Kapitel 24

Chausey, Normandie

Zur gleichen Zeit

Kann Ihr Kahn nicht ein bisschen schneller fahren?«

»Nicht bei dem Wellengang.«

Roussel verdrehte die Augen und stapfte missmutig aus der Steuerkabine der »Mathilde«, in der ihr Besitzer stand, der sich ihm müde und schlecht gelaunt als Alain vorgestellt hatte und der mit stoischem Blick auf die Wellen schaute. Die Schaumkronen hatten zugenommen, im Mondlicht konnte Roussel die dichten Wolken erkennen, die sich über der Insel zusammenschoben.

»Auch das noch«, fluchte er und versuchte sich mit seinem Rücken gegen den Wind eine Zigarette anzuzünden. Nach einigen vergeblichen Versuchen warf er die Zigarette wütend über Bord, angelte nach seinem Handy und fluchte erneut, als er sah, dass er auf dem Wasser kaum Netz hatte.

Er versuchte Claire zu erreichen, kam aber nicht durch. Als der Fischkutter eine größere Welle unter den Bug nahm, meldete sich zu allem Überfluss sein Magen.

»Das fehlt mir gerade noch«, murmelte er und riss erneut die Tür zur Steuerkabine auf.

»Wie lange haben wir noch?«

Der Fischer blickte unverdrossen nach vorne.

»Halbe Stunde. Die Wellen werden stärker.«

»Ja, merke ich.«

»Westen liegen hinten unter der Bank.«

»Geht schon, danke. Wissen Sie, wo wir hinmüssen? Zum Sémaphore, so heißt das doch, oder?«

Der Fischer nickte und nahm eine weitere Welle unter den Bug. Roussels Kopf stieß gegen das flache Dach der Kajüte, er fluchte und suchte nach besserem Halt. In der Ferne hörte er das Grollen eines herannahenden Gewitters.

»Bei dem Wetter komme ich mit meinem Schiff da nicht hin«, sagte der Fischer und korrigierte das Steuer. »Ich kann in den Sound reinfahren, da ist es etwas geschützter. Den Rest müssen Sie laufen.«

»Wie weit ist das?«

»Keine Ahnung, ich lauf da nie hin.«

»Na, vielen Dank.«

Roussel schloss die Kabinentür und stapfte hinaus an Deck, wo er im Schutz einiger festgezurrter Kisten erneut versuchte, Claire zu erreichen.

»Verdammt, Mädchen, wo steckst du?«, schrie er in den Wind.

 

In ihrem Zimmer im »Hôtel de la Marée« rang Claire mit sich. Sie stand in der Mitte des Raumes und betrachtete sich in einem Spiegel, der neben einer antiken Kommode auf dem Dielenboden stand. Die Besitzer des Hotels hatten ihnen zwei Zimmer zurechtgemacht, ansonsten stand das Hotel zu dieser Jahreszeit leer.

»Warum bist du nur so aufgeregt?«, murmelte sie und wartete darauf, dass der Claire im Spiegel eine Antwort einfiel. Dinge wie »Anstand« und »alles langsam angehen lassen« kamen ihr in den Sinn, sie wälzte sie in ihrem Kopf, schob sie von einer Seite auf die andere.

»Du bist so eine Langweilerin«, sagte sie schließlich, während sie die Narben an der Hüfte betrachtete. »Ausziehen, rübergehen, Spaß haben. Damit hast du doch sonst auch kein Problem.«

Léons Zimmer lag ihrem genau gegenüber und sie überlegte tatsächlich seit zehn Minuten, warum sie nicht einfach da weitermachten, wo sie vorhin aufgehört hatten, im dunklen Hotelflur.

Es liegt an Philippe, dachte Claire und atmete tief durch. Sie spürte einen Stich in der Magengrube, als sie an den jungen Polizisten aus Caen dachte. Er war ein Kollege von Léon gewesen, auch wenn sie in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet hatten.

Sie hatte sich in ihn verliebt, sie hatten ein erstes Date verabredet und er war nicht erschienen.

Weil er zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war.

Aus dem Augenwinkel sah sie das Aufleuchten ihres Handydisplays. Jetzt nicht, dachte sie.

 

Sie holte tief Luft, ging zur Tür und öffnete sie leise. Unnötigerweise schaute sie in beide Richtungen, als könne spontan ein Gast um die Ecke kommen.

»Das Hotel ist leer, du Idiotin.«

Und während sie diesen Satz nicht nur dachte, sondern auch leise aussprach, wurde genau ihr gegenüber, ohne Vorwarnung, die Tür aufgerissen, und Léon stand da. Er hatte seine Zahnbürste in der Hand, etwas Schaum am Mund, aber immerhin noch seine Hose und seine Schuhe an.

Im Gegensatz zu ihr.

»Claire! Zwei! Hörst du! Es sind … er hat … zwei! Es ist mir gerade eingefallen, er … Äh, was machst du, ich … Oh, entschuldige, ich meine …«

Claire stand sprachlos vor ihm, sie wurde rot und versuchte verzweifelt, eine gute Erklärung zu erfinden.

»Äh, ich … also, ich … Ach, scheiße, Léon, du weißt genau, was ich wollte, du Idiot.«

Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte gar kein so großes Problem damit, nackt vor ihm zu stehen.

Léon hingegen brauchte zwei Sekunden länger.

»Zu mir? Du meinst … ach so … ach so! Aber sagtest du nicht vorhin … also …«

»Ja, vorhin. Aber das ist jetzt egal. Du tropfst Zahnpasta auf den Boden. Was meinst du mit zwei? Wovon redest du?«

»Der Vogelmann! Ich habe gerade daran gedacht, was er zu uns gesagt hat: Die stand vorhin vor der Tür! …«

»Er sagte, die Flaschenpost stand vor der Tür, genau das hat er …«

»Ja, das hat er zwar gesagt!«, unterbrach Léon aufgeregt. »Aber dann sagte er wörtlich ›Ich dachte, sie wären ein Geschenk.‹ Ich bin mir ganz sicher!«

»Warte kurz.«

Claire ging zurück in ihr Zimmer, streckte ihrem grinsenden Spiegelbild den Mittelfinger entgegen und zog sich rasch an. Léon kam kurz darauf in ihr Zimmer, hatte sich sein Hemd angezogen und bereits einen Pullover und seine dicke Dienstjacke in der Hand.

»Ich bin mir wirklich ganz sicher!«, sagte er aufgeregt.

»Okay, okay«, sagte sie beschwichtigend. »Was meinst du, hat das zu bedeuten? Es stand definitiv nur eine Flaschenpost auf dem Tisch, woanders habe ich auch keine gesehen.«

Wieder sah sie das Aufleuchten ihres Handydisplays.

»Da war auch nur eine«, sagte Léon. »Aber überleg doch mal: Was könnte noch als Geschenk dort gestanden haben. In einer Flasche.«

»Wein?«, sagte Claire. »Auf Chausey? Nicht gerade eine gute Weingegend. Hier ist eher …«

Sie starrte Léon an.

»Schnaps. Scheiße, da stand eine Flasche, sie war verschlossen. Neben dem Radio.«

Léon nickte.

»Aber er steht überhaupt nicht auf der Liste, was sollte das für einen Sinn ergeben?«

Sie griff nach ihrem Handy, das plötzlich wieder klingelte.

»Das ist Roussel. Was will der denn mitten in der Nacht?«

 

Gebeutelt von weiteren Wellen, die mittlerweile über die Reling des Kutters schwappten, und von seinem Magen, der allmählich zu revoltieren begann, stand Roussel an Deck der »Mathilde« und schrie seine schlechte Laune und seine Sorge um den falschen Ornithologen in den Wind hinaus.

»Claire!! Ihr müsst sofort dorthin! Hörst du mich? Claire!!«

»Was … verstehe nicht … sagst …«

»Claire! Der Vogelmann, ihr müsst da sofort hin! Scheiße, jetzt ist die Verbindung wieder weg!«

Roussel hätte vor Wut fast sein Handy ins Meer geworfen, als plötzlich die Tür der Steuerkabine aufgerissen wurde und Alain, der Fischer, wild gestikulierend etwas in seine Richtung schrie.

»Was sagen Sie?«, rief Roussel durch den zunehmend stürmischen Wind zu ihm hinüber. Er und sein Magen hatten wenig Lust, bei diesem Seegang erneut über das Deck bis zur Kabine zu torkeln.

Der Fischer deutete mit der Hand nach steuerbord, immer wieder nach Nordwesten, dorthin, wo in der Dunkelheit die ersten felsigen Inseln von Chausey zu erkennen waren.

»Was hat er denn?«, murmelte Roussel und versuchte, über den Rand der Kisten, hinter denen er sich verschanzt hatte, etwas zu erkennen.

 

Er sah das Feuer sofort.

Mitten in der Dunkelheit von Chausey konnte er einen leuchtend roten Fleck ausmachen, Flammen schlugen im Westen der Insel aus einem Gebäude, das auf einer kleinen Erhebung stand.

»Was, um Himmels willen …«

Roussel wusste sofort, um welches Gebäude es sich handeln musste, obwohl er noch niemals auf Chausey gewesen war.

»Können wir dahinten an Land gehen?«, schrie er durch den Wind in Richtung des Fischers. Aber der hatte bereits die Tür seines Steuerhauses zugezogen und als Roussel nach vorne schaute, sah er, dass sie bereits dabei waren, in den Sound einzufahren.

»Verfluchte Insel«, murmelte er und zog seine Jacke fester um sich. »Was auch immer du für Geheimnisse birgst, es wird Zeit, sie aufzudecken.«

 

Als Claire und Léon aus dem Hotel nach draußen stürmten, begegneten sie dem alten Bitrac, der von seinem Leuchtturm auf dem Hügel hinuntergeeilt war und aufgeregt gestikulierte.

»Das Sémaphore! Es brennt!«

»Wie kann das sein?«, rief Léon. »Wir waren doch vor einer Stunde noch dort!«

»Keine Ahnung«, keuchte der ehemalige Leuchtturmwärter. »Ich habe es eben erst gesehen, als ich meinen Rundgang auf dem Turm gemacht habe.«

»Wie kommen wir da am schnellsten hin?«, fragte Claire.

Bitrac sah hinunter in den Sound, wo das Wasser mittlerweile gestiegen war, weil die einsetzende Flut es in die Kanäle zwischen den Felsen drückte.

»Kommt mit, mit dem kleinen Motorboot dahinten müsste es gehen, wir können eine Abkürzung nehmen.«

Kurz darauf sprangen Claire und Léon an Bord eines kleinen Außenborders, der neben der Anlegestelle lag. Als Claire einen Fischkutter in den Sound einfahren sah, drehte sie sich zu Bitrac um.

»Bleiben Sie hier, unser Kollege kommt dort drüben. Zeigen Sie ihm den Weg zum Sémaphore!«

Bitrac nickte und deutete zwischen zwei Felsen hindurch.

»Da durch und dann immer links halten. Nah an der Küste bleiben, weiter draußen ist zu starker Seegang.«

»Los geht’s, Claire«, schrie Léon gegen den Wind, ließ den Motor an und kurz darauf pflügte der Außenborder durch die aufspritzende Gischt. Claire versuchte verzweifelt, nicht sofort ins Wasser zu fallen, und suchte nach einer Rettungsweste.

»Kannst du so ein Ding überhaupt steuern?«, schrie sie Léon ins Ohr.

»Klar, da wo ich herkomme war das quasi unser Fahrrad!«, schrie er zurück, während er das Boot geschickt zwischen den beiden Felsen hindurchmanövrierte und kurz darauf nach backbord drehte. Claire spürte, wie das Boot kurz auf dem sandigen Boden aufsetzte, aber nachdem Léon den Motor weiter hochgejagt hatte, schossen sie hinaus aufs Wasser.

Zwischen den Wellenkämmen, die minütlich höher zu werden schienen, sprang das Boot hin und her, bis Léon eine gute Fahrrille gefunden hatte und parallel zum Ufer die Insel in Richtung Westen umrundete.

»Dahinten!«, schrie Claire und Léon gab ihr ein Zeichen, dass er bereits gesehen hatte, wo sie hinmussten. Auf einer kleinen Anhöhe, nicht weit von einem weißen Sandstrand entfernt, stand das Sémaphore, das Haus, in dem Olivier Bechandre erst vor zwei Tagen seinen Dienst als Ornithologe auf Chausey angetreten hatte. Es war ein fast surreales Bild, das sich ihnen mitten in der Nacht bot: Der aufsteigende Rauch vermischte sich mit den tiefhängenden Wolken über der Insel, der Widerschein der Flammen spiegelte sich im Wasser zwischen den Felsen. Für einen Augenblick sah es aus, als verwandelte sich das reetgedeckte Haus in ein Signalfeuer, ein lodernder Hilferuf in der Dunkelheit. Gebannt verfolgte sie den Funkenflug, hörte aus der Entfernung das Knistern von Holz, durch das die Flammen sich trotz des einsetzenden Regens fraßen.

Das Boot pflügte durch die aufgewühlte See, immer wieder wurde Claire von mächtigen Bugwellen durchnässt.

»Halt dich fest, ich fahre direkt auf den Strand!« Sie nahmen eine weitere Welle und Claire wäre beinahe hinterrücks ins Meer gestürzt.

»Festhalten!«, rief Léon, er war mittlerweile genauso durchweicht wie sie. Er drehte den Motor voll auf, Claire duckte sich, als sie einen weiteren Wellenkamm nahmen und auf den Strand zurasten.

In diesem Augenblick sah sie es.

»Oh mein Gott«, murmelte sie.

 

Das Schlauchboot schlitterte über Steine und Muscheln und neigte sich dabei bedenklich zur Seite.

Claire hielt sich an einem der Griffe fest und konnte ihren Blick nicht von der Gestalt lösen, die soeben durch die Tür des Sémaphore ins Freie getaumelt war.

Das Schlauchboot prallte gegen einen Felsen, der Aufschlag war hart, das Boot wurde aufgeschlitzt, sie wurde herauskatapultiert, überschlug sich auf dem feuchten Sand und prallte ihrerseits gegen mehrere scharfkantige Steine.

»Verfluchte Scheiße!«, schrie sie und hielt sich die schmerzende Schulter. Léon hatte mehr Glück gehabt. Er rappelte sich gerade vom Sandboden neben dem umgekippten Schlauchboot auf. Er sah zu ihr hinüber und in seinem Bick lag pures Entsetzen.

 

Claire hörte zuerst das Knistern, dann erst roch sie es.

Verkohlte Kleidung. Verbranntes Fleisch.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war die Stille.

Olivier Bechandre schrie nicht, kein Stöhnen, kein Wimmern kam über seine Lippen. Da war nur seine schlaksige Gestalt, die von Flammen umhüllt war, und seine weit nach oben geworfenen Arme.

»Claire!«

Sie fing an zu zittern. Wie paralysiert sah sie zu, wie diese menschliche Fackel, aus der jedes Leben bereits gewichen war, auf sie zustolperte.

»Claire!!«

Sie konnte sich nicht bewegen, hörte nur ihren eigenen Atem und das Knistern der Flammen.

»Wo ist sein Hut?«, murmelte sie. Dieser absurde Gedanke hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Sie sah nicht, wie nah Olivier ihr schon gekommen war, sie realisierte nicht, dass er genau auf sie zukam, dass er nur noch fünf Meter von ihr entfernt war.

Sie blieb stumm, als Léon sie mit einem gewaltigen Satz von den Beinen riss, kurz bevor der brennende Mensch, der schon kein Mensch mehr war, sie erreichen konnte. Sie spürte die Hitze des Feuers, hörte Léons Aufschrei, als er panisch die Flammen an seinem Ärmel erstickte. Claire landete mit dem Gesicht im Sand, sie lag auf der Seite und betrachtete den Flammenmann, der längst tot war und doch weiterlief.

Einige Meter noch, bevor er schließlich umkippte wie eine achtlos zur Seite geworfene Fackel.

Jemand rief ihren Namen. Léon lief zu dem brennenden Mann, zog seine Jacke aus und versuchte, damit die Flammen zu ersticken. Doch alle Mühe war vergebens.

»Er war schon tot«, murmelte sie. Seltsamerweise war es dieser Gedanke, der sie auf unbestimmte Art tröstete: dass der Mann bereits tot gewesen war und dass er folglich keine Schmerzen gehabt hatte. Es war dieser Gedanke, der sie diesen Moment ertragen ließ.

 

Sie hatten das Schlauchboot umgedreht und gegen einen Felsen gelehnt, sodass es sie vor dem Regen schützte, der jetzt heftiger auf sie niederprasselte. Léon hatte Oliviers Leichnam mit einer Plane bedeckt, die er in einem Schuppen neben dem Sémaphore gefunden hatte, und diese mit Steinen beschwert. Der Wind zerrte daran, hob sie an der Seite leicht an, sodass Claire in der Dunkelheit eine schwarze Hand erahnen konnte. Es schien ihr, als wolle Oliviers Geist davonfliegen, als würde er sich aufbäumen unter diesem seltsamen Leichentuch.

»Bist du okay?«, fragte Roussel, als er eine halbe Stunde später zu ihr unter das Boot schlüpfte.

»Geht schon«, murmelte sie.

Für einen Augenblick schwiegen sie und schauten zu Léon hinüber, der mit dem alten Bitrac im Regen stand und auf das noch immer brennende Haus des Vogelmannes schaute.

»Er ist nett«, sagte Roussel schließlich.

Claire sah Roussel müde an, sein unrasiertes Gesicht schimmerte in der Dunkelheit.

»Ich wollte unbedingt wieder arbeiten«, sagte sie leise. »Ich wollte dabei sein, ermitteln, ich will doch Polizistin werden, und …«

»Das bist du doch schon längst«, sagte er. »Und du wirst all das hier vergessen, es werden bessere Nächte kommen, bessere Tage.«

Claire schüttelte den Kopf. Wenn sie eines wusste, dann das: Das Bild des brennenden Olivier Bechandre, dem seltsamen Vogelschützer von Chausey, würde sie für immer in sich tragen.

»Was hast du da?«, fragte Claire und sah auf eine Plastiktüte, in die er etwas eingewickelt zu haben schien. Langsam rollte er sie auf und kurz darauf kam eine Flasche zum Vorschein.

»Das ist Schnaps«, bemerkte Claire überrascht.

»Nicht nur«, sagte Roussel und drehte den Schraubverschluss auf. Claire roch daran und nahm einen leicht säuerlichen Geruch wahr.

»Ist das …?«

Roussel nickte.

»Vermutlich hat er nach eurem Besuch den Schnaps getrunken, zur Beruhigung. Ich bin kein Toxikologe, aber ich würde sagen, in dieser Flasche ist genug Gift für eine ganze Armee. Sie lag draußen vor der Tür, er muss damit aus dem Häuschen gestolpert sein. Vielleicht ist er in seinem Todeskampf in den Kamin gefallen und hat das Haus damit selbst in Brand gesteckt, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das alles eine verdammte Scheiße ist! Wir müssen so schnell wie möglich die Spurensicherung auf die Insel holen, alles abriegeln, das große Besteck.«

»Ich habe seine Augen gesehen«, sagte Claire leise. »Sie waren so … tot. Obwohl er noch auf mich zugestolpert ist. Da war nichts mehr, verstehst du?«

Roussel nickte langsam.

»Wir werden heute die ganze verdammte Insel auf den Kopf stellen, ich werde Beamte anfordern, wir werden jeden Stein umdrehen. Wir werden diesen kranken Typen, der seine Liste abarbeitet, aus seinem Loch holen.«

Claire starrte erneut die Plane an, unter der der verbrannte Leichnam lag. Dahinter, jenseits der Felsen, war der erste Schimmer eines neuen Tages zu sehen.

»Aber warum der Vogelmann? Er stand nicht auf der Liste, ich verstehe das nicht.«

In wenigen Sätzen erklärte Roussel, dass es sich wohl um eine Verwechslung gehandelt haben müsse und dass Olivier Bechandre sich selbst auf die Insel geschmuggelt hatte, um wenigstens einmal im Leben Vogelschützer sein zu dürfen, auf einer Insel, so wie er es immer gewollt hatte.

»Was für ein armer Mensch«, sagte Claire leise. »Und jetzt ist er tot, nur weil er seinen Traum leben und einmal jemand anders sein wollte.«

Roussel packte die Schnapsflasche wieder in die Tüte und verstaute sie sorgsam in seiner Jackentasche, um sie vor dem Regen zu schützen.

»Immerhin, die richtige Nummer vier auf der Todesliste, der echte Philippe Duval, ist unterwegs zu uns. Der Kollege hat mir vorhin mitgeteilt, dass er in Kürze im Commissariat eintreffen müsste. An den kommt keiner mehr ran.«

 

Der Regen ließ nach, Claire sah zu, wie Léon am Strand stand und telefonierte. Er und Roussel redeten minutenlang mit den Kollegen im Commissariat, aber auch mit der übergeordneten Behörde in Caen. Roussel klingelte jemanden aus dem Bett und erklärte, was sich auf Chausey ereignet hatte. Als nur noch wenige Regentropfen auf das Schlauchboot fielen, kam Claire darunter hervor, streckte sich und warf einen Blick auf das völlig verkohlte Gerippe des Sémaphore. Das Haus stand wie ein schwarzes Skelett auf der kleinen Erhöhung, die angrenzenden Ginsterbüsche waren niedergebrannt, ein dunkler Ring auf dem sandigen Boden bildete die Grenze zwischen Leben und Tod.

Claire zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, drehte sich um und ging zu Léon hinüber, der sein Gespräch beendet hatte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig und sie nickte, als sie nach seiner Hand griff.

»Ja.«

Und doch wusste sie, dass die Bilder dieser Nacht sie verfolgen und sich zu denen gesellen würden, von denen sie gehofft hatte, sie eines Tages vergessen zu können.