Kapitel 23

Granville, Normandie

Zur gleichen Zeit

Das Erste, was Nicolas sah, als er benommen und unter Stöhnen auf einem weichen Sessel zu sich kam, war ein Foto von sich. Vorsichtig tastete er seinen Hinterkopf ab, das Blut an seinen Fingern war warm, der Schmerz hämmerte hinter seiner Stirn. Sein Blick verschwamm, er holte Luft, wischte das Blut, das er an den Fingern hatte, an einer Serviette ab, die ihm jemand reichte.

»Können wir jetzt weitermachen?«

Sein Vater saß ihm gegenüber und musterte ihn.

»Meine Männer stehen direkt hinter dir, also benimm dich jetzt gefälligst.«

»Ich tue mein Bestes«, stöhnte Nicolas und beugte sich nach vorne.

»Gut. Wir haben schon genug Zeit verloren. Ich möchte, dass du dir das ansiehst.«

Nicolas versuchte, den Schmerz zu ignorieren, was ihm nur leidlich gelang, und blickte auf das Foto auf dem kleinen Tisch. Offenbar hatten ihn die Männer seines Vaters auf den Sessel gehievt, nachdem sie ihn niedergeschlagen hatten.

»Das bin ich«, sagte er und hatte dabei den Geschmack von Blut auf der Zunge.

Es war eine Aufnahme aus der Pariser Métro, die zeigte, wie er eine Treppe hinuntereilte. Sein Vater legte ein weiteres Foto daneben.

»Das bin wieder ich.«

Er selbst mit suchendem Blick auf einer Plattform, im Hintergrund eine einfahrende U-Bahn. Ein weiteres Foto, wieder Nicolas, diesmal leicht zur Seite gekippt. Es war der Moment, in dem er beinahe vor die abfahrende Bahn gestürzt wäre.

Sein Vater zeigte auf einen roten Fleck in der Menge und Nicolas begann zu begreifen. In seinem schmerzenden Kopf begann sich die Erkenntnis zu kristallisieren, was sein Vater von ihm wollen könnte.

»Du warst es, der diese ganzen Aufnahmen aus dem Verkehr gezogen hat. Deshalb hat der Inlandsgeheimdienst nichts gefunden.«

Sein Vater lächelte.

»Wir haben deine Spuren beseitigt«, sagte er. »Ich habe dafür gesorgt, dass du nicht sofort verhaftet wirst.«

Nicolas runzelte die Stirn, während sein Vater weitere Aufnahmen auf den Tisch legte, eine nach der anderen.

Ein rotes Kleid.

Eine junge Frau.

Eine Hand, die ihn rettete.

Sie beide, sich umarmend, als zwei Wachleute vorbeilaufen.

»Wer ist diese Frau, Nicolas? Und was will sie?«

 

Wieder schmeckte Nicolas das Blut, er musste sich auf die Zunge gebissen haben, als einer der Männer ihn niedergestreckt hatte. Er griff nach einer weiteren Serviette und starrte seinen Vater hasserfüllt an.

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte er leise.

»Was wissen müssen? Wer ist diese Frau, Nicolas?«, zischte sein Vater.

Jetzt war es Nicolas, der lächelte.

»Ich hätte wissen müssen, dass du die Macht nicht aufgeben kannst, Vater. Dass du nicht hinnehmen kannst, dass sie dich abgesägt haben.«

»Ich habe immer noch genug Macht, mach dir keine Sorgen. Oder wie meinst du, bin ich wohl sonst an diese Aufnahmen gekommen?«

»Ich meine echte Macht. Gesellschaftliche Macht. Einen Schreibtisch in einem Eckbüro im obersten Stockwerk, Zugang zum Staatspräsidenten, zu den Machthabern dieser Republik. Das ist es doch, was du willst. Und du bist bereit, alles dafür zu tun.«

 

Für einen Moment schwieg sein Vater, dann tippte er erneut auf das Bild.

»Ich will einen Namen, Nicolas. Wir müssen diese Gruppe stoppen, bevor sie unserem Land mit sinnlosen Anschlägen weiter schadet, und das im Namen irgendeiner Moral, die keine Rolle spielen darf, bei dem, was getan werden muss. Verstehst du? Es muss aufhören, Nicolas!«

»Und du wirst derjenige sein, der es beendet, nicht wahr? Du wirst ein Comeback feiern, der allmächtige Mann im Hintergrund, hätten wir ihn doch nie gehen lassen, seht, was alles geschieht in diesem Land, wenn er fort ist! Wenn du die Aktivisten stoppst, wenn du sie ihnen auf einem Silbertablett servierst, dann bist du wieder im Spiel, nicht wahr? Das ist es doch, warum wir hier sitzen, Vater! Es geht nicht um mich, es geht nicht um Julie, auf die du deine schmutzigen Hände gelegt hast. Und erzähl mir nichts von einem Undercover-Auftrag, du wolltest sie haben, sie besitzen, weil du geil auf sie …«

»Es reicht!«

 

Die Hand seines Vaters schnellte nach vorn, er wollte Nicolas eine heftige Ohrfeige verpassen, aber sein Sohn war schneller, trotz des Blutes, trotz der Schmerzen. Er packte die Hand seines Vaters, drückte so fest zu, wie er konnte, und ließ schließlich wieder los, ehe einer der Männer im Hintergrund eingreifen konnte.

»Du kannst mich schlagen, Vater. Aber du kannst mich nicht mehr für deine schmutzigen kleinen Spielchen missbrauchen. Damit muss endlich Schluss sein.«

Sein Vater rieb sich die Hand und funkelte ihn an.

»Wer ist diese Frau, Nicolas?«

Nicolas zuckte mit den Schultern.

»Ihr Name ist Marie. Mehr weiß ich nicht. Ich kenne weder ihre Absichten noch ihre Motive. Sie war im Théâtre des Champs-Élysées und sie kam mir verdächtig vor. Aber wie du siehst, ist sie mir entkommen.«

»Das ist Bullshit!«

»Nein, ist es nicht. Finde sie, finde die Aktivisten, stoppe sie, es ist mir egal. Ich habe hier andere Sorgen.«

 

Im Hintergrund hörte Nicolas das zufriedene Schmatzen Rachmaninoffs, der offenbar ein nächtliches Mahl einnahm und gut versorgt war. Sein Vater zog seine Krawatte gerade und sah Nicolas fest in die Augen.

»Okay, dann machen wir es eben anders.«

Alexandre Guerlain holte einen Umschlag aus der Innentasche seines Anzugs und legte ihn vor Nicolas auf den Tisch. Dann schob er die Aufnahmen aus der Métro auf einen Haufen und legte die Fotos neben den Umschlag.

Nicolas hielt die Luft an, als er sah, was dort vor ihm lag. Der Name seines Dienstes stand auf dem braunen Papier und er verstand sofort. Sein Vater erklärte es ihm dennoch, langsam, bestimmt und keine Unterbrechung duldend.

»Wir wissen beide, was für Unterlagen in diesem Umschlag sind: deine wirklichen Prüfungsergebnisse, die belegen, dass du damals nicht bestanden hast. Zusammen übrigens mit einer hübschen Aufnahme einer Überwachungskamera, die zeigt, wie du die Listen ausgetauscht hast. Das alles ist der Beweis für deinen Betrug damals in Oissel.«

Nicolas überlegte fieberhaft, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als den Ausführungen seines Vaters zu lauschen.

»Du hättest niemals Personenschützer werden dürfen, Nicolas. Du bist damals durch den entscheidenden Test gefallen. Und du hast betrogen. Ich weiß das und du weißt das.«

»Das ist Jahre her«, sagte Nicolas. »Das interessiert niemanden mehr.« Aber er merkte am Klang seiner Stimme, wie wenig er von dieser Aussage überzeugt war.

Sein Vater lächelte, sein Mund war kaum mehr als ein schmaler Schlitz.

»Der heutige Staatspräsident wird seit Jahren von einem Betrüger beschützt. Von einem völlig ungeeigneten Personenschützer, der zu Recht abgewiesen worden wäre, weil er durch einen der entscheidenden Tests gefallen ist …«

»Der andere wäre ohnehin nicht genommen worden, er wollte auch gar nicht …«

Sei Vater winkte ab.

»Das ist unerheblich. Du hast seine Ergebnisse als die deinen verkauft, du hast betrogen und er ist in Vergessenheit geraten. Du aber hast eine glänzende Karriere gemacht, du darfst im Élysée-Palast arbeiten, du fliegst um die Welt, bist ein Held geworden. Ein Held, der sehr bald ohne Job und ohne Aufgabe sein wird und der womöglich ins Gefängnis wandert, wenn die Sache mit deiner kleinen Aktivistin rauskommt.«

 

Nicolas saß auf seinem Sessel, sein Kopf hämmerte und er spürte, wie das Adrenalin ihn nach und nach verließ und eine überwältigende Müdigkeit ihn überrollte.

»Dieser Umschlag, zusammen mit den Aufnahmen aus der Métro – du weißt, wie das aussieht«, fuhr sein Vater leise fort.

»Der falsche Bodyguard und die Attentäterin«, flüsterte Nicolas.

»So ist es.«

Sein Vater lehnte sich zurück, sein Blick war stechend.

»Es ist ganz einfach: In 48 Stunden geht der Umschlag zusammen mit den Fotos sowohl an deinen Dienst als auch an alle großen Medienhäuser im Land. Ich gehe davon aus, dass du wenige Stunden später vorläufig festgenommen wirst, zumindest wegen der mutmaßlichen Vertuschung eines Terroranschlags.«

»Es war Farbe, Vater.« Nicolas’ Stimme brach und jegliche Kraft verließ ihn.

»Du warst nie ein Personenschützer der Regierung, Nicolas. Du bist ein kleiner, billiger Bodyguard, der sich durch einen miesen Trick eine große Karriere ergaunert hat. Und jetzt wirst du den Preis dafür bezahlen. Es sei denn …«

»… was?« Nicolas wusste, was nun kommen würde, er fand nur keine Kraft, es selbst auszusprechen.

»… du lieferst mir diese Marie und damit die Aktivistengruppe. Das ist unser Deal. Du hast 48 Stunden. Deine Zukunft gegen diese Frau. Ich denke, das ist nicht zu viel verlangt.«

Nicolas betrachtete seinen Vater, der seinen Männern im Hintergrund ein Zeichen gab.

»Du opferst deinen eigenen Sohn für ein Comeback?«

Alexandre Guerlain stand auf und lächelte auf ihn herab.

»Ach Nicolas, das habe ich doch schon längst. Und ehrlich gesagt, ich mag deinen Hang zum Dramatisieren nicht.«

»Du armseliges Stück Scheiße.«

 

Zwei Männer packten Nicolas unter den Armen, er versuchte sich zu wehren, aber ihr Griff war zu fest. Sie zerrten ihn über die Sessellehne nach hinten, dann durch den Gang und Richtung Tür.

»Ihr Arschlöcher!«, brüllte er und wand sich im Griff der Männer, so lange, bis einer von ihnen ihm mit der Faust ins Gesicht schlug.

»Damit kommst du nicht durch!«

Verschwommen sah Nicolas seinen Vater mitten im Raum stehen, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt. Nachdenklich sah er seinem Sohn hinterher. Nicolas ließ ihn nicht aus den Augen und rief ihm zu: »Wir sind noch nicht fertig!«

Kalter Wind und salzige Luft empfingen ihn, als die Männer ihn nach draußen zerrten, hinaus auf die kleine Promenade, die menschenleer war.

»Ihr feigen Schweine«, schrie er, als die Männer ihn schließlich auf die Beine stellten, oberhalb einer steilen Treppe, die hinab zum Strand führte. Nicolas versuchte, die Hände abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht, er war unbeweglich wie in einem Schraubstock.

Schließlich trat der Mann aus dem Schatten, dessen Haut so dunkel war wie sein Anzug. Er sah ihn gelassen an.

»Monsieur Guerlain, Ihrem Hund ist es gut ergangen. Hier haben Sie ihn zurück.«

»Es ist nicht mein Hund«, sagte Nicolas, aber seine Stimme war nur ein Krächzen.

Der Mann lächelte.

»Sie haben 48 Stunden, Monsieur Guerlain. Bitte achten Sie auf Ihren Kopf.«

»Wieso mein Kopf, ich …«

Ohne Vorwarnung trat ihm einer der Männer von hinten in die Kniekehlen. Nicolas sackte zusammen und als er einen heftigen Schlag auf den Brustkorb bekam, wusste er, was der Mann gemeint hatte.

Als er nach hinten fiel, schlug er die Arme über den Kopf. Sein Körper drehte sich leicht und kam auf der ersten Stufe auf, er rutschte weiter, überschlug sich, fiel die Treppe hinab. Jede einzelne Steinstufe schien sich in seinen Körper zu bohren, mehrmals prallte er hart gegen eine Kante, er überschlug sich abermals, und als er schließlich auf dem feuchten Sandstrand liegen blieb, bekam er es gar nicht mehr mit.

 

Als er das Geräusch abfahrender Autos hörte, kam er kurz zu sich. Dann ein zweites Mal, als die feuchte Zunge eines Hundes über sein Gesicht fuhr. Er hatte Sand im Mund und den Geschmack von Blut auf der Zunge.

Irgendwann nahm er verschwommen die Umrisse der Felsen wahr, hörte das schmatzende Geräusch der Wellen und das Tuckern eines weit entfernten Fischerbootes.

Das warme Fell Rachmaninoffs.

Nach einiger Zeit hörte er Schritte, die näher kamen.

»Julie?«, stöhnte er leise, als er über sich einen Schatten sah. Er hustete, spuckte Blut und Sand und wieder wurde alles dunkel.

Als er zu sich kam, war der Schatten immer noch da, er beugte sich über ihn.

»Julie? Es ist … du musst … du darfst nicht … glauben.«

»Nicolas?«

Die Stimme war meilenweit entfernt, sie durchdrang eine meterdicke Schicht aus Schmerz.

»Julie … bitte … du musst gehen … wir müssen …«

»Nicolas? Kannst du aufstehen? Wir müssen hier weg.«

Sie roch gut. Langsam hob Nicolas eine Hand, fuhr ihr über die Haare, über die Wange, fühlte ihren Hals, ihre Schultern.

»Du bist so schön«, flüsterte er.

»Nicolas, komm, steh auf. Ich bringe dich in Sicherheit. Aber wir müssen uns beeilen.«

 

Schwarz.

Dann der helle Schein einer Taschenlampe in seinen Augen. Wasser auf seiner Haut. Ein Hund, der leise wimmerte.

»Bist du das, Julie?«

»Stütz dich auf mich. So ist es gut, jetzt steh langsam auf.«

Sein Blick blieb verschwommen, er konnte nur Umrisse erkennen. Die Felsen, den Strand, Julie.

»Ich bin es, Nicolas. Marie. Und jetzt lass uns gehen.«