Kapitel 29

Chausey, Normandie

Zur gleichen Zeit

Hallo, kleine Möwe.«

Louise spürte die Anwesenheit des Vogels, bevor sie ihn hörte. Es war schon immer so gewesen, bereits als Kind hatte sie eine besondere Beziehung zu den Möwen auf Chausey gehabt. Sie waren auf ihren Schultern gelandet, wenn sie im Schatten des Leuchtturms gestanden und aufs Meer geschaut hatte, sie waren vor ihren Füßen sitzen geblieben, wenn sie auf der grünen Bank oberhalb der Port-Marie gesessen und für die Schule gelernt hatte. Und immer wieder stolzierte eine von ihnen – vielleicht sogar immer die gleiche – in die kleine Kapelle hinein, mit leicht gesenktem Kopf und geöffnetem Schnabel, als wollte sie ihr etwas zurufen.

»Spiel weiter. Bleib tapfer. Gräme dich nicht.«

Als wüsste die Möwe, dass es genau das war, was Louise tat, seit so vielen Jahren: sich grämen.

 

Sie saß am Klavier, über ihr schaukelte leicht eines der Schiffsmodelle an der Decke, sie hatte die Tür angelehnt, der Wind fuhr durch das Gemäuer.

»Es wird Sturm geben heute Nacht«, sagte sie zu der Möwe, während sie eine zarte Melodie zu spielen begann. »Du solltest dir ein gutes Versteck suchen. Ich werde schon zurechtkommen.«

Ihre Finger fanden die Tasten von allein, langsam, manchmal leicht stolpernd. Längst taten ihr die Gelenke weh, wenn sie länger Klavier spielte, ihr Rücken schmerzte, wenn sie mehr als fünf Minuten auf dem ungemütlichen Schemel saß.

Und doch saß sie hier, immer wieder, als wollte sie sich selbst nicht schonen, als sei der Schmerz in ihren alten Gliedern ein willkommener Gast.

»Verlass mich nicht«, sang sie leise zur Melodie. »Man muss vergessen, alles vergessen.«

Die Möwe hüpfte kurz auf dem kalten Steinboden, drehte sich im Kreis.

»Die Zeit der Missverständnisse, die verlorene Zeit …«

 

Sie brach ab, nahm ihre Finger von der Tastatur und sah durch ein kleines Kirchenfenster nach draußen, wo der Wind die kahlen Zweige der Sträucher bis auf den Boden drückte.

Sie saß lange dort, sie achtete nicht auf ihren Rücken, nicht auf die Kälte in ihren Knochen. Die Möwe war immer noch da.

Und Louise weinte und ihre Tränen fielen auf die Tasten des Klaviers, auf die weißen und die schwarzen. Und draußen auf dem Meer, nördlich von Chausey, schoben sich die Wolken zusammen, zu einem Gebilde, so dunkel wie die Gedanken in Louises Kopf.

Eine Sturmwand nahte.

 

»Was geschehen ist, ist geschehen«, murmelte sie schließlich.

Chausey würde diesen Sturm überstehen. Und auch die kleine Möwe von Chausey würde diesen Sturm überstehen. Doch die Stille, die folgen würde, würde lauter sein als jeder Sturm.