Kapitel 30

Granville, Normandie

Am Vormittag

Claire und Nicolas standen in der kleinen Teeküche des Commissariat von Granville und warteten darauf, dass das Wasser endlich kochte. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

»Wir hätten früher darauf kommen können«, sagte Claire schließlich und Nicolas wünschte sich, dass sie unrecht hätte, aber so war es nicht.

»Alle hier in der Stadt wissen von dem Unglück, die Fährgesellschaft und die Menschen auf Chausey auch. Aber keiner kommt auf die Idee, dass das ein Motiv sein könnte.«

»Wie auch?«, überlegte Claire, während sie ihren Tee aufgoss. »Was damals geschehen ist, wissen alle. Aber wer damals dabei war? Das wäre vielleicht doch zu viel verlangt.«

Nicolas nahm seine Tasse und folgte ihr in Huets Büro, in dem Philippe Duval auf seinem Stuhl saß und aus dem Fenster starrte.

Er lächelte, als Claire ihm ein Croissant reichte.

»Sie haben Glück, dass der Bäcker von gegenüber alle hier im Commissariat so gut versorgt«, sagte sie. »Ich kenne einen Polizisten in Deauville, der würde für so einen Service glatt töten.«

Duval sagte nichts, sondern starrte weiter aus dem Fenster.

»Entschuldigung«, murmelte Claire. »Unglückliche Wortwahl.«

 

Für einen Augenblick schwiegen sie alle.

»Das Schlimmste ist die Scham«, sagte Duval schließlich leise. »Ich schäme mich seit sieben Jahren, aber ich weiß auch nicht, wie ich das je überwinden soll … Ich … schaffe es nicht, mit jemandem zu sprechen. Nicht mal mit meiner Frau. Und das ist wirklich schlimm, weil ich sie liebe.«

Nicolas räusperte sich.

»Wo standen Sie genau, als das Mädchen ins Wasser gefallen ist?«

 

Claire hatte das Bild aus dem Winter vor sieben Jahren an der Infotafel gesehen. Der zugehörige Text hatte sich mit Unfällen der Fährgesellschaft in den vergangenen fünfzig Jahren beschäftigt.

Ein auf Grund gelaufenes Schiff, ein abgeknickter Schornstein, ein heiß gelaufener Schiffsmotor, zwei Tote bei einem Sturm vor dreißig Jahren.

Ansonsten stellte sich die Gesellschaft ein hervorragendes Zeugnis aus. In Sachen Sicherheit sei man bestens ausgestattet und die Passagiere zwischen Chausey, Guernsey und Granville seien immer in besten Händen.

Der tragische Tod der kleinen Chloé vor sieben Jahren sei ein schreckliches Unglück gewesen, man sei in Gedanken bei den Angehörigen. Die Fährgesellschaft betonte in dem Text allerdings auch, dass hier die Aufsichtspflicht verletzt worden sei und es sich daher um menschliches Versagen gehandelt habe. Auf die Notwendigkeit von Rettungswesten bei kleinen Kindern seien die Passagiere stets hingewiesen worden.

Claire hatte das Foto gesehen: ein Krankenwagen auf der Mole, die Fähre im Hintergrund.

Sie hatte Rémy Marchand erkannt, den Chef der Fährgesellschaft. Und Balthasar Morignac.

Und dann hatte sie das Datum des Unglücks gesehen.

Auf den Tag genau vor sieben Jahren.

 

»Rémy Marchand, der Chef der Fährgesellschaft, war am nächsten dran«, begann Duval mit stockender Stimme zu erzählen. »Er stand mit diesem Morignac direkt an der Reling. Ich habe das kleine Mädchen auf dem Deck spielen sehen, sie hatte einen Ball.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte Nicolas und warf einen Blick auf die Uhr.

»Es waren nicht viele auf der Fähre, es war ja Winter. Dieser andere Mann …«

»Adrien Martin«, ergänzte Claire und zeigte auf ein Foto, das sie auf den Tisch gelegt hatte.

»Ja, genau der. Er saß mir gegenüber, auf einer der Bänke. Er hat, glaube ich, etwas getrunken, ich weiß es nicht mehr genau. Und ich saß, wie gesagt, auch auf einer Bank, vielleicht vier Meter von der Reling entfernt.«

»Deshalb die Reihenfolge auf der Liste«, sagte Claire und sah Nicolas an. »Zuerst die beiden, die direkt an der Reling gestanden hatten. Dann Adrien Martin und schließlich Sie, Monsieur Duval.«

»Und warum stehen Sie auf der Liste?«, fragte Duval plötzlich und wandte sich an Nicolas. »Ich meine, wenn es wirklich um das Mädchen und ihren Vater geht, warum dann Ihr Name?«

»Dazu kommen wir später«, sagte Nicolas knapp und ignorierte Claires Stirnrunzeln. »Was ist dann passiert?«

Duval schluckte, die Erinnerung an diesen Tag vor sieben Jahren lag ihm schwer auf der Seele.

»Ich … also wir alle, wir haben so schnell gar nicht reagieren können. Das Mädchen ist gestolpert und plötzlich war sie weg. Sie muss zwischen den Sprossen der Reling einfach …«

Duval weinte jetzt, seine Hand zitterte, als er nach dem Taschentuch griff, das Claire ihm reichte.

»Wir standen da, alle vier, an der Reling und starrten ins Wasser. Ich habe ihre Jacke kurz aufblitzen sehen, ich habe noch überlegt … aber … jeder hat den anderen angeschaut … und dann … war sie weg.«

»Was ist dann passiert?«, fragte Claire.

»Der Vater ist aus dem Schiffsinnern gekommen. Er muss noch gesehen haben, wie sie gestolpert ist. Er hat uns … oh mein Gott …«

»Monsieur Duval, bitte, es ist wichtig.«

Philippe Duval schnäuzte in das Taschentuch und sammelte sich.

»Er hat uns angeschaut, voller Verachtung. Sein Blick war so kalt. Dann ist er ins Wasser gesprungen.«

 

Nicolas stellte gerade seine Tasche auf den Tisch, als sein Handy klingelte. Er machte Claire ein Zeichen, als er sah, wer anrief.

»Mach du kurz allein weiter, ich muss rangehen.«

»Ist gut«, sagte Claire und gab Duval ein weiteres Taschentuch.

Nicolas nahm den Anruf entgegen und schloss die Tür zu Huets Büro hinter sich. Die beiden Beamten beachteten ihn nicht, sie standen vor einer Tafel und verglichen die Hinweise aus der Bevölkerung mit dem Stand der Ermittlungen. Nicolas ging nach draußen und bereute sofort, dass er seine Jacke nicht mitgenommen hatte.

»Was hast du für mich?«

Sein Vater sprach schnell, das war das Erste, was ihm auffiel. Er meinte, auch eine gewisse Verärgerung herauszuhören.

»Nicolas, warum hast du mich nach diesem Lucas Corneille gefragt? Warum interessierst du dich plötzlich so für ihn?«

Auf der anderen Straßenseite beobachtete Nicolas einige wenige Touristen, die über den Bürgersteig hasteten, vorbei an der Bäckerei, dem geschlossenen Souvenirladen und der Apotheke.

»Weil es jemanden gibt, der es auf mich abgesehen hat«, sagte Nicolas. »Aus einem Grund, den ich verzweifelt suche, aber nicht finden kann. Und nach unserem Treffen heute Nacht musste ich an Oissel denken. Und an diesen Lucas.«

Sein Vater schwieg einen Moment.

»Er ist tot, Nicolas«, sagte er dann. »Wie ich es dir gesagt habe. Allerdings gibt es da ein Problem.«

»Was für ein Problem? Hör zu, ich habe wirklich keine Zeit für deine Spielchen, wir müssen hier …«

Nicolas nahm auf der anderen Straßenseite plötzlich eine Bewegung wahr. Es war nicht mehr als ein vorbeihuschender Schatten, aber als er sich umdrehte, war da nichts. Die drei Geschäfte lagen direkt gegenüber des Commissariat, es waren jedoch keine Kunden zu sehen.

»Lucas Corneille ist nicht im Einsatz gestorben. Er ist noch nicht mal in Dschibuti gestorben.«

Und plötzlich wusste Nicolas, was die Verärgerung in der Stimme seines Vaters zu bedeuten hatte. Es war diesmal ausnahmsweise nicht die Unzufriedenheit mit den Leistungen anderer.

Nein, Alexandre Guerlain hatte einen Fehler gemacht. Er hatte zu sehr auf das vertraut, was ihm gesagt worden war. Er hatte nicht nachgefragt, damals. Lucas Corneille, gestorben als Mitglied der Fremdenlegion in Dschibuti, Afrika. Aber nicht dort gestorben.

»Es war während eines Heimaturlaubs. Er ist zu Hause gestorben. Zwei Jahre, nachdem ihr euch in Oissel bei der Prüfung kennengelernt hattet.«

»Hatte er eine Tochter?«, fragte Nicolas vorsichtig. Er hatte das unbestimmte Gefühl, hier draußen beobachtet zu werden.

»Ja«, sagte sein Vater, »Chloé. Sie war vier Jahre alt. Sie ist …«

»… am gleichen Tag gestorben wie ihr Vater.«

 

Beide schwiegen, Nicolas’ Blick flatterte, eine leichte Übelkeit kam in ihm auf.

Alles ergab einen Sinn. Es waren fünf Menschen gestorben. Drei von der Todesliste und zwei, die dem Mörder in die Quere gekommen waren: Marc Huet und Olivier Bechandre.

Weil niemand das Mädchen hatte retten wollen.

»Da ist noch etwas«, sagte sein Vater schließlich.

»Was?«

»Die Leiche des Mädchens wurde zwei Tage später auf Chausey gefunden. Die des Vaters nicht. Er wurde nach einem Taucheinsatz irgendwann für tot erklärt. Seine Eltern haben ihr Geschäft aufgegeben und Granville verlassen.«

»Er stammte aus Granville?«, fragte Nicolas erstaunt und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Da war dieses Gefühl, er spürte den Blick im Nacken, auf seiner Haut.

Jemand beobachtete ihn.

»Ja, seine Eltern waren dort Apotheker.«

 

Nicolas wirbelte herum, weil er in einem der Schaufenster eine Reflektion zu sehen geglaubt hatte. Zeitgleich fiel ihm ein, was Roussel über die Ermittlungen gesagt hatte, als sie im Auto gemeinsam mit Huet nach Saint-Lô gerast waren.

 

»Er ist uns immer einen Schritt voraus. Als würde er uns die ganze Zeit beobachten, dicht bei uns sein, ohne dass wir es merken.«

 

»Nicolas, bist du noch dran? Denk dran, ich will den Namen der Frau!«

In Nicolas Kopf drehte sich alles, sein Blick verschwamm. Leichter Regen setzte ein, als Nicolas langsam die Straße überquerte. Er warf einen Blick zurück Richtung Commissariat, überlegte kurz, ob er Claire Bescheid sagen sollte oder einem der beiden Beamten.

»Nein, er gehört mir«, sagte er dann leise, entsicherte seine Waffe und öffnete vorsichtig die Tür zur Apotheke.

Das Geräusch einer Glocke kündigte ihn an. Nicolas atmete langsam aus, konzentrierte sich nur auf den Lauf seiner Waffe, vergaß die Schmerzen, seine Wunden …

Es würde zu Ende gehen, hier und jetzt.

Der Laden war verwaist. Nicolas stieg drei Stufen in den Verkaufsraum hoch, seine Schritte waren auf dem Steinboden kaum zu hören, er sah seinen Schatten, der über die Regale wanderte. Mit der Waffe in beiden Händen näherte er sich dem Tresen, auf dem ein kleines Schild stand.

»Bin gleich wieder da.«

Hinter dem Tresen führte ein kleiner Durchgang zu weiteren Schränken, kleine Tiegel und Messbecher standen ordentlich drapiert auf einer Kommode. Nicolas atmete kurz durch, glitt um die Ecke und spürte einen kalten Luftzug.

Schritt für Schritt durchquerte er einen Flur, der nach wenigen Metern durch eine Tür in einen Hinterhof führte.

 

Und dann hörte er die Musik.

Sie kam aus einer offenen Kellertür, gedämpft und leise, Nicolas erkannte das Lied sofort.

»Les yeux revolver.«

Langsam trat er in den Hof hinaus, überprüfte zwei andere Durchgänge und einen alten Schuppen, bevor er sich schließlich der Kellertür näherte. Die Musik wurde lauter, als er zwei Treppenstufen hinunterstieg und einen Gang betrat, der geradewegs in die Dunkelheit führte.

Sein rechter Zeigefinger lag auf dem Abzug, er hielt den Atem an und betrat den Kellergang. Es roch schimmlig, vor ihm hatte sich eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet. Kurz bevor er vollständig von der Dunkelheit geschluckt wurde, knickte der Gang nach links ab, und Nicolas erreichte einen größeren Kellerraum. Die Musik kam von weiter vorne, wo zwei große Regale zur Seite geschoben worden waren, hinter denen jetzt eine Stahltür in der Wand zu erkennen war. Sie stand offen, dahinter war schwaches, flackerndes Licht zu erahnen.

Vorsichtig durchquerte er den Raum und stieß dabei gegen eine Holzkiste, in der mehrere Flaschen standen.

»Willkommen auf Chausey«, war in das Glas eingraviert.

Die Musik war jetzt besser zu hören. Mit zwei schnellen Schritten war Nicolas an der offenen Stahltür und spähte vorsichtig um die Ecke.

Er wusste sofort, dass er am Ziel war.

Auf der anderen Seite der Tür begann ein schmaler Gang, der offenbar unter den Häusern hindurch mehrere Kellerräume miteinander verband. Die Wände waren allesamt mit Schaumstoff ausgekleidet, auf der Innenseite der Stahltür hatte jemand zusätzlich eine dicke Matratze befestigt.

»Hier will jemand nicht gehört werden«, murmelte Nicolas und fragte sich zugleich, warum dann ausgerechnet jetzt Musik zu hören war.

Er kannte die Antwort und sie ließ ihn den Griff seiner Waffe noch fester umklammern.

Er wurde erwartet.

Nicolas durchquerte den Gang und erreichte eine weitere schallsichere Tür, die ebenfalls offen stand. Dahinter lag ein Vorraum, der sich nach links öffnete. Ein Lautsprecher hing in einer Ecke an der Wand, er nahm zwei Einbuchtungen wahr, die von einer schmalen Backsteinwand getrennt wurden. Nicolas betrat den Raum, er brauchte nur wenige Meter, um zu begreifen, was hier unten im Keller eingerichtet worden war.

Es war seine eigene Vergangenheit.

Jene, die er seit neun Jahren so erfolgreich verdrängt hatte.

 

Der Schießstand reichte etwa zwanzig Meter in den Keller hinein, Neonröhren beleuchteten den Raum, eine davon war defekt, das Licht flackerte hektisch. Auf beiden Seiten der kleinen Mauer stand ein Tisch, auf dem Kopfhörer lagen. Nicolas nahm den Geruch abgefeuerter Waffen wahr, Patronenhülsen lagen auf dem Betonboden. Dann sah er die Zielscheiben, sie hingen am Ende des Schießstandes direkt vor der Wand, Seilzüge an der Decke führten dorthin. Darunter jeweils ein Knopf, mit dem man die erfolgreichen oder eben die nicht erfolgreichen Einschüsse kontrollieren konnte.

»Drück ruhig drauf.«

 

Nicolas hatte ihn nicht kommen hören.

Er hatte keinen Schatten gesehen, keine Bewegung wahrgenommen, er hatte nur auf die beiden Zielscheiben gestarrt, die im Halbdunkel hingen. Zwei Fotos waren direkt vor das jeweilige Zielkreuz geklebt worden.

Eine Frau und ein Mann.

»Na los, drück drauf.«

Das Metall eines Pistolenlaufs fühlte sich kalt an in seinem Nacken.

»Und bitte, erspar uns beiden, dass ich dich hier erschießen muss, weil du versuchst, schlauer zu sein als ich. Das bist du nicht. Los, drück schon.«

Nicolas betätigte den Knopf und augenblicklich kam die Zielscheibe auf ihn zugefahren. Weitere Neonröhren flackerten und gingen an, grelles Licht flutete den Schießstand, Nicolas musste die Augen zusammenkneifen.

Der Mann hinter ihm atmete ruhig weiter, seine Hand zitterte kein bisschen. Nicolas versuchte den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer hinter ihm stand, aber sofort drückte sich der Lauf der Waffe noch fester in den Nacken.

»Versuch es erst gar nicht, Nicolas. Verdirb uns beiden nicht den Spaß, in Ordnung?«

Die Zielschiebe war jetzt fast vorne.

Es war die Frau.

»Du hast das Ganze gut vorbereitet« sagte Nicolas, während er sich auf den Zeigefinger seiner rechten Hand konzentrierte. »Seit wann planst du diesen Moment?«

Der Mann hinter ihm lachte.

»Seit ich gestorben bin, an den Stränden von Chausey. Das war lange nach deinem Betrug in Oissel, aber ich habe erkannt, dass mit dir alles begonnen hat! Du hast das Schicksal betrogen, hast es zu deinem Eigentum gemacht. Und alles, was danach passiert ist, all das Schreckliche, es hat seinen Ursprung in jenem Moment. Du bist ein Betrüger, Nicolas. Es war mir damals egal, weil ich gar kein Personenschützer werden wollte. Du warst der Richtige, das habe ich zumindest gedacht. Aber ich lag falsch, so falsch! Du hast die Ereignisse in Oissel einfach aus deinem Gedächtnis gestrichen, du hast nicht mal ein schlechtes Gewissen gehabt. Ich wusste, irgendwann sehen wir uns wieder, ich habe nur damals nicht ahnen können, was geschehen würde. Und dieses Irgendwann ist genau jetzt, und glaub mir: Ich werde jeden Augenblick genießen.«

Die Zielscheibe stoppte direkt vor Nicolas und für einen kurzen Moment schloss er die Augen.

»Es geht doch hier gar nicht um uns, Lucas«, sagte er. »Es geht um Chloé.«

Er hatte gehofft, den Mann hinter ihm damit aus der Reserve zu locken, ihn für einen kurzen Augenblick zu irritieren, ihn zu einer Unachtsamkeit zu verleiten. Aber er hatte sich getäuscht. Lucas Corneille war ein Profi, jemand, der einem Polizisten ein Messer in den Hals rammen konnte, ohne zu zögern.

»Schau sie an. Schau sie dir ganz genau an.«

Nicolas öffnete die Augen.

»So schön«, flüsterte Lucas jetzt in sein Ohr. »Eine Heilige, das ist sie für dich, nicht wahr?« Mit einer schnellen Bewegung drückte Lucas erneut auf den Knopf, die Zielscheibe fuhr nach hinten, bevor sie auf halber Strecke stoppte.

»Das sollte reichen. Du hast fünf Schuss, so wie damals.«

»Was soll das, das hier ist kein Spiel! Du hast Menschen umgebracht, du bist krank. Du willst dich rächen für einen Unfall, du hast Unschuldige auf dem Gewissen …«

»Halt die Klappe und schieß«, sagte Lucas. Wieder kein Zittern der Hand, keine Unsicherheit.

Nicolas amtete ruhig, aber er schwitzte. Er begann zu begreifen, dass hinter ihm jemand stand, den er in einer Situation wie dieser nicht überwältigen konnte. Ein Mitglied der Fremdenlegion, ausgebildet zum Töten, geübt im Umgang mit Waffen jeglicher Art.

Er spürte Lucas’ Atem direkt an seinem Ohr.

»Mit dir hat alles begonnen, Nicolas«, flüsterte Lucas. »All das Unglück in meinem Leben, es hat alles mit dir begonnen.«

»Du bist freiwillig gegangen, damals«, zischte Nicolas, immer noch konzentrierte er sich auf seine Waffe in der rechten Hand.

»Da wusste ich noch nicht, dass ich eine Tochter habe«, sagte die dunkle Stimme hinter ihm. »Ich wollte bei ihr bleiben, zu Hause, ich wollte mich mit ihrer Mutter versöhnen, alles hätte sich gefügt! Stattdessen konnte ich nicht mehr Personenschützer werden, musste in der Fremdenlegion bleiben und meine Familie im Stich lassen. Ich war ja durchgefallen, und die Geschichte mit den getauschten Unterlagen hat mir natürlich niemand mehr geglaubt. Du bist schuld daran, dass alles schiefgegangen ist!«

Nicolas hoffte darauf, dass Lucas die Fassung verlor, doch seine Stimme blieb ruhig und kalt.

»Ich habe dich im Fernsehen gesehen, neben dem Minister, neben dem Präsidenten, ich habe dir angesehen, wie sehr du diesen Beruf liebst. Du hattest das, was ich hätte haben sollen, was mir zugestanden hätte. Ich habe angefangen, dich zu hassen!«

»Erzähl mir, was damals passiert ist«, sagte Nicolas, um Zeit zu gewinnen. Aber wieder schlug sein Versuch fehl.

»Nichts ist passiert, Nicolas. Aber alles ist verloren gegangen, alles ist mir entglitten, nach und nach.«

»Und das hier?«, fragte Nicolas und sah zum Schießstand. »Was ist das, ein Trainingszentrum? Fühlt ihr euch besser hier unten, du und dein krankes Hirn?«

Der Mann schnaubte verächtlich.

»Ich bin nicht krank, Nicolas, oh nein. Ich bin nur ein Mann, der nach Hause zurückgekehrt ist, in das Haus seiner Eltern. Erst hier habe ich begriffen, was mich retten kann: du, Nicolas. Du bist die Quelle meines Übels.«

»Und was hast du jetzt vor? Da draußen sucht dich demnächst die halbe Stadt, du wirst nicht …«

»Niemand sucht mich, Nicolas«, flüsterte Lucas. »Weil sie nicht wissen, wen sie suchen sollen. Das Einzige, was sie finden werden, bist du. Ich werde dich dorthin bringen, wo ich gestorben bin. Dann erst werde ich frei sein!«

»Du bist total …«

Lucas drückte ihm den Lauf seiner Waffe noch fester in den Nacken.

»Fünf Schuss. Und lass dich nicht von ihrem hübschen Lächeln irritieren.«

Nicolas sah Julie fest in die Augen.

»Das ist doch lächerlich, was soll das …«

»Tu es!«

Nicolas hob zögerlich seine Waffe.

»So ist es gut. Und ziele genau. Nicht wie damals, du warst zu selbstsicher in Oissel. Aber jetzt, jetzt kannst du es. Und weißt du, warum?«

»Nein, du krankes Arschloch.«

Lucas lachte. Dann kam er ganz nah an Nicolas heran und flüsterte: »Weil ich sie nur am Leben lasse, wenn du fünfmal ins Schwarze triffst.«

Nicola schluckte schwer.

»Was hat sie damit zu tun? Du wirst sie nicht anfassen!«

»Mein Mädchen hatte auch nichts damit zu tun. Und doch ist sie gestorben, ertrunken, ich war dabei. Aber keine Sorge, für dich wird es nicht so schlimm sein, wenn ich sie umbringe. Denn du wirst mit ihr sterben. Und jetzt schieß endlich, Nicolas!«

Er schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder, atmete langsam aus, während er Julie anvisierte. Sie lächelte, als wolle sie ihm sagen: Alles ist gut, du hast nichts zu befürchten.

Nicolas sah sie vor sich, am Strand von Deauville, als junges Mädchen, wie sie am Wasser entlanggelaufen war, ihn hinter sich herziehend. Er hörte ihr Lachen, spürte ihre Lippen, ihre Umarmung unter den Laken eines Hotelbettes. Er schmeckte das Salz ihrer Tränen, hielt ihren zitternden Körper. Wieder und wieder hatte er seine rechte Hand auf einen leeren Platz im Konzertsaal gelegt, er hatte sie aus den Untiefen geholt und war wieder mit ihr dort hineingestürzt.

»Ich bin gleich wieder da.«

Ihre Stimme war wie ein Flüstern in der Nacht, ihre Haare berührten seine Haut, ihre Augen schlossen sich. Sie lag an seiner Schulter auf einer Dachterrasse in Paris, das Funkeln des Eiffelturmes hinter ihnen.

Und in dem Augenblick, in dem Nicolas den Zeigefinger krümmte und fünfmal nacheinander den Abzug betätigte, da begriff er, dass es niemals wieder so werden würde wie früher.

 

Der Knall seiner Waffe peitschte durch den Gang, der Rückstoß presste seinen Hinterkopf nur noch fester gegen den Lauf von Lucas’ Waffe.

Seine Kugeln zerfetzten Julies Gesicht und rissen sie in Einzelteile.

 

Schuss. Treffer.

Schuss. Treffer.

Schuss. Treffer.

Schuss. Treffer.

 

Nicolas spürte einen Stoß an der rechten Schulter, nicht fest, aber gerade genug, um den Lauf seiner Waffe beim letzten Schuss wenige Zentimeter zur Seite rutschen zu lassen.

 

Schuss. Kein Treffer.

 

Die Kugel flog deutlich an Julies bereits zerfetztem Gesicht vorbei und schlug zehn Meter dahinter in die Betonwand ein.

»Ups«, sagte Lucas. »Das tut mir jetzt leid. Aber mach dir keine Gedanken, es macht für dich ohnehin keinen Unterschied mehr.«

»Du wirst sie nicht …!«

Der schwere Lauf der Waffe prallte ohne Vorwarnung auf Nicolas’ Hinterkopf und ließ ihn augenblicklich zu Boden sacken. Das Letzte, was er sah, waren zwei Füße, die über ihn hinwegstiegen, Lucas’ Umriss gegen das Licht der Neonröhren, sein Arm, eine Waffe in seiner Hand.

Fünf Schüsse, kurz nacheinander.

Das Gesicht auf der anderen Zielscheibe wurde aus der Halterung gerissen, flatterte kurz in der Luft und trudelte dann gemächlich zu Boden, sauber durchschossen von fünf Kugeln.

»Jetzt liegst du hier gleich zweimal«, sagte Lucas und lud seine Waffe in aller Seelenruhe nach. Dann beugte er sich zu Nicolas hinunter, der längst bewusstlos war, und tätschelte ihm die Wange.

»Und jetzt wird es Zeit, dass du endlich Chausey kennenlernst.«