sie können ihre Beschränkungen lockern. Keine Besucher, bis ich es sage, aber sie kann im Park Luft schnappen. Und sie darf Briefe bekommen.«

Sie nimmt seine Hand. »Ich glaube, sie täuscht ihren Gehorsam nur vor.«

»Lady Shelton«, sagt er. »Das ist mir egal.«

Als sie zu Mary kommen, knien sie nieder. Es ist Norfolks Rolle als Ältester, sie im Namen ihres Vaters zu begrüßen, des mächtigen, gnädigen Königs, lange möge er regieren, und sie um Vergebung für jede mögliche Kränkung durch ihr ungehöriges Drängen in der Vergangenheit zu bitten. Ihre Strenge, sagt er, sei allein ihrer Angst um sie geschuldet gewesen.

»Thomas Howard«, sagt Mary, »ich staune, dass Sie es wagen.«

Norfolks Kopf fährt zurück. Er starrt sie an.

»Mylord Suffolk«, Mary wendet sich an Brandon, »Sie haben sich keines Vergehens schuldig gemacht.«

»Oh, in dem Fall …« Brandon will sich erheben, aber ein Blick, und er sinkt zurück.

»Sie müssen Frauen für sehr schwache Wesen halten«, sagt Mary zu Norfolk, »wenn Sie denken, ihre Erinnerung reicht keine Woche zurück. Meine tut nicht nur das, sondern sie reicht noch länger. Ich weiß sehr gut, wie Sie meine Mutter verfolgt haben.«

»Ich?«, sagt Norfolk. »Was ist mit …«

»Ich weiß, wie Sie den Ehrgeiz von Anne, Ihrer Nichte, gefördert haben, und dann haben Sie sie verstoßen und zum Tode verurteilt. Denken Sie, ich habe kein Mitleid mit dieser fehlgeleiteten Frau?« Sie hält inne und senkt dann die Stimme: »Ich empfinde Schuld. Solche Gefühle sind mir nicht fremd.«

Aus seiner knienden Position heraus betrachtet er die Tochter des Königs. Sie ist zwanzig, und so kann man nicht erwarten, dass sie noch wächst. Sie ist so mager wie vor fünf Jahren, als er sie in Windsor gesehen hat, das Gesicht bleich, die Augen trübe, rastlos und voller Schmerz. Sie trägt ein geschnürtes, bräunliches Kleid, das ihr nicht steht, und ihr Haar steckt hoch unter einem geflochtenen Seidennetz. Sie hat die Kapuze heruntergenommen, zweifellos, weil ihr Kopf zu sehr schmerzt, um das Gewicht ertragen zu können.

»Meine gute Lady«, sagt Charles. Seine Stimme klingt unerwartet kraftlos, er wiederholt die Worte, doch dann hat er, wie es scheint, nichts hinzuzufügen. »Nun«, sagt er, »hier ist Cromwell. Alles wird gut.«

»Es wird gut«, fährt sie auf, »wenn Mylord Norfolk es wiedergutmacht. Würden Sie mit mir tun, was Sie mit Ihrer Frau machen?«

»Was?« Die Brauen des Herzogs schießen in die Höhe, und ein ungewolltes Grinsen kriecht über sein Gesicht.

Sie wird rot. »Ich meine, würden Sie mich schlagen?«

»Wer hat Ihnen gesagt, dass ich meine Frau schlage? Cromwell, waren Sie das? Was hat die verdammte Frau Ihnen erzählt?« Er dreht sich um, die Arme zu den anderen hin ausgebreitet. »Diese Narbe, die sie den Leuten zeigt, auf ihrer Schläfe, die hatte sie schon, bevor ich sie kennenlernte. Sie sagt, ich habe sie aus dem Kindbett gezerrt und durchs Zimmer gestoßen. Bei Johannes dem Täufer, so etwas habe ich nie getan.«

Mary sagt: »Wenn ich die Geschichte noch nicht kannte, dann tue ich es jetzt. Sie haben keinerlei Respekt für irgendeine Frau, auch wenn sie von Gott über Sie gestellt wurde. Gehen Sie hinaus. Ich will mit Lord Cromwell allein sprechen.«

»Oh, wollen Sie das?« Norfolk ist ernüchtert, aber nicht genug. »Und was haben Sie ihm zu sagen, was wir anderen nicht hören dürfen?«

Mary sagt: »Um Ihnen das zu erklären, Mylord, reicht die Ewigkeit nicht.«

Brandon ist wieder auf den Beinen. Sein größter Wunsch ist, aus diesem Raum herauszukommen. Für Norfolk ist es nicht so leicht, sich wieder aufzurichten. Ein Bein schießt vor und trifft hart auf die Binsen, er kämpft ums Gleichgewicht. Er ächzt, und ein Arm fährt in die Luft. Charles packt ihn unter dem Ellbogen, bereit, ihn in die Höhe zu hieven. »Aufgepasst, ich hab dich, Howard.«

Norfolk wehrt sich gegen seine Hilfe. »Loslassen. Es ist ein Krampf.« Er will nicht zugeben, dass es das Alter ist. Aber er, Cromwell, tritt hinüber zu den beiden Herzögen – Erlauben Sie, Mylord Suffolk –, ergreift Thomas Howard mit beiden Händen, hinten beim Rock, und stellt ihn mit einem despektierlichen Ruck auf die Beine. Sein Herz singt.

»So«, sagt sie. »Wie ich höre, sind Sie jetzt der Lordsiegelbewahrer. Was wird mit Thomas Boleyn?«

»Der König hat ihm erlaubt, hinunter nach Sussex zu gehen und ein ruhiges Leben zu führen.«

Sie rümpft die Nase. Sie reibt sich die Stirn. Selbst noch das Haarnetz scheint sie zu quälen. »Ich muss sagen, dass sich Boleyn meiner Mutter gegenüber anständig benommen hat, im Gegensatz zu Thomas Howard. Boleyn hatte nie ein böses Wort für sie, zumindest nicht, wenn sie in Hörweite war. Dennoch, er ist ein kalter, egoistischer Mann, und er hat sich mit Ketzern eingelassen. Der König ist gnädig.«

»Manche sagen, zu gnädig.«

Das ist eine Warnung. Sie hört sie nicht.

»Sie haben sich großartig gemacht, Lord Cromwell. Ich nehme an, Sie waren immer schon großartig, und wir haben es nur nicht gemerkt. Wer kennt Gottes Plan?«

Ich nicht, denkt er. »Ich nehme an, Carew hat Ihnen geschrieben?«

Sie nickt. »Er hat mir gewisse Ratschläge gegeben.«

»Was Sie enttäuscht hat.«

»Was mich überrascht hat. Sehen Sie, Mylord, ich weiß, dass Sir Nicholas den Eid abgelegt hat, obwohl er meine Mutter liebte und für sie eingetreten ist. Ich denke, alle haben ihn abgelegt, die heute noch leben.«

Nicht alle, denkt er. Nicht Bess Darrell, Tom Wyatts Lady.

»Mylady Salisbury hat unterschrieben«, sagt Mary, »und Lord Montague, ihr Sohn, Lord Exeter und alle Courtenays. Als Anne Boleyn noch lebte, hätten sie leiden müssen, hätten sie sich ihrem Willen nicht gebeugt. Aber als ich dann hörte, dass sie hingerichtet worden ist, dachte ich, wozu jetzt noch dieses Versteckspiel? Werden sie jetzt nicht frei heraus sagen, was sie glauben und dass mein Vater sich mit dem Papst versöhnen sollte? Werden sie mir nicht helfen, die Gunst meines Vaters wiederzuerlangen und meine Rechte und meinen Titel zurückzubekommen? Ich wusste nicht, dass er auf seinem Irrtum bestehen würde, ich wusste nicht …«

Dass du so viele schwache Herzen um dich hattest? Opportunisten, Erfüllungsgehilfen und Feiglinge? »Sie haben es Ihnen überlassen, das Risiko zu tragen«, sagt er. »Sie sind darin geübt, den Kopf unten zu halten.«

»Seitdem, seit ich diesen Rat von meinen Freunden bekommen habe, der allem Vorangegangenen so entgegenlief – Sie müssen verstehen, Mylord, dass ich mich da sehr allein gefühlt habe.«

Sie bewegt sich auf ihn zu – er hatte ihre Unbeholfenheit vergessen, wie sie herumtappst, als wäre sie blind. Auf einem niedrigen Tischchen steht Wein, ein Krug aus Silber und Kristall, sie sieht ihn, macht einen Ausfallschritt, stößt dagegen: Er schwankt, der Wein schwappt heraus, eine purpurrote Welle wäscht über das weiße Leinen. »Oh«, ruft sie, und ihre Hand schnellt vor. Der Krug entgleitet ihren Händen.

»Lassen Sie«, sagt er.

Entsetzt starrt sie auf ihre Schuhe. Tritt aus den Scherben heraus. »Das war John Sheltons. Er hat ihn von den Venezianern.«

»Ich schicke ihm einen neuen.«

»Ja, Sie haben Freunde dort unten. Wie mir Botschafter Chapuys sagt.«

»Ich bin froh, dass er Ihnen erfolgreich die Gefahr beschrieben hat, in der Sie sich befanden. Diese letzte Woche war …« Er schüttelt den Kopf.

»Chapuys sagte: ›Cromwell hat allen Anstand aufgewandt, den er in sich trägt. Alles riskiert.‹ Er sagte: ›Er fühlt die Schärfe der Axt.‹« Der Saum ihren Rocks hat den Claret in sich aufgesogen. Sie schüttelt ihn halbherzig. »Kein anderer Lord ist für mich eingetreten. Weder Norfolk, der würde es nie tun. Noch Suffolk, der wagt es nicht. Das können wir ihnen nicht verzeihen …«

Sie bricht ab. Er denkt, sie spricht bereits in der königlichen Mehrzahl.

»Der Botschafter sagt: ›Cromwell ist ein Ketzer. Aber wir dürfen hoffen, dass Gott ihn zur Wahrheit führt.‹«

»Darauf dürfen wir alle hoffen«, sagt er andächtig.

»Ich denke oft, warum bin ich nicht in der Wiege oder schon im Mutterleib gestorben wie meine Brüder und Schwestern? Es muss so sein, dass Gott etwas mit mir vorhat. Vielleicht werde ich auch bald erhoben, über alles hinaus, was heute möglich scheint.«

Die Gefahr im Raum ist so schnell und grell wie aufflackernder Schwefel. Der bräunliche Schnürleib verbreitet eine Art Aura, wenn sie sich bewegt, ein verwaschenes, feindseliges Licht. Sie ist wie Richmond, sie denkt, Henry stirbt. »Was sollte Er für Sie vorgesehen haben?«, fragt er. »Außer, dass Sie zufrieden leben und Ihrem Vater eine gute Tochter sind?«

»Der König wird immer eine gehorsame Tochter in mir haben. Aber ich habe noch einen anderen Vater, einen höheren.«

»Der Wille des himmlischen Vaters ist oft undurchsichtig, der des irdischen Vaters klar. Sie können jetzt nicht mit Vorbehalten kommen, Mary. Sie haben unterschrieben.«

Sie hebt den Blick, ihre Augen triefen vor Wut. Und eine Sekunde später ist da wieder nur ein mildes, leidenschaftsloses Blau, wie bei Henry. »Ja, ich habe meinen Namen daruntergesetzt.«

»Chapuys hat recht. Ich hätte nicht mehr für Sie tun können. Ich hatte Zweifel, überhaupt so viel tun zu können. Ihr Widerstand hat Ihren Vater verletzt. Er hat ihn krank gemacht.«

»Ich glaube, auch mich«, sagt sie. »Wann soll ich also zurück an den Hof kommen? Ich reite heute schon mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen. Lassen Sie ein Pferd für mich aussuchen. Wir könnten vor Einbruch der Nacht in Greenwich sein.«

»Der König ist in Whitehall. Und es ist vorher noch einiges zu erledigen.«

»Natürlich, aber mir ist gleich, wo ich untergebracht werde. Ich teile mir auch ein Ausziehbett mit einer Wäschemagd, wenn es bedeutet, dass ich näher bei meinem Vater bin.« Wieder stolpert sie durch den Raum und tritt in die Scherben. »Ich weiß, Sie halten mich für schwach. Lady Shelton sagt, eine Leiche hat mehr Farbe, und sie hat recht. Aber ich war immer schon eine gute Reiterin. Ich kann mit Ihnen Schritt halten, ich schwöre es.«

 »Lady Mary, Sie müssen Geduld haben. Der König muss sicher sein, dass die Nachricht Ihrer Reformation überallhin gelangt ist, hier und im Ausland.«

»Damit es alle wissen«, sagt sie. »Ich verstehe.«

»Und wenige werden bezweifeln, dass Sie das Richtige getan haben.«

»Chapuys hat mir von Reynolds Brief erzählt. Der hat nichts mit mir zu tun. Ich wusste nichts davon.«

Er denkt, ich kann dich bedauern, ohne dir zu glauben. Er sagt: »Diese Unterstützer, die Sie zu haben glauben, die Courtenays, die Poles, vergessen Sie sie. Sie sagen, sie verehren Ihr altes Blut, aber dabei denken sie mehr an ihr eigenes. Oh, sie mögen Ihnen einen ihrer Jungen zum Ehemann geben, doch dann verlangen sie Ihren Gehorsam, denn eine Frau muss ihrem Mann gehorchen, ganz gleich, welchen Ranges. Und sollte Ihr Vater, was Gott verhüten möge, sterben, bevor er einen Sohn bekommt, werden sie nach der Krone greifen – sie marschieren hinter Ihrem Banner, aber durch ihre Gnaden werden Sie niemals regieren.«

Sie hält ihm den Rücken zugewandt. Im Sonnenlicht, das durch das königliche Wappen, das lohfarbene Fell der gläsernen Löwen fällt, hebt sie die Arme, zupft an ihrem Haarnetz und nimmt es herunter. Sie beugt den Kopf vor, reibt sich Schläfen und Stirn, greift wieder hoch und zieht sich die Nadeln aus dem Haar.

Er starrt sie sprachlos an. Er kann sich nicht erinnern, zugesehen zu haben, wie eine Frau das tut, außer bei einer Gelegenheit. Und selbst bei eben dieser hat er eine aus dem Gewerbe den Beginn der Handlungen dadurch signalisieren sehen, dass sie sich das Haar noch fester flocht und hochsteckte.

Sie sagt: »Ich leide so viel, Master Cromwell, dass ich denke, Gott muss mich lieben. Vergeben Sie mir, ich konnte die Enge keine Minute länger ertragen. In meiner Kopfhaut pocht es, und meine Zähne schmerzen. John Shelton sagt, vielleicht sollte ich sie mir ziehen lassen, wenigstens hörten dann die Schmerzen auf. Ich hatte einen Katarrh im Kopf und hier«, sie legt eine Hand auf ihre Wange, »eine Schwellung, groß wie ein Tennisball.«

Sie ist unschuldig, denkt er. Gewiss. Überleg nur, wie sie zu Norfolk gesagt hat: »Würden Sie mit mir tun, was Sie mit Ihrer Frau machen?«, und nicht wusste, warum er so grinste. »Mylady«, sagt er, »lassen Sie mich Ihnen helfen. Ihre Augen, Ihr Kopf, Ihr Denken, alles an Ihnen war Rebellion. Sie konnten nicht verdauen, was Sie aßen, Ihr Schlaf war keine Erholung. Jetzt jedoch haben Sie einen weisen Weg eingeschlagen, haben getan, was andere auch getan haben, Männer und Frauen, die Gott lieben, genau wie Sie. Alle haben sich zugehörig erklärt und ihre Pflicht diesem Reich gegenüber erkannt. Sie, Mylady, haben all Ihre Kraft in Ihr Nein gelegt, jetzt jedoch haben Sie Ja gesagt. Sie haben das Leben gewählt und müssen einen Weg finden aufzublühen. Denken Sie, nur schwache Menschen gehorchen dem Gesetz, weil sie Angst davor haben? Glauben Sie, nur schwache Menschen tun ihre Pflicht, weil sie sich nichts anderes trauen? Die Wahrheit ist eine andere. Im Gehorsam liegen Kraft und Ruhe, und Sie werden beides verspüren. Glauben Sie mir, ich meine es ernst, wenn ich Ihnen das sage. Es wird wie Sonne nach einem langen Winter sein.«

Sie sagt: »Ich würde alles dafür geben, wieder reiten zu können. Aber ich habe kein Pferd. Sie wollen mir keines geben.«

»Sobald ich wieder in London bin, werde ich Ihnen eines beschaffen. Es wird das Erste sein, was ich tue. Und ich werde Shelton sagen, dass Sie mit einer Eskorte ausreiten dürfen, wann immer Sie wollen.«

»Er hatte Angst, die Leute hier auf dem Land würden mich sehen, vor mir niederknien und mir als Prinzessin zujubeln.«

Wenn das passiert, denkt er, wird Shelton wissen, wie er dem ein Ende bereitet. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass Chapuys auftaucht und dich mitnimmt. Er sagt: »Ich habe einen hübschen Apfelschimmel bei mir im Stall, eine sehr sanfte Stute. Sie kann unverzüglich hergebracht werden.«

»Wie heißt sie?«

Ihr Haar, dünn, rostrot und strähnig, hängt schlaff herab. Sie zieht nervös daran. Im Moment sieht sie gerade mal halb so alt aus, wie sie ist.

»Sie heißt Douceur. Aber Sie können sie umbenennen, wenn Sie mögen.«

»Nein. Das ist ein schöner Name.«

Sie lässt ihr Seidennetz auf den Tisch fallen und sieht zu, wie es den Wein aufsaugt. Er möchte es aus der Pfütze nehmen, aber er weiß, es ist verdorben. Sie sagt: »Ich habe noch eines.« Ihr Blick gleitet über ihn, sie wirkt begehrlich. »Ihre Jacke hat ein schönes Blau. Ich mag das Muster.«

Er denkt an Mary Boleyn: Ich mag Ihren grauen Samt. Das scheint so lange her, es könnte ein anderes Leben sein. Da steckte ein anderer Mann, denkt er, in meiner Jacke. Etwas dünner vielleicht. Auf jeden Fall zögerlicher. Er sagt: »Wenn Sie zurück an den Hof kommen, können Sie alle Seide und allen Damast haben, den Ihr Herz begehrt. Der König hat mir erzählt, was er Ihnen geben wird.«

Mary legt sich eine Hand auf den Mund. Sie lässt ein leises Seufzen hören, ihre Stirn legt sich in tiefe Falten, und im nächsten Moment läuft ihre Nase und Tränen rinnen ihr über die Wangen – kalte, schwere Tränen, die wie Steine vor ein Grab rollen.

Er durchquert den Raum zu ihr. Leise und hoch klagt sie zwischen den Fingern hindurch, als wäre sie über eine Leiche gestolpert. Sie wankt und jammert, und er fasst ihren Arm, um sie auf den Beinen zu halten. Mäuseknochen zucken und zittern in seiner Hand. Die Tür öffnet sich. Lady Shelton sieht den zersprungenen Krug, die rote Lache, das Mädchen mit dem fürchterlich nackten Gesicht und sagt so direkt wie eine Mutter zu ihrer Tochter: »Mary, hören Sie mit der Jammerei auf. Lassen Sie den Lordsiegelbewahrer los und setzen Sie Ihre Haube auf.«

Marys Schluchzen bricht ab. Ihr Gesicht ist tränennass: Sie zittert wie jemand, der von Fieber geschüttelt wird. »Ich kann nicht. Mein Netz ist verdorben. Ich bin gegen den Tisch gelaufen und habe Sir Johns Krug zerschlagen, was mir so leid tut, und dann habe ich …«

»Schon gut«, sagt Lady Shelton. »Ich habe noch nie etwas von dem verstanden, was Sie sagen, und nehme auch nicht an, dass sich das gerade jetzt ändern wird.« Sie fasst das Haar des Mädchens und hält es in der Hand, als wollte sie Mary daran aus dem Raum führen. Dann lässt sie es mit einem verzweifelten Seufzer wieder los. »Ich werde Sie zu Lady Bryan bringen, damit sie Sie wieder herrichtet. Putzen Sie sich die Nase.«

Er kann Marys Gedanken hören, so laut, als hallten sie von den Wänden wider: Ich bin eine englische Prinzessin, Sie haben mir Versprechungen gemacht. »Mary«, sagt er, »hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Meine Versprechen werden nun gehalten. Ich betrachte es als meine Pflicht. Zählen Sie darauf, und auf meinen Respekt. Nicht auf mehr.«

In Marys Augen flackert Bestürzung. »Aber Sie haben gesagt, ich sollte … Wenn dem König etwas zustieße … Dass Sie mir helfen würden … Haben Sie das nicht dem Botschafter gesagt?«

»Ich habe gesagt, was ich sagen musste. Es war eine Extremsituation.«

Mit einem Zug an den Haaren unterbindet Anne Shelton weitere Fragen. Sie spricht zu ihm über den Kopf des Mädchens hinweg: »Sie können nicht gehen, ohne Eliza zu sehen. Lady Bryan besteht darauf.«

Was Lady Bryan zu zeigen hat, sind ein zuckendes Leinenknäuel, rote, um sich schlagende Fäustchen und ein Schlund, aus dem Schreie dringen. »Jetzt, Mylady.« Sie hebt das kleine Mädchen hoch. »Zeig diesen Gentlemen, wie brav du bist. Sie sind extra hergeritten, um dich zu sehen und deinem Lord Vater zu erzählen, wie du dich entwickelst.«

Er ist bestürzt. »Sie schreit, als hätte sie gerade Bischof Gardiner gesehen.«

Ein Glucksen von Brandon. Ein angespanntes Lächeln von Thomas Howard.

»Willst du Ihren Lordschaften nicht sagen, wie froh du bist, sie zu sehen?«, fragt Lady Bryan ihr Mündel. »Magst du ihnen ein Liedchen singen?«

»Das bezweifle ich sehr«, sagt Norfolk.

»Lala-la, lala-li, lalali-lala«, trällert Lady Bryan. »Wenn Spatzen auf grünen Hügeln Kirchen bau’n … Nein? Macht nichts, mein Liebling. Hier hast du was zum Beißen.« Sie holt einen elfenbeinernen Ring mit grünen Bändern hervor, den das Kind ergreift und sich in den Mund schiebt. »Ihre Zähnchen kommen sehr langsam.«

Suffolk starrt aus großer Höhe auf die Kleine hinunter. »Gott sei Dank wachsen sie nicht schneller. Sonst hätte ich Angst, sie würde nach mir schnappen.«

»Vielleicht sollten wir zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder herkommen«, sagt er.

»Ja«, murmelt Suffolk, »wenn sie dreißig ist.« Aber er mag Kinder, und er kann nicht anders, er beugt sich vor und zieht Grimassen. Die Kleine hört auf zu quengeln und berührt seinen Bart. Sie reibt daran und sieht zweifelnd auf ihre Fingerchen.

»Der färbt nicht ab«, sagt Charles zu ihr. Die schwarzen Augen fahren zu ihm, sie steckt den Elfenbeinring zurück in den Mund, weint aber nicht wieder.

»Ich habe noch nie ein Kind so leiden sehen«, sagt Lady Bryan. »Sie sorgt dafür, dass ich nachgebe, wenn ich es vielleicht nicht sollte. Sir John lässt sie mit am Tisch sitzen, sie ist zu jung, um ihr vorzuenthalten, was sie gerne mag.« Sie sieht ihn an. »Master Cromwell, wie geht es Ihrem kleinen Gregory dieser Tage?«

»Er ist einen Kopf größer als ich und sucht eine Frau.«

»Wie die Jahre verfliegen! Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Sie ihn mit nach … wo immer wir da gerade waren …«

»Hatfield.«

»Mary kümmerte dahin.« Sie wendet sich den Herzögen zu. »Bis Thomas Cromwell kam, konnten wir nichts mit ihr anfangen. Wir konnten sie nicht dazu bringen, mit am großen Tisch zu essen, weil sie tiefer hätte sitzen müssen als ihre Schwester – damals war Eliza eine Prinzessin. Und Sir John sagte, passt auf, gebt ihr nach, und sie werden am Ende alle für sich essen wollen, die Köche werden verrückt gemacht und die Ausgaben wachsen über alles hinaus, was wir haben. Nein, sagte er, Mary isst im Speisesaal mit uns allen, oder sie kriegt nichts. Aber Master Cromwell hat die Ärzte dazu gebracht, festzustellen, bei ihrer Ehre, dass Mary nicht gedeihen würde, wenn sie nicht gleich nach dem Aufstehen morgens einen Teller rotes Fleisch bekäme. Sir John konnte ihr kaum ihr Frühstück verwehren, und das nimmt jeder für sich ein. So bekam sie denn ihre Portion Wild, solange was in der Speisekammer war, und gepökeltes Rind, wenn nötig.«

Suffolk lächelt. »Wie Robin Hood und seine Leute hat sie gefrühstückt, draußen im grünen Wald. Ich denke, es hat ihr gutgetan.«

»Ist Mary jetzt also wieder eine Prinzessin?«, fragt Lady Bryan.

Er sagt: »Sie bleibt, was sie war. Lady Mary, die Tochter des Königs.«

»Und dieses Mädchen hier«, sagt Norfolk, »soll Mylady Bastard sein, bis Sie anderes hören …«

»So eine Schande!« Lady Bryan ist bestürzt. »Wer immer sie sein mag, sie ist die Tochter eines Gentlemans, und ich weiß nicht, wie ich sie entsprechend ausstatten soll. Alle Kinder wachsen, Sir, in diesem letzten Monat ist sie aus allem, was sie hat, herausgewachsen, und Sir John sagt, er hat kein Geld und keine Anweisungen. Wir haben geflickt und ausgebessert, bis es nicht mehr ging. Sie braucht Nachthemden, sie braucht Mützen …«

»Madam, bin ich eine Kinderfrau?«, fragt Norfolk. »Reden Sie mit Cromwell darüber. Ich wage zu sagen, dass er etwas von den Bedürfnissen des Kindes versteht. Ihm ist nichts fremd, geben Sie ihm etwas Batist und eine Nadel, und Sie werden sehen, Ihre kleine Dame ist noch vor dem Abendessen neu eingekleidet.«

Der Herzog dreht sich auf dem Absatz um und stakst aus dem Zimmer. Sie können ihn auf der Treppe hören, wie er nach John Shelton ruft, die Pferde zu holen.

»Schreiben Sie mir«, sagt er zu Lady Bryan. Er muss hinter Norfolk her. Er will nicht, dass er mit Mary allein ist.

Aber Lady Bryan folgt ihm, ein Wortschwall knapp neben ihm. Auf der Treppe: »Cromwell, ich habe mit ihr geredet. Wie Sie es verlangt hatten. Und auch meine Tochter, Lady Carew.« Sie spricht leise. »Wir haben getan, was Sie wollten.«

»Gut.«

»Sie haben ihren Stolz gebrochen. Das ist nicht gut.«

»Es hat ihr das Leben gerettet.«

»Zu welchem Zweck?«

Er beschleunigt seinen Schritt. »Schicken Sie mir eine Liste mit den Sachen, die das kleine Mädchen braucht.«

Shelton ist draußen bei den Stalljungen. Lady Shelton sagt lachend: »Kein Grund, zu rennen. Mary ist nach oben. Haben Sie gedacht, sie würde gleich loslaufen, um mit Ihren Feinden zu konferieren? Sie halten sie für eine wetterwendische Person.«

Er wird langsamer. »Die Herzöge sind nicht meine Feinde. Wir stehen alle in Diensten des Königs.«

»Sie scheinen Suffolk Respekt eingeflößt zu haben.«

Stimmt, denkt er. Brandon macht dieser Tage keine Schwierigkeiten.

Er dreht sich um und nimmt ihre Hand. Aber da erschallt ein Schrei von unten, wie ein Jagdruf: »Cromwell!«

Es ist Charles, auf der Schwelle, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick nach oben gerichtet: »Cromwell, sehen Sie das?«

Er muss zu ihm laufen, um seinem Blick folgen zu können. Weit über ihnen, in einem Schleier blutfarbenen Lichts, ruhen die Initialen der toten Anne auf einem glasigen Kissen.

»Shelton«, ruft der Herzog. »Sie haben da ein HA-HA. Schlagen Sie es weg, Mann. Tun Sie es, solange das Wetter gut ist.« Charles brüllt vor Lachen. »Holen Sie Lady Mary, sie soll mit einem Ziegel danach werfen.«

Mathew, der Junge, ist draußen und hält den Zügel seines Pferdes. »Ganz ruhig«, sagt er und meint damit nicht das Pferd.

Er steigt auf, und durch das Knarzen von Sattel und Geschirr hört er den Jungen murmeln: »Holen Sie mich nach Hause, wenn Sie können, Sir.«

»Ich werde Thurston sagen, dass du ihn vermisst.«

Mathew tritt zurück. »Gott sei mit Ihnen, Sir.«

Er nimmt die Zügel. John Shelton steht ihnen im Weg und entschuldigt sich für das HA-HA. »Ich dachte, ich hätte alle entfernt. Jedes einzelne.«

Er sagt: »Es ist kaum einen Monat her, dass Galyon Hone aus Dover Castle die Rechnung dafür geschickt hat, das Emblem der Königin in ihren privaten Gemächern anzubringen.«

»Was?«, fragt Norfolk. »Der Königin heute oder der anderen?«

»Verschwendet«, sagt er. »Zweihundert Pfund.«

Brandon pfeift. »Es ist teuflisch. Stein kannst du wegmeißeln, Holz herausreißen oder umschnitzen, Putz weißeln und neu bemalen, Gesticktes wieder lösen – aber wenn es gläsern auf dich hinunterlodert, mit der Sonne dahinter, was kannst du dann tun?«

Sie erreichen die Straße. Der Frühsommer wird es ihnen erlauben, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. »Was traurig für Sie ist, Cromwell«, sagt Norfolk. »Sie würden lieber übernachten, nehme ich an. Trotzdem, sehen Sie immer mal wieder in den Graben, vielleicht finden Sie ja eine Schlampe, die die Beine breit macht.«

Norfolk reitet mit seinen Leuten voran, aber er, Cromwell, und Brandon bleiben Seite an Seite, Knie an Knie. In Southwark, erzählt Brandon, wo seine Familie ein großes Haus hat und die Werkstätten der Glasmacher sind, besteht ständig Gefahr durch die wild lodernden Feuer, wenn sie ihre Brennöfen aufmachen. »Ein brennender Strohhalm«, sagt Brandon, »und wusch, alles drumherum steht in Flammen.«

Nun, bei den Temperaturen, denkt er. Auch ein Schmiedefeuer ist gefährlich, und die Schmiede selbst sind immer schwarz und voller Verbrennungen, aber ihnen wird das Herz nicht vom eigenen Produkt durchbohrt, und sie stürzen auch nicht von Kirchtürmen in den Tod, wie es Glasern jeden Tag der Woche passiert.

Als sie auf die Straße nach Ware kommen, zügelt Thomas Howard sein Pferd und dreht sich im Sattel zu ihnen um. Sein Halbbruder Tom Truth hält ebenfalls an und sieht sich um.

»Sehen Sie sich die Howards an, wie sie sich die Hälse verrenken«, sagt er. »Sie wollen wissen, worüber wir reden.«

Wie es der Zufall will, noch über die Glasereien. »Wissen Sie, Cromwell«, sagt der Herzog, »in meiner Jugend hatte ich ein seltenes Talent im Glaszerschlagen. Ich denke, Sie auch. Oder vielleicht hatten Sie nicht die Gelegenheit dazu?«

»Doch, Mylord, wir hatten Glas in Putney.«

»Mylord Norfolk?«, ruft Charles. »Ich erzähle Cromwell hier gerade, ich habe seit Jahren keine Scheibe mehr zerschlagen.«

In der ersten Juliwoche deutet der König an, dass er bereit ist, seine Tochter zu empfangen. Allerdings noch nicht, sie an den Hof zu holen: »Aber die Königin drängt mich«, sagt er, »und ich dachte, Sie könnten es so arrangieren, dass … ich sie einfach sehen und ihre Gefühle für mich beurteilen kann. Und Crumb«, sagt er, »ich will nicht weit reiten müssen.«

Die Ärzte werden täglich konsultiert. Der quälende Schmerz in seinem entzündeten Bein schlägt dem König auf die Stimmung. Ich fürchte schon seit einiger Zeit, sagt Butts, dass da eine Fäulnis im Knochen zurückgeblieben ist. Was im Fleisch ist, können wir herauswaschen – herausschneiden, wenn wir müssen. Aber der Knochen muss sich selbst heilen. Oder nicht. Der junge Richmond hat recht. Der Zerfall reicht tief. Im nächsten Jahr ist der König vielleicht nicht mehr.

In Austin Friars geht er in Mercy Priors Kammer. »Mutter, der König möchte seine Tochter sehen. Ich dachte, wir könnten unser neues Haus in Hackney dafür nehmen.«

Mercys Quartier geht auf den Garten hinaus, damit sie in der Sonne sitzen kann, wenn sie denn scheint. Nach wie vor schreiben sie und ihre Freudinnen sich Briefe – manche sind jünger als sie, manche gebildet, manche Lutheranerinnen. Manchmal kommt Mistress Sadler, um ihr vorzulesen. Helen liest mittlerweile so sicher, als hätte sie es als Kind schon gelernt, und sie schreibt auch gut. Aber heute ist Mercy mit ihrem von Tyndale übersetzten Neuen Testament allein. Auch wenn sie die Worte nicht immer entziffern kann, hat sie den Text doch gerne zur Hand. Sie legt das Buch zur Seite und betrachtet es noch eine Weile, wie man ein Kind beobachten mag, um zu sehen, ob es sich beruhigt. »Ich nehme an, es gibt nichts Neues?«

Tyndale ist jetzt seit einem Jahr im Gefängnis des Kaisers in Vilvoorde, seit er in Antwerpen festgenommen wurde. Es ist nicht mehr viel Zeit. Tyndale wird widerrufen oder verbrannt werden. Vielleicht wird er widerrufen und verbrannt werden. Der Kaiser will ein Exempel statuieren und Antwerpen in Angst halten. Der König von England wird in der Sache nichts unternehmen, da der Gelehrte ihm bei seiner Scheidung entgegenstand. Gegen den Papst zu sein, heißt nicht gleich, für Henry zu sein. Tyndale, wie auch Martin Luther, hat immer gesagt, wir lieben weder Rom noch seine Autorität, aber wir können die Ehe mit Katherine nicht für ungültig erklären, sie ist rechtmäßig und muss weiterbestehen.

»Können Sie den König nicht dazu bringen, ein Wort für ihn einzulegen?«, fragt Mercy. »Jetzt, wo er seine neue Königin hat, die andere Seite tot und er erleichtert ist. Sie sagen, er wird sich mit seiner Tochter versöhnen …«

Katherine ist tot und nicht tot. Ihre Sache gedeiht prächtig weiter, die Wurzeln tief in saurer Erde. Mercy sagt: »Ich denke an Tyndale in seiner Zelle. Könnten Sie ihn nicht da herausholen? Wäre das nicht möglich?«

»Sie meinen, ob mir das möglich wäre? Sie denken, es ist etwas, das ich versuchen könnte?«

»Sie können alles versuchen.« Das meint sie nicht als Kompliment.

Er hat den Grundriss der Festung von Vilvoorde. Er weiß, wo Tyndale eingesperrt ist. Aber wenn er ihn bis an die Küste bringt, wohin würde er dann gehen? »Ich denke, wir sehen das Testament bald auf Englisch. Ich glaube, Henry wird es erlauben. In Tyndales Übersetzung. Aber sein Name darf nicht darauf stehen.«

»Ich hoffe, das erlebe ich noch«, sagt Mercy. »Ich gebe Thomas More die Schuld an dem, was Tyndale passiert ist, seinem Nest an Spionen, das nach seinem Ableben weiter gedieh. Wenn ich dächte, dass die Toten in ihren Gräbern noch Schmerzen fühlen könnten, würde ich Thomas More ausbuddeln und ihn für das, was er Männern und Frauen angetan hat, die näher bei Gott sind, als er es je sein wird, die Cheap hinauf- und hinuntertreten.«

»Gesegnet seien die Sanftmütigen«, sagt er.

»Ja, so heißt es. Ich sehe, wohin man damit kommt.«

Während der letzten Wochen hat er oft gedacht, wenn man die Tochter des Königs mit Tyndale zusammenbrächte, um zu sehen, wer starrköpfiger und selbstzerstörerischer ist, würde das eine enge Entscheidung. »Aber Sie sehen«, sagt er, »sie hat nachgegeben. Wenn wir sie nach Hackney bringen und es dort schlecht läuft, kann der König schnell wieder verschwinden.«

Während des letzten Jahres hat er ein Haus renoviert, das dem König vom Earl of Northumberland zugefallen ist. Der junge Harry Percy ist krank und tief verschuldet bei der Krone. Als Teilzahlung hat er das Haus mit seinem gesamten Inhalt angeboten. Henry sagte, warum ziehen Sie während der Renovierung nicht dort ein, Crumb, und haben einen Blick auf die Arbeiter? Wo der junge Sadler sein Haus gleich auf der anderen Seite vom Grün baut, können Sie die Arbeiten lenken, wie es nötig ist … Der König schickte alte Eiche aus den königlichen Forsten, und er und Rafe richteten eine Ziegelei ein, versorgt mit dem Wasser aus dem durchfließenden Bach. Und Mercy sagte: »Sie werden sehen, Thomas, kaum dass die harte Arbeit getan ist, wird Henry Sie wieder hinauswerfen.«

Natürlich, aber das Haus gehört ihm schließlich auch. Er hat Botschafter um Pflanzen gebeten, die nicht in England wachsen. Licht wird die alten Räume durchfluten. Es wird keine HA-HA und keinen Grund geben, die Arroganz von Hones Glasern zu ertragen. James Nicholson ist genauso gut, für weniger Geld. Er ist mit den Bauleitern das Gelände abgeschritten, tief im Gespräch über Rohre und Kanäle, die Kapazität von Wassertanks und verborgene Quellen, die sich anzapfen lassen. Schon in seinen frühen Tagen in Austin Friars hat er bei sich ein Badezimmer eingerichtet, aber es ist schwer, fließendes Wasser zu bekommen, das mehr als nur ein Rinnsal ist. Und du brauchst eine gute Zufuhr in der Küche, wenn es einen König zu versorgen gilt.

»Kommen Sie mit hinaus?«, fragt er Mercy. »Alles muss fertig sein, damit die königlichen Damen dort eine Nacht schlafen können.«

»Das macht Helen Sadler. Ich bin zu alt, um aufs Land hinauszuholpern. Und da weder sie noch ich je auch nur in die Nähe des Hofes gelangt sind, kann sie so gut wie ich raten, was alles gebraucht wird. Mary ist auch nur ein Mensch, nehme ich an, eine junge Frau wie andere junge Frauen.«

Ja, denkt er, und Jane ist eine Königin wie andere Königinnen. Henry hat sie den Botschaftern vorgeführt und ihr erlaubt, sich mit ihnen zu unterhalten. Er ist überrascht, alle sind das, von ihrer Ruhe und ihrem sicheren Auftreten. Aber hinterher scheint sie sich in sich zurückzuziehen. Während der ersten Woche ihrer Präsentation hat ihr Blick ihre Brüder gesucht, oder ihn, um ein Zeichen zu bekommen, was sie tun sollte. Die Frauen um sie herum werden immer noch von jeder noch so kleinen Unruhe in Aufregung versetzt. Francis Bryan fragt, was erwarten Sie denn, Thomas? Es ist erst Wochen her, dass Sie sie einzeln verhört und ihre armen kleinen Geschichten zu einem Netz verknotet haben. Sie brauchen Zeit, um sich von dem Schrecken zu erholen.

Der Tag ist gekommen. Helen hält eine Liste in der Hand. Harry Percys Möbel waren unter Bezügen verborgen, um sie vor Gipsstaub und dem Geruch frischer Farbe zu schützen. Im großen Schlafzimmer sind die Wappen des Earls von den blauen Wandbehängen und goldenen Stoffen entfernt worden. Unter der Tagesdecke aus goldenem Damast und blauem Samt liegen Schichten neuer Decken aus dichter weißer Wolle. Heute Morgen ist er aufgewacht und hat an den in der Feuchtigkeit seiner Zelle liegenden Tyndale gedacht. Wenn der Henker ihn nicht tötet, wird es der nächste Winter tun. In Antwerpen schieben sie die gedruckten Seiten des Evangeliums in die Falten von Stoffballen, wo sie sich verstecken, weiß in Weiß. Warm eingeschmiegt, flüstert Gott in den Ballen: Sein Wort fährt übers Meer, wird in den östlichen Höfen entladen und reist auf einem Karren nach London. Er macht sich eine Notiz: Tyndale, mit Henry reden, neuer Versuch.

Was Lady Mary betrifft, so hat er empfohlen, ihr den wärmsten Raum im Haus zu geben. Ein großes Daunenbett steht bereit, an den Wänden gelbbraune Samtbehänge, dazu Kissen aus rostbraunem Samt und gemustertem grünem Satin. »Das könnte ein Ehebett sein«, sagt Helen. Er sieht das Vergnügen, dass ihr das alles bereitet, einem einfachen Mädchen, das ärmlich aufgewachsen ist und jetzt mit diesen feinen Sachen umgeht und eine ganze Brigade Kissen kommandiert. Sie sagt: »Ich habe den großen purpurnen Sessel für den König in die Galerie stellen lassen. Ich muss einen niedrigeren für die Königin finden. Für Lady Mary gibt es einen kleinen goldenen Brokatsessel. Sie sagen, sie ist von schmaler Gestalt und klein.« Sie zögert. »Werde ich sie sehen?«

Helen ist die Frau eines Mannes, der dem König in seinen Gemächern dient, nahe bei ihm ist, warum sollte nicht auch sie ihren Knicks machen? Aber es gibt Gepflogenheiten, und sie hat nicht vor, sie zu brechen. »Wenn Sie sie zum Essen hereinbringen, werde ich bei den Bediensteten stehen. Rufen Sie mich nicht, das möchte ich nicht.«

Sie stehen in der Galerie, während sie dies besprechen. Helen betrachtet den Wandteppich, die weiß geknüpften Glieder rennender Gestalten, ein Mädchen mit fließendem Haar. »Ich habe keine Ahnung, wen diese Leute darstellen.«

Es ist die Geschichte Atalantas und ihres unglücklichen Starts ins Leben. »Sie war auch eine Königstochter«, sagt er.

»Und?«

Eine Königstochter kann nicht einfach ruhig leben. Es gibt immer ein Und oder ein Aber: »Aber der König wollte einen Sohn. Als die Tochter geboren wurde, ließ er sie auf einem Berg zurück.«

»Ein unschuldiges Kind?« Helen ist schockiert.

»Das war vor langer Zeit«, sagt er, »in Arkadien. Aber sie wurde gerettet, weil durch eine glückliche Fügung eine Bärin vorbeikam und ihr Milch gab.«

»Ah, ich verstehe, es ist ein Märchen. Und was dann?«

»Sie wuchs heran und wurde eine Jägerin. Sie lebte in der Wildnis und gelobte, jungfräulich zu bleiben.«

»Warum das?«

»Ich glaube, es war eine Art Opfer an die Götter. Das war vor den Päpsten. Vor Christus. Sie hatten damals eigene kleine Götter.«

Lärm aus dem Hof holt sie ans Fenster. Thurston ist da. Die Küchenbediensteten sind auf ihn vorbereitet. In einem englischen Sommer musst du für deinen eigenen Sonnenschein sorgen. Thurston wird sich unten um die feinen Einzelheiten kümmern: Rosenwasser, Wackelpudding, Käsetarts.

Der König trägt Weiß und Gold, die Königin Weiß und Silber. »Heute geht es besser«, sagt der König und meint sich selbst. Ohne jede Hast, seine Tochter sehen zu wollen, oder mit dem Wunsch, nicht in Hast zu scheinen, spaziert er mit Rafe Sadler durch den Garten und inspiziert die neuen Pflanzen. »Ich werde eine ganze Woche hier verbringen. Vielleicht gegen Ende des Sommers.«

Dann bist du aus dem Weg, denkt er. Rafe fängt seinen Blick auf. »Ich werde Sie besuchen, Sadler«, verspricht der König. »Master Sadler wohnt ein Stück die Straße hinunter«, erklärt er Jane. »Wussten Sie, dass er eine Bettlerin geheiratet hat?«

»Nein«, sagt Jane, ohne dem etwas hinzuzufügen.

»Sie kam ans Tor von Cromwells Haus, zwei kleine Kinder an den Röcken. Und keine Hilfe in der Welt, aber Cromwell, der ihr ehrbares Auftreten sah, nahm sie bei sich auf.« Henry gefällt seine Geschichte, sein Gesicht ist gerötet, er gibt sich locker und wohlwollend, seine Augen sind klarer als seit Wochen. »Master Sadler sah sie mit jedem Tag weiter aufblühen, und sie gewann sein Herz – und obwohl sie mittellos war, heiratete er sie.«

Etwas fehlt in Janes Reaktion, wenigstens denkt der König das. »War das keine große Barmherzigkeit?«, drängt Henry. »Ein Mann, der vorteilhaft hätte heiraten können, nimmt eine niedriger stehende Frau, nur wegen der Tugend, die er in ihr erkennt?« Jane murmelt etwas, der König beugt sich vor, um sie zu verstehen. »Oh, ja, ich denke, sie waren alle aufs Herrlichste außer sich. Cromwell, war Sadlers Familie nicht aufgebracht? Aber Cromwell ist für die beiden eingetreten. Er sagte, nichts darf echter Liebe entgegenstehen. Und«, der König hebt Janes Hand an und küsst sie, »Cromwell hatte recht.«

Das Signal ist erklungen, der Moment gekommen. Der König lässt den Blick strahlend durch den Raum wandern. »Wir haben lange auf diesen Tag gewartet. Sie dürfen sie zu uns bringen, Cromwell.« Er wendet sich an Rafe: »Cromwell hat sich mit solcher Empfindsamkeit und Fürsorge um meine Tochter gekümmert, wie er es auch als mein Verwandter nicht besser hätte tun können. Was er natürlich«, der König scheint von seinen eigenen Worten überrascht, »nie sein könnte. Aber ich möchte ihn belohnen, ihn und sein ganzes Haus. Lady Shelton, wollen Sie ihn begleiten?«

Lady Shelton ist mit Marys Gefolge und einer Truhe neuer Kleider aus Hertfordshire hergeritten. Während sie nach oben gehen, sagt sie: »Der König wirkt erleichtert. Man sollte fast denken, Jane hat bereits gute Nachrichten für ihn, wobei es dafür, nehme ich an, noch zu früh ist.«

»Manche Frauen scheinen es schon im Moment der Empfängnis zu wissen.«

»Wenn ein König dabei im Spiel ist, wollen Sie das Risiko nicht eingehen, einen Fehler zu machen.«

Oben am Ende der Treppe bleibt er stehen. »Wie wird sie sein?«

»Still.«

»Das braune Schnürkleid?«

»So gründlich ausgemustert wie der Name des Papstes.«

»Und kommt nie wieder?«

»Wir haben ein Kissen daraus gemacht, fürs Kinderzimmer. Wir erwarten, dass sich Lady Eliza seiner annimmt, sobald die Zähne da sind. Ich muss gestehen, dass es mein Fehler war. Der König hat sie gut mit Trauerkleidung für ihre Mutter versorgt, er hat da nicht gegeizt. Aber ich dachte, Eure Lordschaft würde es nicht mögen, wenn sie Schwarz trüge.«

Zweiunddreißig Yards schwarzer Samt für dreißig Pfund und acht Shilling. Zweiundvierzig Shilling und acht Pence für den neuen Master der Merchant Tailors für Schneiderarbeiten. Vierzehn Yards schwarzer Satin für sechs Pfund und sechs Shilling. Dreizehn Yards schwarzer Samt für ein Nachthemd und Taftfutter. Neunzig schwarze Eichhörnchenfelle. Dazu Unterkleider, Goller, Schnürleibchen, Ärmel und anderes: einhundertzweiundsiebzig Pfund, sechzehn Shilling und Sixpence alles zusammen, aus dem Säckel des Königs. Jetzt wird sie hellere Töne tragen. Jeden Tag seit seinem Besuch, oder besser, seit der König signalisiert hat, dass er zufrieden mit ihr ist, sind Wagenladungen über die Straßen hinaus aus Bishopsgate gerumpelt. Er hat mit den italienischen Stoffhändlern gesprochen und mit Hans über die Gestaltung eines schönen Smaragds als Anhänger mit Perlen. Katherines Pelze werden durchgesehen und Mary, so der König es für richtig hält, für den kommenden Winter gegeben.

Tyndale, denkt er. Denke an den kommenden Winter.

Mary hebt den Kopf, als er hereinkommt. Sie fängt seinen Blick auf. Die schöne Eliza Carew ist bei ihr, sieht ihn aber nicht an. Eine andere Lady kniet vor Mary und richtet etwas an ihrem Saum. Es ist Margaret Douglas, die rothaarige Nichte des Königs. »Lady Meg ist hier«, sagt Mary, als könnte er sie übersehen. »Der König dachte … da es ein Familienereignis ist …«

Jedes Mal, wenn ich dich sehe, Meg, bist du auf den Knien. Er bietet ihr eine Hand an. Sie ignoriert sie, springt auf, läuft hinüber zum Fenster und blickt hinaus auf den frisch angelegten Rasen. Carews Frau bleibt übrig, um mit Marys Schleppe herumzutun. »Mylady?«, fragt er. »Sie sind so weit?«

Meg trägt die Schleppe. Als sie hinausgehen, Mary steif und unsicher in ihrer neuen purpurnen und schwarzen Robe, hält er Lady Carew mit einer Geste kurz auf: »Ich danke Ihnen.«

»Wofür?«

»Für Ihre Hilfe dabei, sie zu retten.«

»Ich hatte keine Wahl. Es wurde mir gesagt

Frauen, Treppenhäuser, Worte hinter vorgehaltener Hand: Sind auch die Bediensteten des Kaisers gezwungen, so zu arbeiten? Du hältst den Atem an, wenn du siehst, wie Mary sich die Treppe Stufe um Stufe hinabmüht. Die Tochter des englischen Königs und das Kind der schottischen Königin: Solche Momente scheinen wie das Werk eines geschickten Handwerkers, der sie in Wolle weben oder in Blumenteppichen darstellen will. Mary sieht sich um, als wollte sie sich versichern, dass er ihr folgt. Meg schüttelt ihre Schleppe. Sie scheint sie von hinten zu steuern, mit Glucken und Gemurmel, wie eine Frau, die einen Karren fährt. Wenn Mary stehen bleibt, bleibt auch Meg stehen. Was, wenn Mary in Panik gerät? Was, wenn sie im letzten Moment denkt, ich kann das nicht? Obwohl ich, flüstert er Lady Shelton zu, nicht so sehr fürchte, dass sie die Meinung ändert, als dass sie über die eigenen Füße stolpert und vor ihrem Vater auf dem Boden landet.

»Wir haben unser Bestes getan.« Lady Shelton seufzt. »Meiner Meinung nach wäre ein sanfterer Farbton vorteilhafter gewesen, aber sie wollte so königlich wie nur möglich erscheinen. Was ist mit dem schottischen Mädchen? Mag sie Sie nicht?«

»Das kommt vor«, sagt er.

Sie hatten keine Nachricht bekommen, dass es drei königliche Ladies sein würden – Mary, die Königin und Meg Douglas. Sie hatten damit gerechnet, dass die Königin ihre vertrauten Kammerfrauen mitbrächte. Aber die Gesellschaft war noch nicht abgestiegen, als er bereits nach Helen rief, und sie war losgerannt. Kurz darauf war sie wieder da: Habe die roten Flitterkissen, sagte sie, und einen Teppich. Die Geschichte von Aeneas haben wir aufgehängt, wenigstens sagt Rafe das. Er dachte, ich hoffe, Dido steht nicht in Flammen.

Am Fuß der Treppe bleibt Mary abrupt stehen. »Mylord Cromwell?«

Meg lässt einen langen, entrüsteten Seufzer hören: »Madam, der König wartet.«

»Ich habe vergessen, Ihnen für den Apfelschimmel zu danken. Es ist ein sanftmütiges Tier, wie Sie es versprochen haben.« Zu Meg sagt sie: »Lord Cromwell hat mir eine hübsche Stute aus seinem eigenen Stall geschickt. Nichts hat mich mehr gefreut. Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr geritten, und es tut meiner Gesundheit so gut.«

»Sie sieht besser aus«, sagt Lady Shelton. »Sie hat ein wenig Farbe in den Wangen.«

»Ihr Name war Douceur«, sagt Mary. »Das ist ein guter Name, aber ich habe sie umbenannt. Jetzt heißt sie Granatapfel. Der war das Zeichen meiner Mutter.«

Lady Shelton schließt die Augen, als hätte sie Schmerzen. Mary erreicht die Türschwelle. Sie zieht sich die Röcke zurecht. Die Türen fliegen auf. König und Königin reglos im Licht: goldene Sonne und Silbermond. Mary atmet tief und unruhig ein. Und er steht hinter ihr: Denn, was sonst kann er tun?

Abends gibt der König ihm frei, damit er bei seiner Familie sein kann. Sie werden früh zu Bett gehen, und es werden keine politischen Probleme diskutiert oder Papiere unterzeichnet. Helen sagt: »Sie sind erschöpft. Wollen Sie nicht einen Spaziergang die Straße hinunter machen und sich eine Stunde in unser Sommerhaus setzen? Gregory und Richard sind schon da.«

Der Abend kommt taubengrau zur Ruhe. Wenn unsere Enkel, oder die in einem anderen Land, fern von diesen im Glühwürmchenlicht verbleichenden Feldern, einst die Chroniken dieser Regentschaft zusammenstellen, werden sie sich das Treffen zwischen dem König und seiner Tochter vorzustellen versuchen – die Reden, die sie füreinander gehalten haben, die gegenseitigen Aufmerksamkeiten, die Versprechen und Segenswünsche. Was sie nicht gesehen haben, nicht aufschreiben können, war Lady Marys wackliger Knicks und wie das Gesicht des Königs rot anlief, als er durch den Raum lief und sie in den Arm nahm, ihr Schniefen und Wimmern, als sie den weiß-goldenen Stoff seiner Jacke ergreift, sein Keuchen, sein Schluchzen, seine bebenden Koseworte und die heißen Tränen, die ihm aus den Augen quellen. Jane, die Königin, steht mit trockenen Augen verlegen da, bis ihr eine Idee kommt und sie sich einen Edelstein vom Finger zieht. »Hier, trage den.« Marys Wimmern bricht ab. Er muss an Lady Bryan denken, wie sie Lady Bastard den Beißring hinhält.

»Oh!« Mary jongliert mit dem Ring, lässt ihn fast fallen. Es ist ein riesiger Diamant, der das Licht des Nachmittags eisig weiß bündelt. Margaret Douglas nimmt Marys Hand und schiebt ihr den Stein auf einen Finger. »Zu groß!« Sie ist tief unglücklich.

»Der Ring kann geändert werden.« Der König hält ihr die offene Hand hin, und das Prachtstück verschwindet in einer Tasche. »Sie sind sehr großzügig, meine Liebe«, sagt er zu Jane. Er, Cromwell, hat das Glitzern in seinen Augen gesehen, als er den Wert des Steines überschlagen hat.

»Sie sind zu gnädig, Madam«, sagt Mary zur Königin. »Ich wünsche Ihnen nur, was Ihnen angenehm ist. Ich hoffe, dass Sie bald ein Kind bekommen. Ich werde täglich dafür beten. Ich betrachte Sie jetzt als meine eigene Lady Mutter. Als hätte Gott es so bestimmt.«

»Aber«, sagt die Königin. Verstört bedeutet sie ihrem Ehemann, den Kopf zu ihr herunterzubeugen, flüstert ihm dann etwas zu. Er sagt lächelnd: »Die Königin sagt, das wäre selbst für Gott schwer, es so zu bestimmen, da sie nur sieben Jahre älter ist.«

Mary starrt die Königin an. »Sagen Sie ihr, es ist ein Ausdruck meiner Hochachtung, eine hergebrachte Form, jemandem alles Gute zu wünschen. Ihre Gnaden sollte nicht … sie muss nicht …«

»Das versteht sie, nicht wahr, meine Liebe?« Henry lächelt auf Jane hinab. »Sollen wir hineingehen?«

Die Bediensteten warten kniend, dass die königliche Gesellschaft an ihnen vorbeigeht. Helen weht mit einem Silbertablett voller Zitronenhälften herein – als sie sieht, dass sie im falschen Moment kommt, zieht sie sich mit tiefen Knicksen wieder zurück. Der Geruch der Zitronen schneidet durch die Luft. Jane lächelt Helen gedankenverloren zu. Mary scheint Helen nicht zu sehen, stolpert aber auch nicht über sie. Der König wird langsamer, und es wirkt, als wollte er etwas sagen. Dann wendet er sich seiner Frau und seiner Tochter zu, die einander vor der Türschwelle ansehen.

»Ich werde nicht vor Ihnen gehen«, sagt Jane.

»Madam, Sie sind die Königin, Sie müssen.«

Jane streckt die Hand aus, die ohne den Diamanten nackt wirkt. Der Stern in Henrys Tasche wärmt mit seinen Strahlen den Bauch des Königs. »Lassen Sie uns wie Schwestern gehen«, sagt Jane. »Nicht eine nach der anderen.«

Henry glüht vor Wonne. »Ist sie nicht selbst ein Juwel? Ist sie das nicht, Cromwell? Lassen Sie uns Gott bitten, unser Mahl und unsere neue Freundschaft zu segnen, und ich bete darum, dass sie niemals ins Schwanken gerät.«

Aber später, als die Tischgebete gesprochen sind, der König seine Hände in einem Marmorbecken gewaschen hat, als das Essen serviert ist, er Artischocken gegessen und gesagt hat, dass sie seine absolute Lieblingsspeise seien, wird er ruhig und scheint ins Grübeln gekommen. Schließlich platzt es aus ihm heraus: »Sadler, ist das Ihre Frau? Die, die geknickst hat, als wir hereinkamen?« Er gluckst. »Ich glaube, wenn sie als Bettlerin an mein Tor geklopft hätte, hätte ich sie auch geheiratet. Ich sehe, dass es keine solche Barmherzigkeit war. Diese Augen! Diese Lippen!« Er wirft einen Blick auf Jane. »Und sie hat Sadler bereits einen Sohn geschenkt.«

Jane sieht und hört nichts. Sie arbeitet sich stetig weiter durch ihre Forellenpastete, Gurkenscheiben um sich herum wie grüne Halbmonde. Es ist, als erfüllte sie der Geist der gesegneten Katherine. Säße die andere hier, würde sie lachen und verdrossen auf Rache sinnen.

Den Weg hinunter: »Granatapfel?«, fragt Rafe. Er stöhnt. »Ich hätte es wissen müssen, es ging zu gut, um wahr zu sein.«

Erdbeeren und Himbeeren werden gebracht. Wriothesley kommt Arm in Arm mit Richard Riche. Sie setzen sich in die Laube. Krüge mit Weißwein stehen in einem Bottich mit kaltem Wasser auf der Erde. Er denkt, wenn Mary hier wäre, würde sie da hineintreten.

Rafes Kelche sind mit den Bildern der Jünger Christi geschmückt. »Ich hoffe, es ist nicht das letzte Abendmahl«, sagt Rafe. »Hier, Sir. Der hier ist für Sie.«

Er erkennt den heiligen Matthäus, den Steuereintreiber. Er hebt ihn an und entbietet ihnen den Trinkspruch der toskanischen Händler: »Im Namen Gottes und des Profits.«

Das Gewicht des Tages hat sich auf ihn niedergesenkt. Er lauscht dem An- und Abschwellen ihrer Stimmen und erlaubt es seinen Gedanken, dahinzutreiben. Er denkt an die Flügel, die er trägt, die, mit denen er Francis Bryan gegenüber angegeben hat. Ikarus’ Flügel sind geschmolzen, und er stürzte still ins Wasser hinab. Mit einem Flüstern verschwand er darin, und die Federn trieben auf dem Wasser, auf der flachen, öligen See. Warum geben wir Dädalus die Schuld daran, erinnern uns allein an seine Fehler? Er hat die Säge erfunden, das Beil und das Lot. Und er hat das kretische Labyrinth gebaut.

Er kommt wieder zu sich, im Haus schreit ein Baby. Helen springt auf. »Der kleine Thomas. Sein Fenster steht offen. Wegen der Nachtluft!«

Sie blicken auf. Das Gesicht eines Kindermädchens erscheint, die Läden werden zugezogen, das Schreien verstummt. Rafe streckt eine Hand aus. »Schatz, ganz ruhig. Er wird bestens versorgt.«

Sie wollen, dass sie im Garten bei ihnen bleibt, ihre Schönheit ist wie ein Segen. Sie setzt sich wieder, sagt aber: »Meine Brüste schmerzen manchmal noch, wenn er schreit, obwohl er abgestillt ist. Meine Mädchen habe ich selbst gefüttert, meine früheren Kinder. Doch jetzt bin ich eine Lady. Also.«

Sie lächeln: Sie sind Väter, bis auf Gregory. Und er denkt bereits darüber nach, wie er ihn vorteilhaft verheiraten könnte.

Riche hebt den heiligen Lukas. Er weicht nie lange von den aktuellen Geschäften ab. »Auf Ihren Erfolg, Sir.« Er trinkt. »Auch wenn Sie es bis an den kritischen Punkt haben kommen lassen.«

Gregory sagt: »Als mein Vater Ihren Freund Wyatt gehen ließ, hatte der sich auch noch die letzten verbliebenen Haare ausgerissen. Mein Vater zögert mitunter damit, seine Macht zu zeigen.«

»Daran ist nichts Schlechtes«, sagt Riche. »Schließlich hat er sie. Mylord, Christopher Hales ist heute als Master of the Rolls vereidigt worden, und er fragt, ob Sie vorhaben, aus dem Rolls House auszuziehen?«

Er hat nicht vor umzuziehen. Die Chancery Lane liegt günstig zu Whitehall. »Sagen Sie Kit, wir bringen ihn anderswo unter.«

»Sie hätten den König hören sollen«, sagt Rafe, »als er darüber sprach, was er unserem Master zu verdanken hat. Er sagte, Lord Cromwell könnte mir nicht mehr bedeuten, wenn er mit mir verwandt wäre.«

»Doch dann hat er sich daran erinnert, dass ich von niederer Geburt bin«, sagt er lächelnd. »Wäre das nicht so, wäre er gerne mit mir verwandt.« Er sieht in die Runde. Sie warten. Er denkt daran, wie Wyatt gesagt hat, Sie sind kurz davor, sich zu offenbaren. »Gott weiß«, sagt er, »dass ich früher eingegriffen hätte, aber ich musste Mary erst selbst an den Punkt kommen lassen, wo wir sie brauchten. Sie waren dabei, Riche, als der König Fitzwilliam aus dem Ratssaal geworfen hat …«

»Ich denke, das waren Sie, der ihn hinausbefördert hat.«

»Glauben Sie mir, es war besser so.« Es war schwer für mich zurückzugehen, denkt er, mit seiner Amtskette in der Hand. Ich spürte einen Luftzug am Hals, als wollte mir mein Kopf davonfliegen. Ich hätte immer weitergehen können. Wie Jesus über das Wasser. Oder meine Flügel benutzen sollen.

Master Wriothesley berührt seinen Arm. »Sir, Ihre Freunde wollen, dass ich Ihnen sage – sie haben mich dazu ermächtigt, Ihnen zu sagen –, sie hoffen, die Freundschaft, die Sie der Tochter des Königs gegenüber bewiesen haben, gereicht Ihnen nicht zum Nachteil. Eine Weile mag es wohltuend sein, Vater und Tochter miteinander zu versöhnen und das widerspenstige Kind zum Gehorsam …«

»Nennt-Mich, nehmen Sie eine Erdbeere«, sagt Rafe.

»… andererseits jedoch haben wir keinen Grund zu glauben, dass dem wahrer Dank folgen wird. Lassen Sie uns hoffen, dass Sie keinen Grund haben werden, Ihre Güte zu bereuen.«

»Gardiner wird wütend sein«, sagt er. »Er wird denken, ich habe mir einen gemeinen Vorteil erschlichen.«

»Das haben Sie«, sagt Helen. »Mary vermag den Blick nicht von Ihnen zu wenden.«

»Aber nicht so«, sagt er. Sie beobachtet mich, denkt er, wie ein seltenes wildes Tier – was wird es tun, wenn es denn etwas tut? »Ich habe Katherine versprochen, dass ich mich um sie kümmere.«

»Was?« Rafe ist schockiert. »Wann? Wann haben Sie das?«

»Als ich in Kimbolton war. Als Katherine krank war.«

»Und Sie diese Frau …« Gregory bricht ab. »Entschuldigung.«

»In dem Gasthaus. Ja. Aber ich habe ihren Mann nicht vergiftet. Oder ein neues Verbrechen erfunden und ihn dafür aufhängen lassen.«

»Niemand denkt das«, sagt Riche beschwichtigend.

»Bischof Gardiner schon.« Er lacht. »Ich habe die Frau nie wiedergesehen.«

Aber ich erinnere mich an sie, denkt er, wie sie im Morgengrauen auf der Treppe sang. Ich erinnere mich an das Krankenzimmer in der Burg und die eingeschrumpfte Katherine in ihrem Hermelinumhang: im Gesicht die Spuren dessen, was sie hatte durchmachen müssen und was ihr, wie sie wusste, in den kommenden Wochen noch bevorstehen würde. Kein Wunder, dass sie keine Angst vor dem Beil hatte. »Verachtenswert«, hatte Katherine ihn an dem Tag genannt. Er erinnert sich an die junge Frau, die, wie er jetzt weiß, Bess Darrell war, wie sie mit einer Schüssel entschwand. Master Cromwell, hat Katherine ihn gefragt, empfangen Sie die Sakramente noch? In welcher Sprache beichten Sie? Oder vielleicht beichten Sie gar nicht mehr?

Was hat er geantwortet? Er kann sich nicht erinnern. Vielleicht, dass er beichte, wenn ihm etwas leidtue, was kaum einmal der Fall war. Dann wollte er aufbrechen, aber … »Master Sekretär? Einen Augenblick.«

Er dachte, es ist wie immer: In dem Moment, da du aus der Tür gehst, um zu zeigen, dass es dich nicht länger interessiert, gesteht dein Gefangener seine Schuld ein, bietet dir einen Handel an oder rückt mit dem Namen heraus, auf den du gewartet hast. Katherine sagte: »Sie erinnern sich, wie wir uns in Windsor getroffen haben?« Und fügte, ohne zusammenzuzucken, hinzu: »An dem Tag, da mich der König verlassen hat?«

Die Schwäne am Fluss wie betäubt von der Hitze, das Laub der Bäume schlaff, die Hunde im Hof mit ihrer Hundemusik, dann verblich das Gebell in der Ferne, der Tross der edlen Reiter zog über die Wiesen davon, und die Königin kniete im Nachmittagslicht – der König, der zur Jagd ritt, kam nie wieder zurück.

»Ich erinnere mich«, sagte er. »Ihre Tochter war krank. Ich habe sie gehalten. Ich wollte nicht, dass sie ohnmächtig wird und sich den Kopf aufschlägt.«

»Sie denken, ich bin eine schlechte Mutter.«

»Ja.«

»Dennoch glaube ich, Sie sind mein Freund.«

Er sah sie erstaunt an. Unter Schmerzen, die Hände auf die Lehnen ihres Sessels gestützt, stand die Witwe auf. Die Hermeline glitten zu Boden, Nase an Nase, und bildeten zu ihren Füßen ein weiches Gewusel. »Ich sterbe, wie Sie sehen, Cromwell. Wenn ich sie nicht länger beschützen kann, lassen Sie nicht zu, dass Prinzessin Mary ein Leid geschieht. Ich vertraue sie Ihrer Obhut an.«

Sie wartete nicht auf eine Antwort. Sie nickte ihm zu: Gehen Sie jetzt. Er konnte die Ledereinbände ihrer Bücher riechen, den schalen Schweiß in ihrer Wäsche. Er entbot ihr seinen Respekt: Madam. Zehn Minuten später war er unterwegs und ritt hierher, zum Abschluss der Unternehmung, zu dem Ort, an dem Versprechen gehalten werden.

Gregory sagt: »Warum haben Sie das getan?«

»Ich hatte Mitleid mit ihr.« Eine sterbende Frau in einem fremden Land.

Du weißt, was ich bin, denkt er. Mittlerweile solltest du es wissen. Henry Wyatt sagte, kümmere dich um meinen Sohn, sieh nicht zu, wie er sich selbst vernichtet. Ich habe mein Versprechen gehalten, auch wenn ich ihn dazu einsperren musste. In den Tagen des Kardinals haben sie mich den Metzgershund genannt. Ein Metzgershund ist stark und tut, was von ihm erwartet wird. So bin ich, und ich bin ein guter Hund. Sage mir, ich soll etwas bewachen, und ich tue es.

Richard Cromwell sagt: »Sie konnten nicht wissen, Sir, um was Katherine Sie bitten würde.«

Das ist die Sache bei einem Versprechen, denkt er. Es hätte keinen Wert, wenn du bereits wüsstest, was es dich kosten wird, wenn du es machst.

»Nun«, sagt Rafe, »Sie haben das ganz für sich behalten.«

»Seit wann bin ich ein offenes Buch?«

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee war«, sagt Gregory.

»Was, du denkst nicht, dass es eine gute Idee war, den König davon abzuhalten, seine Tochter zu töten?«

Richard Riche sagt: »Sir, sagen Sie mir, ich bin neugierig: Wie weit reicht Ihre Sorge um sie? Sollte sie offen gegen den König rebellieren, was würden Sie dann tun?«

Richard Cromwell sagt: »Mein Onkel ist der Berater des Königs. Er hat einen Eid auf ihn geleistet. Das Versprechen, das er Katherine gegeben hat, war, ich will nicht sagen, ein leichthin gegebenes Wort, aber doch kein feierlicher Eid. Es könnte ihn nicht binden, wenn es zu einem Konflikt mit den Interessen des Königs käme.«

Er schweigt. Chapuys hat gesagt, mit den Lebenden kann man verhandeln, mit den Toten dagegen nicht. Er denkt, ich habe mich gebunden: Warum? Warum habe ich den Kopf geneigt?

Riche sagt: »Weiß Mary von diesem … wie sollen wir es nennen … dieser Verpflichtung?«

»Niemand weiß davon, mich selbst und die Prinzessinwitwe Katherine ausgenommen. Ich habe bis heute nicht darüber gesprochen.«

Riche sagt: »Am besten bleibt es so. Wir werden es in den Schatten verbannen.« Er lächelt. Vielleicht ist nichts ganz klar, was an einem Abend wie diesem in einem Garten gesagt wird. In Arkadien.

Richard Cromwell hebt den Blick. »Versuchen Sie nicht, es zu einem schmutzigen kleinen Geheimnis zu machen. Es war ein Akt der Menschenliebe. Nichts sonst.«

»Aber hier kommt Christophe«, sagt Rafe. »Et in Arcadia ego.«

Christophes Masse verdunkelt die letzten Sonnenstrahlen. »Chapuys ist hier. Ich habe ihm gesagt, er soll warten, bis Mylord sagt, dass er seine Gesellschaft wünscht.«

»Ich hoffe, du hast es höflicher formuliert«, sagt Rafe und steht auf.

»Ich hole ihn«, sagt Gregory.

Sein Sohn hat gesehen, dass Rafe nicht in der richtigen Verfassung ist. Rafe nimmt den Hut ab und streicht sich das Haar glatt.

»Jetzt siehst du ordentlicher aus«, sagt er zu ihm, »aber nicht glücklicher.«

Rafe sagt: »Wirklich, Mary hat mich erschreckt, als ich mit den Papieren bei ihr in Hunsdon war. Die Treppe kam sie heruntergerannt, ich hatte noch nie eine Edeldame barfuß gesehen, ohne dass wenigstens ein Feuer ausgebrochen wäre. Als sie mir den Brief aus der Hand schnappte, dachte ich, sie wolle ihn zerreißen. Kreischend lief sie damit davon, als wäre es die Karte für einen verborgenen Schatz.«

»Der Schatz«, sagt er, »ist ihr Leben.«

»Ich könnte für den Wert der Lady nicht bürgen«, sagt Riche. »Ich fürchte, sie könnte eine gefälschte Münze sein.«

Helen blickt auf. »Psst. Unser Besucher.«

Gregory sagt: »Er versteht kein Englisch.«

»Nein?«, fragt Helen.

Sie sehen zu, wie der Botschafter über den Rasen kommt, in seinem Schwarz und Gold wie ein Glühwürmchen flackernd. »Ich bin auf gut Glück gekommen«, sagt er. »Master Sadler, wie ich mich freue, Sie im Kreis Ihrer Familie zu sehen. Wie schön Ihr Garten blüht! Sie sollten Wein pflanzen und an einem Spalier hochwachsen lassen, wie dem von Cremuel in Canonbury.« Er nimmt Helens Hand. »Madame, Sie sprechen kein Französisch und ich kein Englisch. Doch auch wenn ich Ihre Sprache spräche, bräuchte es keine Worte, solch eine schöne Blume genügt es anzusehen.« Er dreht sich auf dem Absatz. »So, Cremuel, wir haben den dies irae überlebt, und all Ihre Jungen sind hier. Ich denke, wir können uns gratulieren. Echos haben mich erreicht. Ich höre, der König hat seiner Tochter tausend Kronen geschenkt, gar nicht zu reden von einem Diamanten, der noch mal so viel wert ist, und dass er ihr große Garantien für ihre Zukunft gegeben hat. Ich sage Ihnen, Gentlemen, wenn Cremuel Lady Mary befrieden kann, rechne ich damit, ihn bald schon in die Hölle hinabsteigen und Satan heraufholen zu sehen, damit er Gabriel die Hand schüttelt. Nicht, dass ich die junge Lady mit dem Teufel vergleichen möchte, Sie verstehen. Aber es ist durchaus gerechtfertigt, ihr vorzuwerfen, die sturste Frau auf Erden zu sein.«

Ah, denkt er. Sie hat ihm mein billet doux gezeigt. Sie umarmen sich. Er ist darauf bedacht, dem Botschafter nicht die Knochen zu brechen. Chapuys sieht sich lächelnd um. »Meine Freunde, auf dass wir in eine neue Ära der Eintracht eintreten. Niemand möchte eine weitere tote Lady oder einen Krieg. Ihr Fürst kann es sich nicht erlauben, und meiner liebt den Frieden. Ich sage immer, Kriege beginnen die Menschen, doch sie enden bei Gott. Was für ein hübsches Sommerhaus.« Er erzittert. »Vergeben Sie mir. Die Feuchtigkeit. Könnten wir vielleicht hineingehen?«

»Wir haben ein schlechtes Klima«, sagt Rafe.

»Gott sei’s geklagt«, sagt der Botschafter. Er folgt Rafe zum Haus. »Wenn Sie erst einmal in Italien waren …«

Helen sammelt die Jünger ein. »Christophe, du kannst die hier nehmen, aber Vorsicht mit dem heiligen Lukas, ich glaube, da ist etwas abgesprungen. Richard Riche muss daran geknabbert haben. Ich werde den Kelch als Vase benutzen.«

»Chapuys hat Sie lüstern angesehen«, erklärt Christophe ihr. »Er sagt, wenn ich Mistress Sadler sehe, brenne ich vor Verlangen. Ich wünschte, ich spräche ihre Sprache. Ich werde mit König Henry um sie kämpfen.«

»Das sagt er nicht!« Helen lacht. »Geh hinein, Christophe.« Sie nimmt seinen, Cromwells, Arm. »Sie haben die Geschichte nicht fertig erzählt, Sir. Von Atalanta. Auf dem Wandteppich.«

Er denkt, ich wünschte, es wäre eine andere Geschichte.

»Sie war eine Jungfrau«, souffliert sie ihm. »Sie lebte in der Wildnis, sagten Sie … dann haben Sie aufgehört.«

»Er wollte einen Mann für sie finden. Aber sie verabscheute die Ehe.«

»Sie forderte ihre Freier zu einem Rennen heraus«, sagt Gregory. »Sie war der schnellste Mensch der Welt.«

»Wenn der Mann sie überholte, würde sie ihn heiraten«, sagt er, »aber wenn sie gewann …«

»Durfte sie ihm den Kopf abschlagen«, sagt Gregory. »Was ihr großen Spaß bereitete. Überall lagen die Köpfe herum, man konnte keinen Schritt gehen, ohne dass einer aus einem Olivenhain rollte und einen ansah. Am Ende heiratete sie einen Mann, der schneller war als sie, doch das gelang ihm nur mithilfe der Liebesgöttin.«

Später, zurück in seinem eigenen Haus, im schwindenden Licht der Galerie. »Siehst du die goldenen Äpfel?« Sanft dreht Gregory Helen in die richtige Richtung und zeigt darauf. »Venus gab sie dem Freier, und als das Rennen begann, warf der sie Atalanta vor die Füße.«

»Das sind Äpfel?« Helen starrt den Wandbehang an. Sie saugt an einem Finger und lacht. »Ich wusste nicht, dass die beiden rennen, ich dachte, sie spielen Bowls. Sieh ihre Hand, ich dachte, sie hätte gerade eine Kugel geworfen.«

Er sieht, wie die Hand durch die Luft fährt. Er versteht ihren Irrtum. »Was ist dann passiert?«, fragt jemand. »Ist sie über die Äpfel gestolpert?« Ihre Stimmen sind ein Murmeln, sie werden leiser. Das Licht schwächelt. Unter der Traufe rascheln Vögel, die dort nisten. Vespern werden gesungen und Komplete, die abendlichen Gebete. Der Tau im Gras ist kalt. Die Läden werden gegen die Ausdünstungen von Teichen und Wasserarmen geschlossen. Atalanta sammelte die goldenen Äpfel ein, sie verriet das Rennen. Man kann nicht sagen, dass sie mit Absicht verloren habe, aber sie wusste um die Folgen, wenn sie sich bückte. »Vielleicht war sie das Rennen leid«, sagt Helen.

»Sie war nicht unempfänglich für den Wert des Geldes«, sagt er. »Et in Arcadia.«

»War sie gerne verheiratet?« Helen taxiert sie, eine Frau mit wildem Haar, die nackten Arme vor sich ausgestreckt. »Ich nehme an, ihr Mann hat ihr verboten, so herumzulaufen, mit zur Schau gestellten Möpsen. Aber vielleicht hat das den Männern zu der Zeit auch nichts gemacht.«

Er denkt, ich habe sie in Rom in Marmor gemeißelt gesehen: ihre schlanken Beine in Bewegung, die gefältelte Tunika, der Körper gerade wie der eines Jungen. Sie bekam Lust, wie in einigen Versionen der Geschichte behauptet wird, auf das fleischliche Leben. Sie bettete ihren Bräutigam in den Tempel eines heidnischen Gottes, wonach sie sich in eine Löwin verwandelte.

Wenigstens ist das eine Sorge, denkt er, die ich nicht habe. Die Verwandlung in ein wildes Tier – das wird Henrys Kind nicht passieren. Eines Tages wird sie heiraten müssen, aber fürs Erste ist sie vor Abenteurern sicher, die spezielle Absprachen mit der Liebesgöttin gemacht haben. Morgen früh geht es zurück nach Hertfordshire. Der König und die Königin planen ihren ersten gemeinsamen Sommer. Sie werden Dover einen Besuch abstatten. Wenn das Parlament auseinandergeht, gehen sie jagen. Der Ring, der so impulsiv verschenkt wurde, wird enger gemacht, damit er passt. Zum Ausgleich wird der Smaragdanhänger nicht von Mary getragen werden, dem Spross und der Blume Aragóns und Kastiliens, sondern von Jane, der Tochter von John Seymour von Wolf Hall.

Hast du vielleicht in Italien das Gemälde eines Hauses gesehen, dem eine Wand fehlt? Der Maler lässt dich tief in einen Raum hineinsehen, in dem eine Jungfrau auf einem Betpult kniet, umgeben von Schüsseln mit reifendem Obst. Ihr Ausdruck ist verschlossen und reserviert. Sie hat sich die Schuhe von den Füßen getreten und wartet darauf, mit Gnade erfüllt zu werden. Du kannst bereits den Engel über den Dächern schweben sehen, einen verschwommenen goldenen Nebel, während die Menschen unten auf der Straße ihren Geschäften nachgehen. Einige von ihnen blicken nach oben, wie von einer Bewegung in der Luft über ihnen dazu angeregt. In der nächsten Straße, hinter einem Torbogen, eine Treppe hinab, hängt eine Hausfrau Wäsche an eine Leine, und jemand ersteht von den Toten auf. Weiße Pelikane sitzen auf den Dächern und warten darauf, dass Gottes Kommen verkündet wird. Ein Bischof mit Mitra wandert über die Piazza, ein Pfau hockt zwischen Topfblumen auf einem Balkon, geschliffene Wolken wie Seidenballen ziehen über die Stadt: diese Stadt, die dem Betrachter zusätzlich in einer Miniatur auf einer Platte präsentiert wird, ihr Spiegelbild silbrig schimmernd in der metallenen Oberfläche, die Türme und Befestigungen, die Gärten und Glockentürme.

Dann stell dir England vor, seine Hauptstadt, in der Schwäne zwischen den Booten auf dem Fluss entlangziehen und deren weise Kinder Samt tragen. Die breite Themse ist eine dahinschleichende Straße, auf der die königliche Barke von Palast zu Palast fährt und den König und seine Braut mit sich trägt. Schieb den Vorhang zur Seite, der sie vor den zudringlichen Blicken schützt, und sieh die Füße der Braut in ihren Brokatpantoffeln, sittsam nebeneinander, sieh in ihr vorgebeugtes Gesicht, während sie einem Vers lauscht, den der König ihr ins Ohr flüstert: »Ach, Madam, dass ich den Kuss gestohlen …« Sieh, wie seine große Hand auf sie kriecht, die Fingerspitzen auf ihrem Bauch verharren, fragend. Seine Hände stehen in Flammen, Rubine an jedem Finger. In den Steinen flackert Licht, Wolken ziehen vorüber, weiß und dunkel. Der Stein dort erfreut das Herz und schützt vor der Pest. Die spekulierenden Ärzte sprechen von seiner hitzigen Natur: Beachte die hitzige Natur des Königs. Der Smaragd ist ein Stein von großer Kraft, aber während des Geschlechtsakts getragen, kann er zerspringen. Er ist von einem Grün, mit dem sich kein irdisches Grün vergleichen kann, es ist ein arabischer Stein, der in den Nestern von Greifen zu finden ist. Seine Tiefen erfrischen den müden Geist, und wenn du ihn lange betrachtest, schärft sich dein Auge. Also siehe … sieh eine dir geöffnete Straße, ein Haus mit aufgeklappten Mauern, in welchem der Berater des Königs sitzt, tief in Gedanken, am Finger einen Türkis, in der Hand einen Federkiel.

Im Mittsommer sind die Mauern des Towers mit Fahnen und Wimpeln in den Farben von Sonne und See überzogen. Im Strom werden vorgetäuschte Gefechte inszeniert, und der Donner des festlichen Kanonenfeuers lässt die dahinschleichenden Kanäle des Mündungsgebiets erzittern und verstört die Fische in der Tiefe. In allerlei verschiedenen Zeremonien wird den Londonern Königin Jane vorgeführt. Sie reitet mit Henry zur Mercer’s Hall, um die Stadtuhr zu stellen. Eine Parade von zweitausend Mann, begleitet von Fackelträgern, zieht von St. Paul’s die West Cheap hinunter nach Aldgate und über die Fenchurch Street zurück nach Cornhill. Die Konstabler der Stadt tragen scharlachrote Umhänge und goldene Ketten, es gibt eine Waffenschau, und der Lord Mayor und der Sheriff reiten in ihrer Rüstung mit purpurnem Surcot durch die Straßen. Überall sind Tänzer, Morris-Männer und Riesen, Wein und Kuchen und Ale und Leuchtfeuer, wenn das Licht verblasst. »London, du bist die Blume aller Städte.«