Kapitel 1

Chausey, Normandie

Wenige Tage zuvor

Hallo, Dumbo.«

Sie legte ihre Hand auf die graue Haut des Elefanten, fuhr über die Furchen und Falten seines massigen Körpers, streichelte sanft über seinen Rücken. Dann umschloss sie den Kopf des Tieres mit beiden Armen und legte ihre Wange an sein rechtes Ohr.

»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, nicht wahr?«, flüsterte sie. Der Elefant regte sich nicht, stoisch ertrug er die Liebkosungen, seine alten Gliedmaßen dem ewigen Wind ausgesetzt.

»Es war ein gutes Jahr, weißt du?«, sagte die Frau und sah ihm fest in die Augen. »Na ja, kein herausragendes, wir wollen mal nicht übertreiben. Aber ein wirklich gutes, doch, das kann man wohl so sagen, mein lieber kleiner Dumbo.«

Die Frau war etwa Mitte sechzig, sie trug ein leuchtend rotes Kopftuch. Ihre Füße steckten in gelben Gummistiefeln und gegen den Wind und die Kälte am Meer hatte sie sich eine dicke Segeljacke übergezogen.

Sie und der Elefant kannten sich seit vielen Jahren. Genau genommen seit mehr als drei Jahrzehnten, seit sie zum ersten Mal hierhergekommen war, zusammen mit Rémy, der nun etwas weiter unten am Strand stand, genüsslich seine Pfeife stopfte und dabei zufrieden auf das Meer hinausblickte.

Immer wieder fuhren ihre Hände über den Rücken des Tieres, ihre Finger glitten über kleinste Erhebungen, tätschelten die Flanke, sanft berührte sie die Ohren und die dunkle Stelle zwischen den Augen. Sie lehnte sich an das Tier, schloss die Augen und spürte den Wind in ihrem Gesicht, die schwache Wintersonne auf ihrer Haut.

Sie seufzte.

»Den Kindern geht es gut, Dumbo. Jeanne hat ihren zweiten Sohn bekommen, er heißt Max, ein kurzer Name, ich hätte ja einen längeren bevorzugt. Aber er ist ein ganz süßer Fratz. Du wirst ihn bestimmt bald kennenlernen.

Benoît hat eine neue Stelle bekommen, in seiner Firma. Ich weiß immer noch nicht genau, was ein Prokurist macht, aber offenbar verdient er genug, um seiner Familie ein Ferienhaus bei La Rochelle kaufen zu können. Es ist ein schönes Haus, größer als unseres! Dabei ist es nur für die Ferien, ich meine, sie sind kaum da, kannst du dir das vorstellen? Aber ich will mich nicht beschweren, es ist schön dort mit den Kleinen. Wobei, so klein sind sie längst nicht mehr. Seine Älteste, Aurore, hat ihren ersten Freund. Kann man das glauben? Das Leben fliegt nur so dahin. Nur du, Dumbo, du bist immer hier, veränderst dich nicht im Geringsten. Das mag ich so an dir.«

Sie blickte dem Elefanten in die steinernen Augen, fest und entschlossen, so wie jedes Jahr zum Abschluss ihres kleinen Besuchs.

»Wünsch mir ein gutes nächstes Jahr, Dumbo, ja? Ein gesundes, für mich und Rémy. Die Rente bekommt ihm übrigens gut, wer hätte das gedacht?«

»Audile, wollen wir weiter? Der Wind frischt auf!«

Sie lächelte das Tier an und legte ein letztes Mal wehmütig ihren Kopf an seine Stirn.

»Au revoir. Wir sehen uns in einem Jahr. Mach mir keinen Unfug bis dahin. Und ich mache auch keinen. Na ja, vielleicht ein bisschen. Wir wollen ans Nordkap, Rémy und ich, kannst du dir das vorstellen? Im Wohnmobil, die Toissonts, unsere Nachbarn, die haben das gemacht, und es muss wirklich …«

»Audile, mir wird langsam wirklich kalt!«

Sie rollte mit den Augen, lächelte und tätschelte zum Abschied die Wange des Elefanten.

»Also wirklich, oder? Harte Kerle gibt es auch immer weniger. Aber man kann nicht alles haben, nicht wahr, Dumbo? Rémy jammert heute ein bisschen, er hat sich den Magen verdorben. Na ja, das geht auch vorbei. Au revoir, kleiner Elefant.«

 

Vorsichtig löste sie sich von dem Tier, ihre Füße suchten nach sicherem Tritt. Mit einiger Mühe stützte sie sich auf einem der scharfkantigen Felsen auf, ging in die Hocke und rutschte ein Stück auf dem kalten Stein hinab. Als sie kurz hochschaute, sah sie, dass der Himmel noch immer von jenem Blau war, wie es nur im Winter und am Wasser möglich war. Sie lächelte bei dem Gedanken an einen warmen Tee an Bord der Fähre und klopfte sich den Sand von der Hose, als sie die beiden großen Felsen, die die Form eines kleinen Elefanten hatten, hinabgeklettert war.

Als sie schließlich auf dem Strand stand, wo sie ihre Umhängetasche auf einem kleinen Stein abgestellt hatte, sog sie die frische Luft ein und spürte das Salz in ihrer Nase. Sie sah Rémy, der drüben am Wasser stand, ihr zuwinkte und dabei an seiner Pfeife zog.

Ja, es war ein gutes Jahr gewesen, zweifelsohne. Endlich keine Dienstreisen mehr, keine einsamen Abende in ihrem Haus, Abschiede am Morgen, Begrüßungen am übernächsten Abend, Telefonate, Mails, Kurznachrichten. Sie hatten zu viel verpasst, dessen waren sie sich beide bewusst geworden, und nun stand sie hier, so wie immer gegen Ende eines Jahres, und sie freute sich auf alles, was nun kommen würde.

Die Zeit mit ihrem Mann. Das Nordkap. Die Enkelkinder. Den Herbst ihres gemeinsamen Lebens.

»Na gut, Spätherbst«, murmelte sie, griff nach ihrer Tasche und drehte sich ein letztes Mal um.

 

Der Elefant von Chausey war in jedem Reiseführer zu finden. Eine Felsformation, von Wind und Wellen im Laufe der Jahrhunderte geformt, ein uraltes Geschöpf der Gezeiten. Den Rüssel noch oben gestreckt, die Spitze leicht eingerollt, die großen Ohren flach angelegt.

Dumbo, so hatte sie ihn für sich getauft, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren.

Sie liebte diesen Ort, die Grande-Grève, im Nordwesten der Hauptinsel, den Blick hinaus auf das Meer, hinüber zu den vorgelagerten Felsen: La Gentaie, Le Vieux, La Meule. Das Geräusch der Möwen, die über den Austernbänken kreisten, die kleinen Fischerboote, die bei Ebbe in den Buchten lagen.

Sie sah den Rauch aus Rémys Pfeife, seine Mütze, die leicht schief auf seinem Kopf saß, sie lächelte, weil jetzt, hier, in diesem Moment, alles gut war.

»Das wird ein gutes Jahr«, sagte sie leise vor sich hin.

Als sie ein Knacken hinter sich hörte, drehte sie sich überrascht um.

 

La Grande-Grève war der größte Strand der Insel, da er aber etwas abseits der Pfade lag und ein gutes Stück entfernt von den Häusern, dem Hotel und dem Restaurant am südlichen Ende der Hauptinsel, waren sie meist allein, wenn sie ihren Spaziergang machten.

»Unser Fazit-Spaziergang«, so hatte Rémy ihren jährlichen Ausflug nach Chausey mal getauft, und sie fand, dass es eine gute Bezeichnung war.

Wie war das Jahr? Wie wird das neue? Was hat dich gestört? Was wünsche ich mir?

Sie besprachen ihre Gedanken, ihre Sorgen und Pläne. Offen und ehrlich, so gut das eben ging in einer Ehe, die schon so viele Jahre Bestand hatte. Gute Jahre, alles in allem.

Und immer kletterte sie die Felsen hinauf, zu ihrem Elefanten. Aber jetzt knackte es hinter ihr, und Audile hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah hinüber zu Rémy, aber der schaute aufs Wasser hinaus und suchte dort, jenseits des Horizonts, nach den gleichen Antworten wie sie bei ihrem Elefanten.

Plötzlich fiel ein Schatten neben ihr auf den Sand, und ohne Vorwarnung kam ein Mann hinter einem der Felsen hervor, nur wenige Meter von ihr entfernt.

Sie erschrak sich so sehr, dass sie kurz aufschrie und ihre Tasche festhielt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Rémy herumwirbelte und in ihre Richtung blickte.

»Würden Sie bitte einen Schritt zur Seite gehen?«

 

Perplex sah sie den Mann an, der jetzt wenige Meter vor ihr stand und ihr zu ihrer Überraschung den Rücken zuwandte. Er war groß und spindeldürr.

»Bitte, würden Sie einen Schritt zur Seite machen? Es ist ohnehin schon schwer genug, sich alles zu merken. Es wäre wirklich ärgerlich, wenn ich wieder von vorne anfangen müsste.«

Sie war so überrumpelt, dass sie tat, was er verlangte.

»14. Aha. Und hier noch einer. 15. Das macht mit denen dahinten … Moment … 37

Der Mann ging mit langsamen Schritten auf sie zu, allerdings rückwärts und mit nach vorne gebeugtem Kopf. Sein Blick wanderte über den Sand, er murmelte immer wieder Zahlen, während ein schweres Fernglas, das an seinem Hals baumelte, ihn immer weiter nach unten zu ziehen drohte. Auf seinem Kopf saß ein khakifarbener Hut mit breiter Krempe, der seltsamerweise im Nacken verlängert war, als solle er seinen Besitzer möglichst gut gegen die Sonne schützen.

Ein Tropenhut, dachte sie. Der Mann trug tatsächlich einen Tropenhut.

»37 also … 37. Das dachte ich mir, ich muss mir das, wo habe ich nur …«

Sie sah, wie er etwas suchte, in den Taschen seiner viel zu großen Weste, in seiner Hose, und wie er schließlich hinter seinem linken Ohr einen abgekauten Bleistift hervorholte. Als er schließlich, schnaufend und schwer atmend, neben ihr zum Stehen kam, sah sie, dass er Sommersprossen im Gesicht hatte und dass unter seinem seltsamen Hut rote Haare abstanden.

Er war schätzungsweise Mitte dreißig. Er musterte sie kurz.

»37 plus 26

»63«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen, Kopfrechnen war schon immer ihre Stärke gewesen.

Er nickte zufrieden. »Dachte ich mir.« Dann blickte er wieder zu Boden.

»Was machen Sie da?«, fragte sie ihn verdutzt, während sie Rémy ein Zeichen gab, dass alles in Ordnung war.

Doch der Mann machte eine fuchtelnde Handbewegung.

»Pssst! Kein Wort.«

»Was … was meinen Sie?«, fragte sie ihn verwundert und betrachtete mit wachsender Belustigung die seltsame Gestalt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, rückwärtsging und mit ihrem Tropenhut so wenig nach Chausey passte wie … ein Elefant.

Der Mann hob jetzt den Kopf und zeigte nach oben. Sie tat es ihm gleich und sah einen Vogel, der krächzend über ihnen am Himmel kreiste.

»Eine Möwe«, stellte sie fest.

Er seufzte.

»Wenn das eine Möwe wäre, wäre ich nicht hier. Das ist eine Brandseeschwalbe. Sie ist selten und eigentlich nistet sie vermehrt an Steilküsten, aber ich dachte mir gleich, dass ich hier etwas ganz Besonderes vorfinden würde. Diese Insel ist magisch, wussten Sie das? Ein einziger Ort der Magie!«

Sie nickte und lächelte ihn an.

»Das finde ich auch. Entschuldigung, wenn ich die …«

»Brandseeschwalbe.«

»Genau, wenn ich Ihre Brandseeschwalbe für eine Möwe gehalten habe.«

Er sah sie an. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen.

»Ich bin Olivier.«

Sie zögerte kurz, dann gab sie ihm die Hand.

»Audile. Was machen Sie da eigentlich? Ich meine, Sie gehen rückwärts …«

»Strandläufer«, unterbrach er sie.

»Wie bitte?«

»Ich zähle Strandläufer. Das ist mein Job hier. Also seit gestern. Ich bin gestern hier angekommen.«

Langsam begriff sie.

»Sie sind Ornithologe?«

Lächelnd neigte er den Kopf.

»Derzeit bin ich wohl Vogelzähler. Ich wohne dort hinten in dem Haus in den Dünen.« Mit einem dürren Finger zeigte er in Richtung der Hügel.

»Und wie viele haben Sie bereits gezählt?«, fragte sie ihn belustigt.

»64

»Waren es nicht 63

»Richtig«, sagte er sichtlich genervt. »63. Ich folge ihren Spuren im Sand und seltsamerweise sind sie für mich besser zu erkennen, wenn ich rückwärtsgehe.«

»Ich verstehe.«

»Das bezweifle ich.«

»Wie meinen Sie das, ich …«

»Audile, komm mal! Das musst du sehen!«

 

Rémys Ruf drang durch die kalte Luft zu ihnen herüber und als wäre es ein Signal zum Aufbruch gewesen, reichte ihr der Vogelschützer die Hand und verbeugte sich.

»Es hat mich gefreut«, sagte er. »Und danke für das Rechnen. Damit habe ich es nicht so.«

»Dann wird es aber keine einfache Aufgabe«, sagte sie.

 

»Audile!«

 

Der Mann legte den Kopf schief und sah sie ernst an.

»Das ganze Leben ist keine einfache Aufgabe, meine liebe Audile. Gehen Sie zu Ihrem Mann, er ruft Sie.«

Verdutzt sah sie ihm hinterher, als er rückwärtsgehend zwischen den Felsen verschwand.

»Meine liebe Audile … was fällt dir ein, du Grünschnabel?«, murmelte sie und drehte sich schließlich zum Wasser, vor dem ihr Mann stand und aufgeregt winkte.

»Was hast du?«, rief sie, während sie durch den Sand zu ihm stapfte. Sie nahm sich vor, die seltsame Gestalt von eben schnellstmöglich zu vergessen.

»Wer war das?«, fragte Rémy, als sie bei ihm ankam. Er hustete kurz und hielt sich mit gequältem Blick den Bauch.

»Ach, ein komischer Kauz, nicht der Rede wert. Was hast du? Und was macht dein Magen?«

»Der rebelliert, mir ist speiübel, seitdem wir auf die Insel gekommen sind. Aber das geht bestimmt vorbei, ich trinke an Bord einfach noch einen Schnaps, der wird mir helfen. Es müssen die Muscheln im Restaurant gewesen sein.«

Audile sah sich um.

Dies war Rémys Stelle, hier stand er Jahr für Jahr, blickte hinaus aufs Meer, zum Horizont und zu den zerklüfteten Felsen, er sah den Wellen hinterher, er ließ das Wasser auf sich zurollen, lauschte der leichten Brandung und den Geräuschen der Vögel.

Sie wusste, dass er dabei oft an seine Krebserkrankung dachte. Die gekommen und gegangen war, die sie gemeinsam besiegt hatten, vor zehn Jahren.

 

Wie war das Jahr, wie wird es werden?

Wovor haben wir Angst?

Was wünschen wir uns?

Sie nahm seine Hand und küsste ihn.

»Deinen Magen kriegen wir wieder hin, auch wenn du tatsächlich ein wenig blass aussiehst. Hast du schon eine Antwort darauf bekommen, was das nächste Jahr für uns bereithalten wird? Bekomme ich endlich einen feurigen Liebhaber? Und du eine Modelleisenbahn?«

»Werd nicht frech!«, drohte er scherzhaft und zeigte auf eine Stelle im Wasser, keine zehn Meter von ihnen entfernt. Dorthin, wo eine Flasche sachte auf den Wellen tanzte. In ihrem Innern konnte Audile ein Stück Papier sehen.

»Eine Flaschenpost!«, rief sie entzückt und reichte Rémy ihre Tasche. »Die Insel hat uns einen Brief geschrieben. Der Name meines feurigen Liebhabers steht drauf, ich bin mir ganz sicher!«

Vorsichtig schritt sie durch das flache Wasser und freute sich, dass sich die Entscheidung für die Gummistiefel gelohnt hatte.

 

Die Flasche war noch einige Meter entfernt, sie konnte jetzt sehen, dass das Papier zusammengerollt war. Sie spürte eine kindliche Vorfreude auf ihre Entdeckung und überlegte, was dort wohl stehen würde.

Vielleicht die Geburtstagswünsche eines kleinen Jungen. Eine Liebesbotschaft, ins Meer geworfen von einem Teenagerpaar von den Felsen von Granville, wo die jungen Leute abends saßen, hinter sich den Leuchtturm und vor sich die endlose Weite des Meeres.

Und Chausey, vom Festland aus gerade noch am Horizont erkennbar.

Es war eine Weinflasche, wenn auch jegliches Etikett fehlte. Sie griff danach, zog sie aus dem kalten Wasser und war nach einigen entschlossenen Schritten zurück bei ihrem Mann.

»Und?«, fragte er.

»Na, nun warte doch ab, ich kann nicht hellsehen! Komm, wir setzen uns dahinten auf den Felsen.«

 

Der Korken saß tief im Hals der Flasche, und sie hatten einige Mühe, ihn herauszuziehen. Kurzerhand nahm Audile ihn in den Mund und zog ihn mit den Zähnen heraus.

Neugierig blickten sie beide in die Flasche und auf die Papierrolle.

»Was glaubst du, was draufsteht?«, fragte Rémy leise.

»Vielleicht ist es eine Schatzkarte!«, flüsterte sie zurück.

»Ein ausgefüllter Lottoschein mit sechs Richtigen.«

»Eine Nachzahlung vom Finanzamt.«

»Die Telefonnummer von Brigitte Bardot.«

Sie lachte und drehte die Flasche um, schüttelte sie leicht und ließ die kleine Papierrolle herausrutschen.

»Das wird ein gutes neues Jahr, wenn das alte so spannend endet«, sagte sie und küsste ihn.

Und im Nachhinein würde sie denken, dass sie niemals falscher gelegen hatte, als in diesem Moment.

 

»Nun mach es nicht so spannend«, sagte sie, als Rémy langsam das Papier aufrollte.

Sie sah, wie er kurz die Stirn runzelte und seine Augen sich erstaunt weiteten. Wie er das Papier vollständig ausrollte. Und dann sah sie die Angst in seinem Blick.

»Rémy, würdest du mir bitte sagen, was draufsteht? Du weißt, ich kann sehr ungeduldig sein, und …«

»Ich verstehe das nicht«, sagte er leise, hustete kurz und schüttelte den Kopf. »Das ist … das muss …«

»Rémy, würdest du mir jetzt bitte …«

Sie hatte mit einem Mal das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Das kann nicht …«, sagte er und als sie es nicht mehr aushielt, riss sie ihm das Papier aus der Hand.

»Nun, zeig schon, was steht …«

Dann wurde sie still.

 

Rémy war aufgestanden und schaute sich um, drehte sich im Kreis, suchte etwas, während er sich erneut stöhnend den Bauch hielt.

Aber sie waren allein am Strand der Grande-Grève, der Hauptinsel von Chausey, dieser einsamen Inselwelt am äußersten Rande der Normandie.

Nur sie beide und eine Flaschenpost.

»Was soll das bedeuten …«, murmelte Audile und bekam eine Gänsehaut. Der Wind war abgeflaut, die Sonne beschien den Felsen, auf dem sie saßen.

In einer Stunde würden sie die Fähre zurück nehmen, so wie jedes Jahr. Zurück in ihr Leben, mit den Kindern, den Enkelkindern, mit dem Nordkap und dem Ferienhaus bei La Rochelle.

Rémy Marchand.

In dunklen Lettern stand am oberen Rande des Papiers der Name jenes Mannes, der neben ihr am Strand von Chausey saß, so wie er es seit so vielen Jahren tat. Sie griff nach seiner Hand, als fürchtete sie, dass er fortgezogen werden könnte, von einer unheilvollen Kraft, die von dieser Flaschenpost ausging. Von dieser Botschaft, von der sie nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte.

Rémys Hand war kalt, er fror, genau wie sie.

»Da hat sich jemand einen dummen Scherz erlaubt«, murmelte sie und merkte dabei, wie ihre Stimme von der Stille um sie herum fast verschluckt wurde. Dann rollte sie das Papier ganz auf und blickte erstaunt auf vier weitere Namen.

Allesamt Männer, die Namen sagten ihr nichts.

»Kennst du davon jemanden?«, fragte sie und hielt Rémy das Papier hin.

Er nickte kurz und deutete auf den Namen, der direkt unter seinem eigenen stand.

»Er hier, das ist … das ist seltsam. Ein ehemaliger Geschäftspartner, du hast ihn mal bei einem Essen kennengelernt, glaube ich. Mein Gott, mir ist wirklich schlecht.«

Audile sah sich um, stand auf, ging ein paar Schritte den Strand entlang, um eine bessere Sicht zu haben. Sie drehte sich nach allen Seiten, sucht die Büsche, den Pfad, die umliegenden Felsen mit ihrem Blick ab.

Doch sie waren allein. Auch Olivier, der seltsame Vogelkundler, war nicht mehr zu sehen.

»Mir ist kalt, lass uns zur Fähre gehen«, sagte sie schließlich und Rémy nickte ihr zu.

Noch einmal betrachtete sie das Papier in ihrer Hand. Es war gutes Papier, dicker als ein normales Blatt, sie vermutete, dass es teures Briefpapier war. Die fünf Namen waren mit schwarzer Tinte geschrieben, in schwungvollen Lettern.

 

Einige Minuten später war der Strand leer. Zurück blieben nur einige wenige Fußspuren im Sand. Die Fähre nach Granville fuhr in einer knappen Stunde zurück und Chausey würde noch ruhiger werden. Und dann würde die Flut zurückkommen und die letzten Spuren im Sand auslöschen, als hätte es sie nie gegeben.

Nur ein grauer Felsen würde sich absetzen vom blassen Himmel, weil er hoch genug stand, um hier, im Nordwesten der Hauptinsel, nicht in der Flut zu versinken. Eine Gesteinsformation, die sie »Den Elefanten« nannten: die Ohren angelegt, den Rüssel eingerollt, den Blick aufs Meer gerichtet.