Kapitel 14

Granville, Normandie

Nicolas’ Handy klingelte in dem Augenblick, in dem er den kleinen Durchgang erreichte, der von der Rue Saint-Jean aus zwischen zwei Häuserzeilen in Richtung der großen Festungsmauer führte. Er zog es aus der Innentasche seiner Jacke und sah sofort, dass er auf diesen Anruf gern verzichtet hätte. Er hatte kurz gehofft, es sei Julie, die endlich ein Lebenszeichen von sich geben würde, das ein Versöhnen, ein Versprechen, sich schnellstmöglich zu sehen, zu Hause, hier, wo auch immer, möglich machen würde.

Aber es war nicht Julie.

Es war Gilles, sein Teamleiter. Er war schlecht gelaunt und hatte allen Grund dazu.

 

Nicolas war an der Place Maréchal Foch, direkt hinter dem Casino, die steilen Stufen der Escalier du Moulin-à-Vent hinaufgestiegen. Rachmaninoff hatte er im stärker werdenden Regen hinter sich herziehen müssen, weil der Hund nun wahrlich nicht den dringenden Wunsch verspürt hatte, zahlreiche Treppenstufen zu bewältigen. Sie waren schließlich beide mit einer atemberaubenden Aussicht auf die Küste des Cotentin belohnt worden, die sich nördlich von Granville bis hinauf nach Flamanville erstreckte. Die Stadt ragte an dieser Stelle wie die Spitze eines Dolches in das kalte Wasser der Bucht des Mont-Saint-Michel hinein, und die Oberstadt gewährte denjenigen, die den Anstieg geschafft hatten, einen Panoramablick in alle Himmelsrichtungen. Nicolas war der Rue Lecarpentier gefolgt, hatte das Kopfsteinpflaster der Rue Notre-Dame erreicht und die bunten Wimpel zwischen den grauen Hausfassaden bewundert, die im Wind schaukelten. Er war den Möwen bis zur Rue Cambernon gefolgt, mit ihren kleinen Cafés und dem Buchladen, und hatte sich gefragt, ob es eine Zeit geben würde, in der er gemeinsam mit Julie durch diese Gassen würde streifen können.

Er hatte auf diese Frage keine Antwort gefunden.

Schließlich war die Wolkendecke wieder etwas aufgerissen, ein zarter hellblauer Himmel schob sich über die Stadt und immer wieder konnte man zwischen den Häusern einen Blick auf das Meer erhaschen, auf ein wildes, stürmisches Meer, das von den Gezeiten an die hohen Klippen von Granville geschleudert wurde.

Von einem der Aussichtspunkte hatte Nicolas eine Frau mit einem weißen, im Wind flatternden Kopftuch gesehen, eine mutige Spaziergängerin, die eine steile Treppe hinabstieg, hinunter zum Strand, der bei Flut nicht sehr breit war. Er konnte sie gut verstehen, es war ein wunderschönes Fleckchen Erde dort unten, grade bei diesem Wetter. Schließlich hatte er den kleinen Durchgang erreicht, eine Lücke in der Häuserzeile, dahinter der eigentümlich blaue Himmel, der inmitten dieses kalten Tages wie ein Versprechen wirkte.

Und es war Gilles Jacombe, der diesen Moment mit seinem Anruf ruinierte, während Nicolas oberhalb der Klippen stand und hinabblickte auf die weißen Schaumkronen des Meeres und die Frau mit dem weißen Kopftuch, die sich auf einen Felsen gesetzt hatte, etwas zu nah am Wasser, wie er fand.

Immer wieder fuhr er sich übers Gesicht, die vergangene Nacht hatte er schlaflos verbracht, der Lauf der Dinge hatte ihm auch keine andere Wahl gelassen. Er spürte, wie angreifbar er war, keineswegs stark und unbeugsam im Wind stehend, sondern vielmehr eine leichte Beute für die Unwägbarkeiten dieses Lebens, das er nur zu einem Teil selbst gewählt hatte.

 

»Hier ist Nicolas. Salut, Gilles.«

Nicolas machte Rachmaninoff ein Zeichen, still zu sein.

»Wo bist du?«

Ganz offenbar hatte Gilles nicht die Absicht, ihr Gespräch mit unnötigem Vorgeplänkel einzuleiten. Nicolas hörte die Anspannung in seiner Stimme, die Ungeduld.

»In der Normandie. Granville, genauer gesagt. Ich muss da etwas regeln.«

»Einen Scheiß musst du!«, brach es aus Gilles heraus, viel heftiger, als er es vermutlich vorgehabt hatte. Gilles Jacombe war stets ein zurückhaltender, ruhiger Teamleiter der Einheit gewesen, selbst, nein, gerade in schwierigen Situationen.

»Nicolas, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um irgendwelche Dinge zu regeln. In Paris ist wirklich die Hölle los, der Präsident tobt, unser gesamtes Team ist beurlaubt, das neue ist noch nicht eingearbeitet, keine Ahnung, wie die das machen wollen, und die verdammten Aktivisten werden vermutlich nicht aufhören und …«

»Gilles, wir können es abkürzen: Ihr Name ist Marie.«

 

Nicolas streichelte Rachmaninoffs Hinterkopf, sein Blick wanderte über die steilen Klippen, hinaus aufs Meer. Am Horizont war schemenhaft die Grande-Île von Chausey zu sehen. Kaum mehr als eine Ahnung unterhalb der Wolken, ein dunkler Fleck im Wasser. Nicolas’ Gedanken schweiften ab, fort von Gilles und den Sorgen der Hauptstadt, fort von Marie, vom Anschlag im Konzertsaal, fort von seinem Leben im Dienste der Sicherheit.

Chausey.

Fünf Namen. Zwei Tote.

Immer wieder Chausey.

Sie mussten dorthin, wo alles seinen Anfang genommen hatte.

 

»Ihr Name ist Marie«, wiederholte er schließlich, weil Gilles immer noch schwieg. »Ihren Nachnamen kenne ich nicht.«

Schließlich hatte Gilles sich gefangen, er lachte kurz auf.

»Woher hast du gewusst, dass ich ihretwegen anrufe?«

Nicolas lächelte.

»Bei aller Liebe, aber wo ich derzeit bin, das interessiert bei einem Team, das gerade beurlaubt wurde, niemanden. Es sei denn, man interessiert sich für die Aufnahmen einer Überwachungskamera auf einem stark frequentierten Bahnsteig der Pariser Métro. Dann nämlich ist es ziemlich interessant und sogar entscheidend, wo ich bin, denn auf den Aufnahmen ist eine Frau zu sehen, die kurz zuvor in einem roten Kleid im Théâtre des Champs-Élysées gewesen ist und die an diesem Abend am Anschlag auf den Staatspräsidenten beteiligt war.«

»Du hast die Kamera in der Métrostation gesehen«, schlussfolgerte Gilles.

»Sie ist ja gut zu erkennen. Und ich vermutlich auch.«

Nicolas rief sich die Szene in Erinnerung. Die Métro, die losgefahren war, Marie, die ihn gerettet hatte, sein Aufprall. Die Kamera hatte er sofort bei seiner Ankunft gesehen und gewusst, dass der Zwischenfall nicht unbemerkt bleiben würde. Und doch war da etwas, das ihn stutzig machte.

»Dass du mich anrufst und nicht gleich der Geheimdienst, sagt mir, dass ihr mich nicht erkannt habt. Oder haben sie eine andere Spur?«

Gilles schnaubte.

»Nichts haben sie, Nicolas. Und genau das ist das Problem: Die Aufnahme, auf der du zu sehen bist, gemeinsam mit dieser Marie, ist der einzig verwertbare Hinweis derzeit. Und ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich werde es melden müssen, Nicolas. Ich kann dich nicht decken, du musst mir sagen, was los ist. Du hättest dich nach diesem Zwischenfall melden müssen, verdammt noch mal! Jeder ist hinter diesen Aktivisten her und du machst es einem schwer zu glauben, dass du damit nichts zu tun hast, wenn du dich so verhältst.«

»Das ist Blödsinn, Gilles, und das weißt du.«

»Dann melde dich beim Dienst. Bevor ich es tue. Und sag mir, was du weißt.«

In knappen Worten erzählte Nicolas seinem Teamleiter von Marie, von seiner Jagd über die Dächer von Paris und davon, wie sie ihm in der Métrostation schließlich das Leben gerettet hatte.

»Du kennst sie übrigens« sagte er schließlich. »Sie ist die Frau, die mit mir ins Hafenbecken von Le Havre gefallen ist, du erinnerst dich.«

Gilles stöhnte.

»Das ist es! Ich wusste doch, dass ich sie schon mal gesehen habe. Und jetzt ist sie dir wirklich noch mal entwischt?«

Nicolas biss sich auf die Lippe.

»Also, warum ist der Inlandsgeheimdienst noch nicht hinter mir her?«, fragte er schließlich, während er die langen Strände des Cotentin betrachtete, die wie ein beiger Saum Land und Meer voneinander trennten.

»Das weiß ich nicht. Das Video wurde anonym an den Staatspräsidenten geschickt. Und es ist wie verhext: Sämtliche anderen Aufnahmen sind unbrauchbar oder verschwunden. Angeblich wurden alle Kameras ausgewertet, auf denen ihr zu sehen sein müsstet. Von dir aber gibt es nichts. Es ist genauso seltsam wie der Absender der Aufnahme, die im Élysée-Palast abgegeben wurde: Wir haben keine Ahnung, von wem die stammt, wer uns auf die Spur gesetzt hat. Wer auch immer es war, er macht uns das Leben nicht wirklich einfacher. Aber offenbar will dich jemand schützen, Nicolas, zumindest vorerst. Ich jedenfalls kann nicht mehr lange geheim halten, dass du es bist, der dort in der Métrostation zu sehen ist.«

 

Nicolas wusste sehr wohl, dass Gilles’ Freundschaft nicht so weit gehen durfte. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung, während unter ihm das Meer in Aufruhr war, begleitet von einem Wind, der die Möwen schräg in der Luft hielt.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Nicolas«, sagte Gilles, aber seine Stimme war plötzlich seltsam gedämpft. Als würde sich etwas zwischen sie schieben, eine Empfindung, ein ungutes Gefühl, eine … Bedrohung. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken und verursachten einen Schwindel, der Nicolas zwang, sich an der Brüstung festzuhalten.

»Nicolas, bist du noch dran?«

Ihm war kalt, die Hand, mit der er die Leine hielt, zitterte leicht.

Nicolas fixierte die Wolken, die sich über ihm zu schaumigen Türmen zusammengeschoben hatten.

Sein Herz pochte, er schwitzte. Für einen Moment schien das Meer zu kippen, in seinen Ohren rauschte eine überlaute Brandung.

Als er die Augen wieder öffnete und aufs Meer sah, hinab zu den Wellen und den Felsen, zu der Frau mit dem weißen Kopftuch, die noch immer dort saß und die sich nun umdrehte und zu ihm hinaufsah, verstummte das Rauschen und der Schwindel verging.

»Nicolas? Warum sagst du nichts mehr?«

 

Es war Julie, die dort unten saß, die ihn anblickte, die jetzt nickte, es war ihr weißes Kopftuch, das im Wind flatterte, es war ihr Schatten, der auf den Strand fiel, als sie aufstand, ihm zunickte und aus seinem Blickfeld verschwand.

»Julie!«

Er rieb sich die Augen, sein Blick war noch leicht verschwommen, er musste sich konzentrieren, aber sie war es ganz gewiss gewesen, so unwahrscheinlich es auch sein mochte, er hatte ihre Nähe gespürt, bevor er sie erkannt hatte.

»Nicolas, sprich mit mir.«

Gilles’ Stimme schien weit entfernt. Nicolas schluckte schwer und sah in den Himmel.

»Gilles, vertrau mir. Gib mir einen Tag, irgendwie kriegen wir das hin, ich melde mich.«

Dann rannte er los.

 

Im Commissariat von Granville verteilten Huet und Roussel derweil die Aufgaben für die kommenden Stunden.

»Also, gehen wir es an«, sagte Huet, während Roussel angespannt auf einem Zahnstocher herumkaute und Claire auf einer Fensterbank saß, von wo aus sie abwechselnd nach draußen auf die Straße und hinüber zu Léon schaute, der aufmerksam den Anweisungen lauschte. Ab und zu sah sie auf die Uhr.

»Ihr habt euch alle miteinander bekannt gemacht, ich würde das Ganze also gerne abkürzen«, fuhr Huet fort. »Wir werden gemeinsam an diesem Fall arbeiten, er hat absolute Priorität, ich habe eben noch mal mit der Präfektur in Caen gesprochen. Was immer ihr in den nächsten Tagen vorhattet, Familienausflüge, Besuche bei der Schwiegermutter oder einfach nur nebenan in einer Bar sitzen und Kaffee trinken: Das streicht ihr, dafür ist keine Zeit. Wir werden rund um die Uhr an diesem Fall arbeiten, die Einteilung der Schichten werde ich später übernehmen. Die Leitung dieser Ermittlung liegt bei Luc Roussel, aus seinem Commissariat in Deauville werden eventuell noch zwei Kollegen zu uns stoßen. Roussel, jetzt bist du dran.«

Dieser nickte Huet zu, setzte sich auf eine Tischkante und warf den Kollegen und Claire einen kurzen Blick zu. Man sah ihm an, dass er müde war, dass seine Nächte derzeit zu kurz und seine Gedanken rund um seine Beziehung zu Sandrine schwermütig waren, dachte Claire.

Ex-Beziehung, korrigierte sie sich. Sie hatte erst vor wenigen Tagen mit Sandrine telefoniert. Die Lage war offenbar tatsächlich schwierig.

Roussel bedankte sich für die bislang geleistete Arbeit und zeigte dann auf eine Karte von Chausey, die an einer Wand hing.

»Okay, hier beginnt alles. Zumindest ist das unser bisheriger Kenntnisstand. Vor zwei Tagen geht das Ehepaar Rémy und Audile Marchand am Strand der Grande-Grève auf Chausey spazieren. Sie finden eine Flaschenpost, die direkt am Ufer im Wasser treibt. So hat es jedenfalls die Ehefrau ausgesagt. In der Flaschenpost befindet sich eine Liste mit fünf Namen. Das Papier ist ein handelsübliches, aber durchaus hochwertiges Briefpapier. Die Liste wurde kopiert, nach Ansicht der Kollegen in Caen bietet das keine Anhaltspunkte.«

Roussel nickte Léon zu, der den Faden aufnahm.

»Fünf Namen, wir sind dabei, Hintergrund und Lebensgeschichte von denjenigen zu rekonstruieren, die wir bislang klar identifiziert haben. Also die ersten beiden, die ja bereits tot sind. Und Nicolas Guerlain.«

»Apropos«, unterbrach Huet kurz, »wäre es nicht sinnvoll, wenn er an der Besprechung teilnehmen würde.«

»Wäre es«, sagte Roussel, »aber er ist nicht hier, wie ihr alle sehen könnt.«

»Aha.«

Léon deutete auf die vergrößerte Kopie der Liste, die neben der Karte von Chausey angebracht war.

»Rémy Marchand, 63 Jahre alt, geboren in Rennes. Bis vor einem halben Jahr war er der Chef der hiesigen Fährgesellschaft, die von Granville aus die englischen Kanalinseln anfährt. Und eben auch Chausey, dreimal am Tag.«

»Wer ist sein Nachfolger?«, fragte Roussel.

»Sein jahrelanger Stellvertreter. Wir haben ihn auf einem Kongress in Dänemark erreicht, wo er seit vier Tagen ist. Odense, genauer gesagt. Es geht dort um europäische Subventionen für den Mittelstand. Mir liegen sowohl seine Hotelbuchung als auch seine Flugreservierungen vor.«

Claire pfiff anerkennend. Ganz offensichtlich hatte Huet sich den richtigen Mann aus Caen geholt, Léon schien nicht nur ein hübscher Kerl zu sein, sondern auch ein extrem schneller und kluger Ermittler. So hatte sie ihn aus ihrer kurzen Zeit in Caen gar nicht in Erinnerung gehabt.

»Rémy Marchand hat in den letzten Jahren die Vergrößerung der Flotte von Granville vorangetrieben. Er wollte größere Schiffe einsetzen, auch nach Chausey, um damit mehr Touristen auf die Insel zu bringen. Die Bewohner wehren sich seit Jahren dagegen, sie befürchten, dass ihre Insel dann komplett überrannt wird, vor allem im Sommer.«

»Zu Recht fürchten sie das«, murmelte Huet. »Das ist Wahnsinn, Chausey ist eine Perle, die man gut behandeln muss.«

»Wie viele Einwohner hat Chausey eigentlich?«, fragte Claire in die Runde.

»Etwa ein Dutzend wohnt ganzjährig auf der Insel«, antwortete Huet. »Die meisten sind Fischer, aber es gibt auch einen Leuchtturmwärter, die Hotelbesitzer und Louise Bertrand, die den kleinen Laden betreibt.«

»Und die Morignac in seiner Villa angerufen hat«, sagte Roussel. »Ich habe noch mal mit den Angestellten dort telefoniert. Ganz offensichtlich hat sie in den vergangenen Monaten immer wieder dort angerufen, sie soll Morignac mehrfach beschimpft haben.«

»Kein Wunder«, sagte Huet. »Er war der Investor, hat mit Marchand alles geregelt und die Finanzierung gestemmt. Er war die Schlüsselfigur und hat die Expansionspläne erst möglich gemacht. Sie war eine erbitterte Gegnerin. Aber sein Tod bringt ihr nichts mehr, die Verträge sind längst unterschrieben.«

»Ist diese Louise Bertrand auf der Insel?«, fragte Roussel und einer der beiden anderen Beamten nickte.

»Ja, wir haben das überprüft, sie ist dort.«

»Gut.«

 

Léon zeigte auf Morignacs Namen an der Wand.

»Wo wir gerade bei ihm sind: 53 Jahre alt, reicher Geschäftsmann, der in der ganzen Normandie in Immobilien investiert, aber auch an mehreren Gesellschaften beteiligt ist. Für die Investition in die Vergrößerung der Flotte hat er im Gegenzug Anteile der Fährgesellschaft erworben.«

Roussel notierte sich etwas.

»Wer wusste von Morignacs Rolle hier in Granville?«

»Alle«, antwortete Huet. »Es wurde ganz offen kommuniziert, das muss man der Fährgesellschaft lassen. Sie haben alles transparent gemacht.«

Für einen Moment schwiegen alle und Claire schaute erneut auf die Uhr.

»Würde jemand gleich zwei Morde begehen, um eine Vergrößerung der Flotte zu verhindern?«, fragte sie schließlich.

Huet sah sie an.

»Die Frage musst du anders stellen: Würde jemand gleich zwei Morde begehen, um die seiner Meinung nach gefährdete Zukunft von Chausey zu retten?«

Claire lächelte.

»Seiner Meinung – oder ihrer Meinung nach?«

Roussel tippte mit dem Finger auf die Karte der Insel.

»Jedenfalls müssen wir schnellstmöglich dorthin. Haben wir einen Hubschrauber?«

Huet schüttelte den Kopf.

»Man kann dort drüben kaum landen, schon gar nicht bei diesem Wetter. Aber die Fähre geht ohnehin in einer Stunde.«

»Dann sollten wir an Bord sein.«

 

»Komm schon, Rachmaninoff!«

Nicolas war durch den Durchgang zurück auf die Rue Saint-Jean geeilt und hatte dabei die Hundeleine losgelassen. Sein Kopf pulsierte, sein Herz pumpte, immer wieder sah er Julie vor sich. Sie war es, sie musste es gewesen sein …

Was machte sie in Granville?

Als sie um eine Ecke bogen, hörte er im letzten Moment das schrille Bremsgeräusch eines Wagens, Reifen schlitterten über den Asphalt. Nicolas reagierte einen Hauch zu spät, sein Körper prallte gegen die Motorhaube, er schlitterte über das Blech und kam auf der anderen Seite hart auf dem Kopfsteinpflaster auf. Rachmaninoff sprang um ihn herum, bellte laut und knurrte schließlich den Fahrer des zitronengelben Citroëns an, der besorgt aus seinem Wagen steigen wollte, es sich nun jedoch angesichts des Hundes anders überlegte.

Nicolas stöhnte, rappelte sich auf und hielt sich die schmerzende Hüfte. An der rechten Seites seines Gesichts lief etwas Blut herunter. Er hielt einen Moment inne und fixierte die Straße, die sich vor ihnen nach unten wand.

»Der Durchgang vom Meer – wo kommt der raus?«

Der Fahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und sah Nicolas und den Hund entgeistert an.

»Mein Gott, ich wollte … äh … Sie meinen die Treppe?«

»Keine Ahnung!«, fauchte Nicolas ihn an. »Da ist ein Durchgang in der Mauer, wohin führt der?«

Der Mann stand immer noch unter Schock.

»Na ja, wie gesagt, zu einer Treppe und die endet dort hinten an der Rue Étoile … Sie bluten, Monsieur, soll ich nicht einen Krankenwagen rufen?«

Nicolas humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht los. Die Straßen waren menschenleer, die grauen Fassaden verschwammen vor seinem Blick, einzelne Haustüren waren bunt angemalt. Nicolas hatte Mühe, seinen Rhythmus beim Laufen zu finden, noch dazu auf der rutschigen und nassen Straße.

»Da ist sie!«, rief er und beschleunigte seinen Schritt, als er sah, wie Julie aus einer engen Gasse kam. Ihr weißes Kopftuch flatterte im Wind. Sie waren zu weit weg, der Wind verschluckte seine Rufe. Julie stieg aufs Rad und bog nach wenigen Metern in eine kleine Straße ein, die in Richtung des Hafens führte.

»Hier lang, Rachmaninoff!«

Nicolas bog scharf rechts in die schmale Rue du Marché aux Cuirs ab, der Schwung drückte ihn an die linke Hauswand, wo er einen Blumenkübel überspringen musste, bevor er sich den Knöchel an einer Bordsteinkante stieß.

»Verdammte Scheiße«, fluchte er und rannte mit zusammengebissenen Zähnen weiter.

Rachmaninoff war jetzt einige Meter vor ihm, er bellte, als in einiger Entfernung Julie auf ihrem Rad in der Rue Notre-Dame zu sehen war.

Ich muss sie erreichen, dachte Nicolas, ich muss einfach …

Das weiße Kopftuch flatterte kurz, als das Rad nach rechts abbog und aus dem Blickfeld verschwand. Nicolas hetzte weiter, er sah seinen Schatten an den Wänden, hörte Rachmaninoffs Hecheln, das Geräusch seiner Pfoten auf dem Asphalt, sie waren zu langsam, alles in ihm brannte, Schweiß rann von seiner Stirn, seine Nase lief, er wischte sich den Rotz mit dem Ärmel ab.

Es war seine zweite Verfolgung innerhalb eines Tages, und diesmal wollte er als Gewinner aus dem Rennen hervorgehen.

 

»Rémy Marchand wurde definitiv mit Rizin ermordet«, erklärte Huet Claire und den Kollegen im Commissariat. »Ich habe vorhin den ersten längeren Bericht der Kollegen aus Caen bekommen: Das Gift wurde in einer tödlichen Dosis einige Stunden zuvor eingenommen.«

»Wie ist das Ganze abgelaufen?«, fragte Claire.

»Rizin entfaltet seine volle Wirkung je nach Dosierung erst nach einer gewissen Zeit. Es schmeckt bitter, aber das lässt sich durchaus übertünchen. Ein paar Tropfen in ein Getränk oder ins Essen können schon reichen. Demjenigen, der es zu sich nimmt, kann auch sofort übel werden, aber das muss nicht so sein. Der Tod tritt meist erst einige Stunden später ein.«

»So wie bei Rémy Marchand auf der Fähre?«

»Ja«, sagte Huet. »Angeblich war ihm schon den ganzen Tag übel. Kurz darauf ist er zusammengebrochen.«

»Wo haben sie gegessen?«, wollte Claire gerade fragen, merkte dann aber, dass die Antwort auf der Hand lag, weil es auf der Insel nur ein Restaurant gab.

»In seinem Magen wurden Reste von Krabbenfleisch und Muscheln gefunden. Genau das hat er nach Angaben seiner Frau im »Hôtel de la Marée« gegessen. Dazu Brot, Weißwein und einen Espresso. Und sie haben Reste von hochprozentigem Alkohol im Magen gefunden, vermutlich Schnaps.«

Einer der Polizisten sah auf einen Notizzettel.

»Laut dem Hotel hatte Rémy Marchand allerdings keinen Digestif.«

»Wo hatte er dann den Schnaps her?«, fragte Roussel.

»Aus dem Laden von Louise Bertrand vielleicht. Sie verkauft dort Schnaps von der Küste in kleinen Flaschen.«

Claire überlegte kurz.

»Das würde aber bedeuten, dass der Täter – oder die Täterin – das alles minutiös geplant haben muss. Das Essen – den Spaziergang – die Flaschenpost – den Tod auf der Fähre.«

Der Beamte sah erneut auf seinen Block.

»Das Ehepaar war jedes Jahr um diese Zeit auf der Insel. Und nach Angaben der Ehefrau sind sie nach dem Essen immer die gleiche Strecke gegangen, einmal zum Elefanten und zurück. Einen Fazit-Spaziergang haben sie das genannt: ein Rückblick auf das vergangene und ein Ausblick auf das kommende Jahr. Schöne Idee, eigentlich …«

»Zum Elefanten?«, unterbrach ihn Claire.

»Du wirst ihn kennenlernen«, sagte Marc Huet. »Eine Felsformation, die tatsächlich aussieht wie ein kleiner Elefant im Meer.«

Roussel warf einen Blick auf die Uhr.

»Wir dürfen die Fähre nicht verpassen. So wie es aussieht, müssen wir dringend mit Louise Bertrand sprechen.«

Er wollte gerade fortfahren, als sein Handy piepte.

»Na wunderbar«, murmelte er und hielt kurz darauf sein Telefon nach oben.

Die anderen sahen ihn verwundert an.

»Das hat mir gerade ein Kollege aus Deauville geschickt, der die Untersuchung in der Villa von Morignac leitet. Sie haben es offenbar im Müll gefunden.«

»Was denn?«, fragte Huet und ging zu Roussel hinüber.

»Eine Flaschenpost«, murmelte Claire und betrachtete die Bilder, die Roussel geschickt bekommen hatte.

»Richtig. Balthasar Morignac, unsere Nummer zwei, hat ebenfalls eine Flaschenpost erhalten«, erklärte Roussel. »Er hat sie aber offenbar einfach in den Müll geworfen.«

»Warte, hier sind noch mehr Bilder«, sagte Claire und nahm Roussel das Handy aus der Hand. »Die Kollegen haben die Flasche geöffnet. Hier … und hier. Es ist genau die gleiche Liste.«

Léon beugte sich über ihre Schulter.

Rémy Marchand

Balthasar Morignac

Adrien Martin

Philippe Duval

Nicolas Guerlain

Im gleichen Augenblick erreichte Nicolas die kleine Rue du Marché à la Chaux, er duckte sich, als eine Möwe auf ihn zuflatterte. Am Ende der Straße konnte er den überwiegend blauen Himmel sehen, der sich noch unbehelligt von dem, was sich von Norden näherte, über der Stadt erstreckte.

»Julie!«

Nicolas schoss zwischen zwei Häusern hindurch auf die Rue Lecarpentier, die oberhalb der Stadt an einer steinernen Mauer entlangführte und nach wenigen Metern in einen kleinen Pfad überging, der sich hinabwand bis auf einen Platz direkt neben dem Hafen.

Sein eigener Schwung schob ihn über das Straßenpflaster, zu spät bemerkte er, dass er vor der kleinen Mauer nicht mehr rechtzeitig würde abbremsen können.

»Scheiße!« Nicolas prallte gegen das plötzlich aufgetauchte Hindernis, er war viel zu schnell unterwegs gewesen, und nun wurde er über die flache Steinmauer geschleudert. Verzweifelt versuchte er, sich an einem Stein, einem Vorsprung festzuhalten. Aber es war zu spät, und das Letzte, was er hörte, war das aufgeregte Bellen eines alten und erschöpften Hundes. Und das Geräusch eines sich entfernenden Fahrrads.

 

Roussel blickte auf die Karte von Chausey, dann wieder auf die Fotos der Opfer an der Wand. Claire wusste, dass es in ihm arbeitete, dass er eine Linie suchte, an der er seine Ermittlungen entlangführen konnte.

»Gut«, sagte er schließlich und sah Claire an. »Es wird Zeit, dass wir nach Chausey kommen. Wie es aussieht, laufen dort alle Fäden zusammen. Wir werden diese Louise aufsuchen und sehen, was wir aus ihr herauskriegen. Marc, du hältst hier die Stellung, ich brauche dich als Verbindungsmann zu den Behörden, außerdem führst du die Recherchen der Kollegen zusammen. Ich möchte, dass ihr die ganze verdammte Normandie nach Nummer drei und vier auf unserer Liste absucht. Ruft jeden Einzelnen an, der infrage kommt, meinetwegen auch in der Bretagne.«

»Gibt es von den Überfahrten der Fähre eigentlich Passagierlisten?«, fragte Claire von ihrem Platz am Fenster, wo der schwache Wintersonnenschein ihren Rücken wärmte.

Marc Huet schüttelte den Kopf.

»Nur diejenigen, die online ein Ticket buchen. Und da haben wir bislang keinen Treffer gelandet. Die meisten kaufen sich ihre Fahrkarte direkt hier im Hafen von Granville.«

»Also gut«, sagte Roussel und sah die anderen an. »Lasst uns die Jagd eröffnen. Wir suchen eine Person, die ganz offenbar damit begonnen hat, einen persönlichen Feldzug gegen fünf Menschen zu führen, von denen zwei bereits tot sind. Die anderen drei wird er nicht kriegen, dafür müssen wir sorgen. Wir werden ihn vorher schnappen, diesen Mistkerl.«

 

Nicolas’ Sturz dauerte nur eine knappe Sekunde, dann rauschte er mit voller Wucht in einen Strauch, der direkt unterhalb der Mauer wuchs. Dahinter begann ein steiler Abhang, den er jetzt kopfüber hinunterschlitterte. Er hing für einen Moment in der Luft, bevor er auf einen frisch behängten Wäscheständer krachte, der auf einer Hinterhofterrasse stand und ihn mit weit geöffneten Armen empfing.

Ein Draht schnitt ihm in die Hand, nasse Wäsche klatschte ihm ins Gesicht, bevor Nicolas erneut hart aufschlug, begleitet von den verwunderten Blicken eines älteren Mannes, der zwei Wäscheklammern im Mund hatte sowie eine lange Unterhose über der Armbeuge. Er sah ihn an, ohne etwas zu sagen, als erwarte er eine Erklärung für den überraschenden Besuch. Nicolas fuhr sich über das Gesicht, sah das Blut, den Dreck, spürte den Schmerz überall.

»Wie komme ich in die Unterstadt?«, fragte er schließlich.

Der Mann zeigte wortlos auf ein rostiges Gartentor.

»Sehr nett«, sagte Nicolas. »Entschuldigen Sie bitte das hier … es … es tut mir leid.«

Weiter oben bellte Rachmaninoff.

 

Die Beamten im Commissariat griffen nach ihren Kaffeetassen und wandten sich wieder ihren Bildschirmen zu. Claire sah erneut auf die Uhr.

»Das müsste reichen«, sagte sie laut.

»Was müsste reichen?«, fragte Léon erstaunt.

»Komm mit.«

Sie zog ihn in einen kleinen Gang, in dem sie vor einer halben Stunde eine Tür entdeckt hatte, hinter der ein altes und unbenutztes Badezimmer lag. In einer Emaillebadewanne, die mit Wasser gefüllt war, schwamm eine leere Flasche.

»Ist das …«, fragte Léon.

»Das ist exakt die gleiche Flasche, die unser Täter ins Meer geworfen hat. Hier, schau.«

Sie hielt ihm eines der Fotos von der Pinnwand hin und holte dann die nasse Flasche aus der Wanne.

»Das ist tatsächlich die gleiche, wo hast du die gefunden?«

»Gibt es in jedem Souvenirladen hier zu kaufen. Schau, es ist die gleiche Gravur und auch der gleiche Korken.«

Léon starrte auf die Flasche, dann wieder auf die Wanne.

Dann verstand er.

Triumphierend zog Claire den Korken mit den Zähnen aus der Flasche und angelte das Papier heraus, das sie vorhin in die Flasche gesteckt hatte.

»Hier«, sagte sie und hielt Léon den Zettel hin.

»Er ist nass«, sagte er schließlich, nachdem er den Zettel ausführlich studiert hatte. »Nicht sehr, eher klamm, aber die Ränder wellen sich schon leicht.«

»Der Korken ist innen auch nass«, sagte Claire und ließ das Wasser wieder aus der Wanne.

»So wie es aussieht, sind diese Flaschen nicht nur überall günstig zu haben, sondern vor allem als Flaschenpost kaum zu gebrauchen. Der Korken schließt nicht gut genug.«

»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Léon verblüfft.

»Sommerurlaub mit den Großeltern«, sagte Claire mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Mein Großvater hat mir mal eine solche Flasche gekauft, sie schwamm leider nicht, sie war zu schwer. Und diese hier wäre früher oder später auch untergegangen und der Zettel somit komplett nass gewesen.«

»Es sei denn«, sagte Léon, »unser Täter hat sie direkt vor Rémy Marchand ins Wasser geworfen. Er muss ihn schon gesehen haben.«

»Exakt. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie das sonst gehen soll, dass ausgerechnet das erste Opfer die Flasche findet. Das wäre doch wirklich ein unglaublicher Zufall gewesen.«

Léon sah nachdenklich die Flasche in seiner Hand an.

»Er wusste, dass sie kommen würden, und er wusste auch wann. Bestimmt kannte er auch ihre Gewohnheiten, wo sie immer gegessen haben und so weiter. Somit hatte er auch die perfekte Gelegenheit, Rémy Marchand zu vergiften.«

Claire nickte.

»Komm, ich spendiere dir noch einen Kaffee, bevor ihr nach Chausey rüberfahrt. Nebenan ist ein kleiner Platz mit einer Bar, die hat auch im Winter offen.«

 

»Julie!«

Nicolas’ Stimme war nur ein Flüstern, ein heiseres Krächzen in der kalten Luft.

Er hatte sie bereits von Weitem gesehen, unten auf dem kleinen Platz, dem er sich nun von oben näherte. Ihr Rad lehnte an einer Platane, zwischen den Bäumen standen Tische aus Paletten, Lampions schaukelten an der Außenfassade einer kleinen Bar. Durch das bodentiefe Fenster sah er sie, ihr Haar, ihr Lächeln, sie zog ihre Jacke aus, legte den Kopf in den Nacken.

Mit unsicherem Schritt trat er aus den Schatten der Bäume, er betrachtete die anderen Besucher der Bar, junge, fröhliche Menschen. Wintermäntel hingen über den Lehnen einiger Sessel, ein altes Lied erklang, jemand warf sich ein Spültuch über die Schulter, ein Bier wurde gezapft, es war ein Lied über den Süden, über einen Ort, der Louisiana ähnelte und ebenso Italien.

»Julie.«

Wieder nur ein Flüstern.

Sein Blick war fest auf den Mann gerichtet, der an Julies Seite stand, den sie mit einem Lächeln begrüßte, das den ganzen Platz zu erleuchten schien.

Nicolas stand jetzt direkt vor der Bar, seine Waffe lag schwer in seiner Hand. Warum er sie überhaupt gezogen hatte, wusste er nicht.

Julie fuhr ihrem Begleiter mit der Hand durch die Haare, er zog sie an sich, seine Hände lagen auf ihrer Taille, strichen über ihren Rücken.

 

Dann küsste sie ihn.

 

»Bleiben Sie stehen! Genau da! Keinen Schritt weiter.«

Julie.

Sein Finger am Abzug.

»Ich sagte, keinen Schritt weiter! Und die Waffe unten lassen!«

Er war blond, ein nordischer Typ.

Ein Mats, ein Simon. Ein Jasper.

»Nicolas!«

Die Stimme drang zu ihm durch, aber sie kam von weit her, jenseits der Brandung, jenseits der Flut und der Schmerzen in seinem Kopf.

»Nicolas, ich bin es. Hörst du mich? Bleib stehen, ich bitte dich.«

»Runter mit der Waffe!«

Die zweite Stimme kannte er nicht.

Dann ein Bellen, eine feuchte Schnauze an seiner Hand. Die Tür der Bar öffnete sich.

Als das junge Paar sich draußen in die Kälte stellte und er ihr eine Zigarette anbot, trafen sich ihre Blicke, aber da war kein Erkennen.

Nur Nicolas’ klopfendes Herz, das hart gegen seinen Brustkorb schlug.

Er drehte den Kopf zur Seite und sah Claire nur wenige Meter neben sich stehen, neben ihr ein junger Polizist, der unauffällig seine Waffe wegsteckte.

Rachmaninoff drängte sich an ihn, in seinem Maul hatte er die Hundeleine.

 

Die junge Frau schaute erst ihn an, dann Claire und den Polizisten.

»Entschuldigung, ist alles in Ordnung, gibt es ein Problem?«, fragte ihr Begleiter und legte einen Arm um sie.

Sie hatte blaue Augen, ihr blondes Haar fiel in weichen Wellen auf ihren Wollpullover.

»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte Claire leise und sah Nicolas an. Er griff nach der Hundeleine und nickte der jungen Frau zu.

»Es gibt kein Problem«, sagte er leise.

Dann drehte er sich um, zog Rachmaninoff zwischen die Platanen und verschwand.

 

»Das war Nicolas«, sagte Claire kurz darauf zu Léon, als sie auf einem Barhocker Platz genommen und sich einen Kaffee bestellt hatten.

Léon sah sie erstaunt an.

»Du meinst … das ist Nicolas Guerlain? Ich meine, der Kerl ist doch angeblich der beste Personenschützer in Paris! Was ist denn in den gefahren, dass er mal eben mit gezogener Waffe hier auftaucht?«

Claire zuckte mit den Schultern.

»Bei ihm geht es nie darum, was in ihn gefahren ist, sondern wer. Aber keine Sorge, normalerweise hat er sich gut im Griff.«

»Na dann«, sagte Léon und hob seine Kaffeetasse, als der Barkeeper sie vor sie gestellt hatte. »Auf Nicolas.«

»Und auf uns«, sagte Claire nach einem kurzen Zögern. Sie lächelte dabei.

Der Klang ihrer zusammenstoßenden Tassen drang durch die Musik und das Gelächter der anderen Gäste bis nach draußen, es war unter den Bäumen zu hören und in den Gassen, die zum Hafenbecken führten, dorthin, wo Nicolas auf einer Bank saß, direkt vor den Fischerbooten und den zum Trocknen ausgelegten Fischernetzen. Im Becken spiegelte sich ein blasser Himmel.

Doch Nicolas sah es nicht, seine Augen waren geschlossen.