Kapitel 28

Chausey und Granville, Normandie

Wenig später

Sie hatte die erste Fähre des Tages genommen, begleitet vom Krächzen der Möwen und dem Tuckern des Schiffsmotors, der eintönig über der rauen See erklang. Claire saß windgeschützt auf einer der Bänke, sie hatte sich in eine zusätzliche Decke gewickelt und warf einen missmutigen Blick auf Chausey, das allmählich kleiner wurde und im Meer zu versinken schien. Der Leuchtturm reckte sich trotzig in den grauen Himmel, die weißen Häuser entlang des Sounds waren längst nicht mehr zu erkennen. Sie hatten die letzten Felsen hinter sich gelassen und Claire hatte dabei zugesehen, wie die Flut sich zurückholte, was ihr gehörte.

Nur etwa zwanzig Felsen würden schließlich übrig bleiben, kleine Inseln, nur die, die hoch genug lagen, um nicht vollständig von den Gezeiten erobert zu werden. Erst, wenn die Ebbe sie alle wieder aus ihrer eisigen Umarmung entlassen würden wären sie wieder vereint. 365 Inseln inmitten des dann flachen Wassers, eine für jeden Tag im Jahr.

Claire fand, dass der heutige Tag eine besonders dunkle Insel verdient hätte, einen Felsen, scharfkantig und bedrohlich. Sie richtete den Blick nach Nordwesten, konnte aber den kleinen Hügel, auf dem das abgebrannte Haus des Vogelschützers stand, nicht mehr erkennen. Wellen schlugen hart gegen das Schiff, sie versuchte, sich auf den Horizont zu konzentrieren.

»Guten Morgen«, sagte eine Frau, die sie bereits auf der gestrigen Hinfahrt an Deck kurz gesehen hatte. »Kann ich Ihnen einen Kaffee rausbringen oder eine Kleinigkeit zu essen?«

Claire schüttelte den Kopf.

»Das ist nett, aber ich brauche nichts.«

Sie wollte wieder ins Schiffsinnere zurückkehren, aber Claire machte ihr ein Zeichen.

»Ja?«, fragte die Frau, sie war einige Jahre älter als Claire.

»Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich«, sagte sie und setzte sich zu Claire auf die Bank. Außer ihr waren nur zwei der Fischer der Insel an Bord.

»Ich habe gehört, es gibt hier Delfine in der Bucht. Stimmt das? Gestern habe ich zumindest keine gesehen.«

Die Frau lächelte, sie hatte ein Spültuch in der Hand und trug eine weiße Schürze. Ihre Haare waren zu einem einfachen Zopf gebunden, der von mehreren grauen Strähnen durchzogen war.

»Ja, die gibt es wirklich«, sagte sie und zeigte hinaus aufs Wasser. »Heute ist es ein bisschen stürmisch, da sind die drei nicht zu sehen.«

»Es sind drei?«

»Ja, sie sind oft hier. Ich liebe Delfine. Manchmal, wenn ich traurig bin und aufs Wasser schaue, sind sie plötzlich da. Dann geht es mir gleich besser.«

Sie streckte Claire die Hand hin.

»Ich bin Adrienne«, sagte sie freundlich und wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht.

»Sie müssen ganz schön seetauglich sein, Adrienne, wenn es hier öfter so stürmisch ist?«

Adrienne zuckte mit den Schultern.

»Manchmal ist es richtig schlimm, dann bleibe ich eben an Land und die Passagiere müssen mal ohne Kaffee und Schnaps auskommen. Aber meistens geht es. Sagen Sie … darf ich Sie auch etwas fragen?«

»Klar.«

»Stimmt es … also, ist es wahr, dass dieser Vogelschützer …, dass er verbrannt ist? Das ist doch schrecklich!«

Claire hob entschuldigend die Hände.

»Das tut mir leid, das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Wir ermitteln noch. Ich gehe davon aus, dass auf der Rücktour nach Chausey einige Beamte von uns an Bord sein werden. Dann werden Sie auf jeden Fall Ihren Kaffee los!«

Adrienne lächelte schüchtern.

»Ich muss rein, die Küche sauber machen. Ich werde versuchen, nicht an den armen Mann zu denken. Einer der Fischer sagte, er sei verbrannt. Na ja, Sie dürfen nichts sagen, das verstehe ich. Aber es ist furchtbar, nicht wahr?«

Claire nickte, und für einen Augenblick sah sie wieder das Bild des brennenden Olivier vor sich.

»Ja, das ist es wirklich«, murmelte sie und warf einen Blick Richtung Chausey, das immer kleiner wurde, kaum mehr als eine Ahnung am Horizont.

 

Nicolas hatte in der Zwischenzeit Rachmaninoff geweckt, ihm etwas zu trinken gegeben und seine Sachen zusammengesucht. Noch immer hatte er Maries Duft in der Nase, auch dann noch, als er die blaue Tür öffnete und hinaus in den kalten Wind trat, der in der Oberstadt von Granville durch die Gassen fegte.

»Komm, alter Freund«, sagte er und zog die Tür hinter sich zu. Sie gingen die Rue Saint-Jean hinab bis zur Place Cambernon, wo Nicolas für sich und den Hund zwei Sandwiches kaufte. In einiger Entfernung konnte er die Fähre sehen, die von Chausey den Hafen anlief, er schätzte, dass sie in einer knappen halben Stunde da sein musste.

»Warte kurz«, befahl er Rachmaninoff und holte sein Handy raus. »Wir kümmern uns jetzt mal um dein Herrchen.«

Nicolas lauschte dem Tuten in der Leitung, dann folgte ein Klicken und schließlich die kontrollierte Stimme seines Vaters.

»Das ging aber schnell. Gerade mal eine halbe Nacht und schon meldest du dich.«

Nicolas atmete tief durch und spürte dabei jede Faser seines Körpers, er hatte das Gefühl, dass er hauptsächlich aus Schmerz bestand.

»Hör zu, Vater, ich habe nicht viel Zeit. Du wirst den Namen bekommen, aber ich brauche vorher eine Information. Und du musst etwas für mich regeln. Das sind meine zwei Bedingungen.«

Er hörte seinen Vater leise und heiser lachen.

»Nicolas, ich glaube nicht, dass du in deiner derzeitigen Situation in der Lage bist, Bedingungen zu stellen. Besorg mir den Namen der Frau, sag mir, wo wir sie finden, und dann werden wir sehen, ob ich etwas für dich …«

»Es geht um Oissel, Vater.«

 

Das leise Tuckern der Fähre drang über die grauen Schieferdächer zu ihm herüber. Mehrere Möwen begleiteten das Schiff, sie hingen im Wind, die Schnäbel nach unten gerichtet.

Sein Vater schwieg.

»Der Mann am Schießstand. Du hast gesehen, wie ich seine Prüfungsergebnisse …«

»Ja, Nicolas. Ich bin der Einzige, der es weiß. Ich stand keine zehn Meter hinter dir, hinter einer dicken Glasscheibe, und du hattest keine Ahnung. Und wenn du jetzt wirklich denkst, ich würde diese Information nicht gegen meinen eigenen Sohn …«

»Dieser andere Mann, Vater. Er hieß Lucas. Was ist aus ihm geworden? Er wollte zur Fremdenlegion.«

 

»Die zahlen einfach besser. Und ich brauche Action.«

 

Nicolas hatte nur noch ein verschwommenes Bild von ihm, von seinem kantigen Gesicht, den schwarzen Locken. Er hatte die Geschehnisse in Oissel tief in seinem Inneren vergraben und sie nie wieder hervorgeholt. Nach und nach waren die Erinnerungen verblichen, wie ein altes Foto, das immer weiter vergilbte, bis die darauf abgebildeten Ereignisse fast unkenntlich geworden waren. Nicolas lehnte sich an eine Laterne an und schloss die Augen.

 

»Er hieß Lucas. Mehr weiß ich nicht.«

»Lucas Corneille«, antwortete sein Vater endlich mit ruhiger Stimme. »Er ist dein Jahrgang, beziehungsweise, er war es. Er ist tatsächlich zur Fremdenlegion gegangen, nach Afrika. Zwei Jahre später ist er gestorben.«

»Bei einem Einsatz?«

»Das weiß ich nicht, es ist auch nicht relevant. Es geht nicht um ihn, es geht um das, was du getan hast. Du dürftest kein Personenschützer sein, zumindest keiner, der für die Regierung arbeitet. Und wenn ich bis morgen Abend nicht den Namen dieser Frau bekomme, dann …«

»Du bekommst ihn«, unterbrach Nicolas seinen Vater. »Aber ich muss wissen, wie dieser Lucas gestorben ist.«

»Warum ist das so wichtig? Hat es etwas mit eurer seltsamen Todesliste zu tun? Die Zeitungen sind mittlerweile voll davon.«

Rachmaninoff zerrte an der Leine, offenbar wollte er weiter.

»Ich stehe auch auf dieser Liste, Vater. Und ich will wissen, warum.«

 

Alexandre Guerlain war als ehemaliger Leiter des Inlandsgeheimdienstes nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Diesmal aber hatte Nicolas den Eindruck, dass sein Vater tatsächlich überrascht war.

»Und du glaubst, dieser Lucas …«

»Ich habe keine Ahnung. Aber mir fällt sonst niemand ein. Und uns rennt die Zeit davon.«

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich werde mich informieren. Ich melde mich gegen Mittag, bis dahin müsste ich etwas herausgefunden haben. Was ist die zweite Sache?«

»Bedingung, Vater, nicht Sache.«

Nicolas lief eilig den kleinen Pfad entlang, der zum Hafen führte und von dort in einem weiten Bogen über den Quai Pléville und die Rue du Port zum Commissariat.

»Wie auch immer du es nennst«, sagte die schneidende Stimme seines Vaters, der hörbar die Geduld verlor. »Ich habe gleich ein Treffen, also würdest du bitte …«

»Im Hôpital Saint-Louis im 11. Arrondissement liegt ein alter Mann, der mit einem schweren Herzinfarkt eingeliefert wurde. Es ist Tito, mein Nachbar, du hast ihn einmal kurz getroffen, als du mit dem Präsidenten im ›Le Vannier‹ warst. Ich will, dass er vom Chefarzt behandelt wird, in einem Einzelzimmer, rund um die Uhr betreut.«

Sein Vater lachte.

»Der Alte in der Strickjacke? Mein Gott, Nicolas, du hängst zu sehr an den Menschen, so wirst du es niemals zu etwas bringen.«

»Vater, das war keine Bitte.«

»In Ordnung, Nicolas, ich kümmere mich darum.«

»Wir sprechen uns heute Mittag.«

Nicolas legte auf, bevor Alexandre Guerlain noch etwas sagen konnte. Es bereitete ihm Vergnügen zu wissen, dass sein Vater es hassen würde, dass er das Gespräch beendet hatte.

»Wir kriegen unseren Tito schon wieder hin«, sagte er zu Rachmaninoff. Im Hafenbecken trieben Fischerboote und die kleinen Jollen der örtlichen Segelschule. Als er auf das offene Meer hinausblickte, sah er Chausey als dunklen Fleck am Horizont, den Ort, an dem alles zusammenzulaufen schien.

»Lucas«, murmelte Nicolas, der Name sprang in seinem Kopf herum wie eine abgefeuerte Pistolenkugel. Er fragte sich, ob er nicht bereits von Anfang an auf diesen Namen hätte kommen können, auch wenn Lucas längst tot war. Und er fragte sich jetzt auch, ob dieser Umstand Menschen das Leben gekostet hatte.

 

Obwohl der Regen mittlerweile aufgehört hatte, meinte Roussel, das Trommeln auf seiner Kapuze immer noch zu hören. Missmutig stapfte er den kleinen Weg entlang, an der Kapelle von Chausey vorbei, ließ den Hof mit der steinernen Mauer und dem grauen Schieferdach rechts liegen, genau wie das Hinweisschild, das den Weg hinunter zur Port-Marie anzeigte, und öffnete wenig später die Tür des kleinen Inselladens. Als er seine Kapuze zurückschob und seine nassen Schuhe auf einem Teppichläufer abstreifte, kam Louise um die Ecke, in der Hand eine Kanne mit schwarzem Kaffee und einem Teller mit belegten Broten.

»Ich dachte mir, dass Sie früher oder später kommen, Monsieur«, sagte sie und sah ihn freundlich an. »Sie sind doch von der Polizei, oder? Es ist fürchterlich, so fürchterlich, ich kann es noch gar nicht fassen. Hier, das ist für Sie.«

»Sie sind ein Engel«, sagte Roussel und nippte an der vollen Tasse, die sie ihm eingeschenkt hatte. »Ich fürchte, hier werden gleich noch ein paar mehr von meiner Sorte einfallen. Die Spurensuche, die Forensik, das ganze Besteck.«

Louise nickte.

»Ich weiß«, sagte sie. »Die Hafenbehörde in Granville hat mich schon angerufen, um mich vorzuwarnen. Da stehen jede Menge Menschen und warten auf die Fähre. Der Kapitän wird heute wohl außerplanmäßig fahren müssen.«

»Mir scheint, es ist vieles außerplanmäßig auf dieser Insel«, murmelte Roussel und biss in eines der Brote.

Louise sah aus dem Fenster, wo der Wind über den Sound wehte und die Wellen an die Felsen schob.

»Da haben Sie vermutlich recht«, sagte sie. »Chausey war schon immer etwas Besonderes und wird es auch immer sein. Auch, wenn sich vieles verändert hat.«

Roussel betrachtete Louise, die mit durchgestrecktem Rücken am Fenster stand, ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden und die Hände in den Taschen ihrer weißen Schürze.

»Zum Guten oder zum Schlechten?«, fragte er, während er einen weiteren Schluck Kaffee nahm und spürte, wie ihm endlich wärmer wurde.

Als sie sich zu ihm umdrehte, lächelte sie.

»Das kommt vermutlich darauf an, wen Sie fragen.«

»Und wenn ich Sie frage?«

»Dann würde ich wohl antworten: Das kommt darauf an, an welchem Tag Sie mich fragen.«

Roussel lachte.

»Dann geht es Ihnen wie mir, Madame. Wobei die schlechten Tage in letzter Zeit leider deutlich in Führung gegangen sind.«

»Oh, bitte, nennen Sie mich Louise, ja? Und wegen der schlechten Tage: Die gehen vorbei. Auf Flut folgt Ebbe, so sagt man doch. Für manche ist das Hochwasser lästig, für andere der Schlick auf dem Boden, wenn das Wasser sich zurückzieht. Aber wir können es nicht ändern, nicht wahr? Wir sollten einfach die Gezeiten ihre Arbeit machen lassen, der Rest kommt und geht.«

 

Roussel sah sie nachdenklich an.

Dann schob er seine rechte Hand in die Tasche und zog die Plastiktüte hervor, in die er die Schnapsflasche verpackt hatte, die er vor dem brennenden Haus des Vogelschützers gefunden hatte. Behutsam zog er sie aus der Tüte, er hatte seine Handschuhe angezogen und versuchte, die Flasche so wenig wie möglich zu berühren.

»Kommt Ihnen die hier bekannt vor?«, fragte er Louise und sah, wie sie kurz stutzte. Sie setzte sich die Brille auf und betrachtete das Etikett.

»Willkommen auf Chausey«, stand in großen Lettern darauf, im Hintergrund waren die Hügel der Hauptinsel und der Leuchtturm zu sehen.

»Natürlich«, sagte sie. »Die Flaschen verkaufe ich hier im Laden.«

»Gibt es die sonst noch irgendwo zu kaufen?«, fragte Roussel, sein Ton war jetzt ernst. Er war nicht wegen des Kaffees hierhergekommen.

»Warten Sie … ich muss … Nein, diese hier gibt es tatsächlich nur in meinem Laden. Schauen Sie, da unten ist eine Nummer, am Ende steht eine 3. Die steht für den Verkauf auf der Insel und den mache nur ich. Die Flaschen sind beliebt, ich hoffe, dass ich heute im Laufe des Tages Nachschub bekomme, denn seit einer Woche habe ich keine mehr.«

»Wo gibt es die Flaschen mit einer anderen Nummer zu kaufen?«

Sie musste nicht lange überlegen.

»Die mit einer 1 gehen in den freien Verkauf auf dem Festland, direkt von der Schnapsbrennerei, wo sie produziert werden. Und die mit einer 2 sind für die Souvenirläden am Hafen von Granville. Aber wie gesagt, die hier ist aus meinem Laden, ohne Zweifel. Wo haben Sie sie her, ist sie … ich meine …«

Louise schlug eine Hand vor den Mund und starrte ihn an.

»Sie haben Sie bei dem armen Olivier gefunden.«

Roussel nickte.

»Diese Flasche ist mit Gift versetzt, vermutlich Rizin. Er muss daraus getrunken haben.«

Sie taumelte, sichtlich geschockt, und Roussel sprang auf, bevor sie gegen ein Regal stolperte. Er hielt sie am Arm fest und führte sie zu einem Stuhl.

»Oh mein Gott. Das ist alles … so schrecklich. Erst der arme Rémy. Jetzt dieser Ornithologe. Er war so … ungewöhnlich. Aber ein wirklich netter Mensch, ein bisschen kauzig vielleicht, aber …«

Ihre Stimme brach.

»Und jetzt denken Sie, ich hätte mit dem Schnaps …«

Roussel legte ihr eine Hand auf den Arm und setzte sich ihr gegenüber.

»Madame, an wen haben Sie in der vergangenen Woche Schnaps verkauft? Haben Sie das irgendwo notiert?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich schreibe nichts auf, es ist doch nur ein kleiner Inselladen. Ich habe …«

Sie versuchte, sich zu konzentrieren.

»Ein junges Paar, der Mann hat eine Flasche gekauft. Dann eine … warten Sie … eine Gruppe Italiener, denen habe ich zwei Flaschen verkauft, es regnete stark, sie haben sie direkt im Laden getrunken.«

»Weiter!«, sagte Roussel.

»Und … eine an einen Geschäftsmann, aus Angers glaube ich. Das war’s, ich hatte nicht mehr so viele und …«

»Würden Sie den Geschäftsmann erkennen? Oder das junge Paar?«

Sie nickte.

»Ja, vermutlich.«

»Gut, danke, Sie haben mir sehr geholfen.«

Kurz darauf schloss Roussel die Tür des Inselladens hinter sich, zog seine Kapuze über den Kopf, um sich gegen den Wind zu schützen, und stapfte den Pfad hinunter, der ihn an Les Blainvillais vorbei in Richtung Westen bringen würde. Dorthin, wo das Gerippe des Sémaphore stand.

»Verdammte Insel«, fluchte er.

Sie kamen zu langsam voran. Die Stunden rannen ihnen durch die Finger und der Täter hatte seine Arbeit noch lange nicht vollendet.

 

Claire stand währenddessen an der Hafenmole von Granville und sah der Fähre hinterher, die gerade in Richtung Chausey aufgebrochen war, mit mindestens einem Dutzend Beamten aus Caen an Bord, die erst vor wenigen Minuten in der Stadt angekommen waren. Sie hatten ihr Equipment aufs Schiff gebracht und Claire konnte sehen, dass Adrienne, die als Mädchen für alles auf der Fähre arbeitete, Kaffee an die Männer verteilte. Sie hatten sich noch einmal zugewunken.

»Das nächste Mal will ich Delfine sehen«, murmelte sie, drehte sich um und ging zurück in Richtung Stadt. Als sie am Verwaltungsgebäude der Fährgesellschaft vorbeikam, sah sie einige Wintertouristen, die offenbar dem kalten Wind entkommen wollten und einem Hinweisschild folgten, auf dem »Exposition« stand.

Claire fröstelte und sah auf die Uhr. Von der Fahrt war sie komplett durchgefroren und beschloss daher kurzerhand, sich hier aufzuwärmen, bevor sie zum Commissariat hinüberging. Sie folgte den Touristen ins Gebäude, in dem es angenehm warm war und wo es neben dem Souvenirladen eine kleine Ausstellung über die Geschichte von Chausey und der Fährgesellschaft gab. Claire schlenderte zwischen den Infotafeln herum, las Texte über die Austernzucht auf Chausey und das Leben der Insulaner, das offenbar schon immer von einer gewissen Härte geprägt gewesen war. Auf den Fotos waren alte Frauen abgebildet, die vor Steinhäusern im Gras saßen und Fischernetze flickten, Kinder, die mit Segelbooten hinüber ans Festland zur Schule fuhren.

Als ihr Telefon klingelte, zuckte sie zusammen.

»Ah, Monsieur Bodyguard«, sagte sie mit einiger Süffisanz in der Stimme und ging weiter an den Tafeln entlang. Die Touristengruppe hatte sich bereits ins benachbarte Café zurückgezogen.

»Ja, ich weiß, du bist ein Personenschützer, das ist etwas anderes.«

Dann erzählte sie Nicolas in knappen Worten, was auf Chausey geschehen war, und versuchte dabei, das Bild des brennenden Olivier nicht zu lange in ihrem Kopf zu behalten. Es gelang ihr nicht und deshalb versuchte sie, sich auf den Text zu konzentrieren, der vor ihr auf der Tafel stand.

»Hm … okay … ja, mach das.«

Sie ging um die Tafel herum und stutzte, als sie sah, mit welchem Thema sich der Text beschäftigte.

»Gut, dann komme ich gleich hin. Sperrt diesen Philippe Duval am besten in die Zelle, da kommt keiner an ihn ran. Das war ein Witz, Nicolas! Mein Gott, warum hast du denn so schlechte Laune.«

Verblüfft sah sie auf ihr Handy.

»Aufgelegt«, murmelte sie. »Aus dem werde ich nie schlau.«

Und gerade als sie weitergehen wollte, um sich mit einem Kaffee gegen den kalten Wind zu wappnen, blieb sie verwundert stehen.

Irritiert blickte sie auf einen Zeitstrahl, las den Text und betrachtete das Foto, das daneben abgebildet war.

Dass ihr Handy ihr aus der Hand glitt und zu Boden fiel, merkte sie kaum.

 

Nicolas betrat das Commissariat von Deauville. Vor drei Minuten hatte Roussel ihn angerufen, der wiederum von den beiden Beamten im Commissariat informiert worden war.

»Wo ist er?«, rief er den beiden Beamten zu, während er Rachmaninoff an die Heizung band, wo der Hund sich augenblicklich einrollte und schlief.

Einer der Beamten war aufgestanden, seine Hand auf der Dienstwaffe.

»Und Sie sind …?«, fragte er, während er Nicolas musterte, dem erst jetzt auffiel, dass er in seinem ramponierten Zustand und mit seinen Schürfwunden im Gesicht durchaus Anlass für Misstrauen gab.

»Hören Sie, wo ist Duval? Sie haben Roussel angerufen, und …«

»Sie sind der Bodyguard!«, rief der andere Beamte jetzt und deutete auf eines der Fotos an der Wand.

»Stimmt«, sagte sein Kollege jetzt und nahm die Hand von der Waffe. Die beiden waren sichtlich angespannt und bleich, einer der Beamten hatte rot geränderte Augen.

Er hatte geweint.

»Es tut mir sehr leid, was mit Ihrem Dienststellenleiter passiert ist«, sagte Nicolas. »Er war … ich meine, ich habe ihn nicht gut gekannt, aber er wollte diese Sache unbedingt aufklären. Es ist fürchterlich, was mit ihm passiert ist. Ich wünschte, ich hätte es verhindern können.«

In diesem Augenblick hörte er das Rauschen eines Wasserhahns und kurz darauf kam ein Mann aus der Toilette. Er war schätzungsweise Mitte vierzig, trug einen dicken Pullover, eine Outdoorhose und schwere Wanderstiefel. Auf einem der Besucherstühle hing eine Regenjacke.

»Sie sind Philippe Duval?«, fragte Nicolas. Der Mann nickte.

»Wir warten seit einiger Zeit auf Sie, es ist wirklich dringend, wo waren Sie denn so lange?«

»Ehrlich gesagt war ich erst mal im Hotel, mich frisch machen. So was wird doch noch erlaubt sein, oder? Und jetzt wüsste ich langsam gern, warum ich so dringend zur Polizei kommen sollte. Ist etwas passiert?«, sagte der Mann sichtlich aufgebracht.

Nicolas nickte den beiden Beamten zu.

»Ich gehe mit Monsieur Duval in Marc Huets Büro. Geben Sie mir Bescheid, wenn Roussel hier anruft oder Claire Cantalle ankommt. Sie muss jeden Moment …«

In diesem Augenblick wurde die Eingangstür des Commissariat mit Wucht aufgestoßen, ein Windstoß wirbelte einen Papierstapel auf. Leere Plastikbecher kullerten durch den Raum, als Claire in den Raum stürmte und die vier Männer anstarrte. Sie war völlig außer Atem, offenbar war sie die ganze Strecke vom Hafengebäude bis zum Commissariat gerannt.

»Ich hab’s!«, schrie sie, während sie sich an einem Regal festhielt und nach Luft schnappte. »Ich habe das … ich weiß, warum … ich …«

»Langsam, Claire«, sagte Nicolas und machte einen Schritt auf sie zu. »Atme erst mal durch, so ist es gut, schön langsam …«

»Halt die Klappe, Nicolas«, fauchte sie ihn an, dann sah sie sich um.

»Sind Sie Philippe Duval?«, fragte sie den Mann im dicken Wollpullover.

»Ja, der bin ich. Ornithologe aus dem Süden, ich sollte eigentlich übermorgen …«

»Sie waren schon einmal hier, nicht wahr?«, fragte sie, während Nicolas darüber nachdachte, worauf sie hinauswollte.

Der Ornithologe nickte.

»Ja, natürlich, bereits zweimal. Deshalb wurde ich ja jetzt wieder auf Chausey eingesetzt.«

»Wer ist Chloé, Monsieur Duval?«

Nicolas und die beiden Beamten warfen sich irritierte Blicke zu.

»Wer soll das sein?«, fragte Nicolas. Aber sie beachtete ihn nicht, sondern funkelte Duval an.

»Monsieur, Sie haben meine Frage gehört: Können Sie mir sagen, wer Chloé ist. Oder sollte ich besser fragen: Wer war Chloé?«

 

»Darf ich mich bitte setzen? Ich glaube … ich muss kurz …«

»Alles okay?«

Nicolas sprintete zu dem Mann, der plötzlich aschfahl war und beinahe umgekippt wäre. Vorsichtig führte er ihn zu einem Stuhl, half ihm, sich zu setzen, und machte einem der Männer ein Zeichen, ein Glas Wasser zu besorgen. Philippe Duval trank es in einem Zug aus, dann schaute er die drei Männer und Claire an. Plötzlich sah er völlig erschöpft aus.

»Dann ist es jetzt gut«, sagte der Mann leise. »Ich warte seit so vielen Jahren darauf, es jemandem zu erzählen. Meiner Familie, meinen Freunden. Aber ich konnte es nicht.«

»Was erzählen?«, fragte Nicolas.

Philippe Duval holte tief Luft, bevor er antwortete.

»Das, was wir getan haben damals. Oder besser: Was wir nicht getan haben.«