Kapitel 32

Granville, Normandie

Zur gleichen Zeit

Claire starrte die beiden Beamten an, als sie die Verbindung zu Roussel verlor. In ihrem Kopf türmten sich die Gedanken, fielen wieder zusammen, ordneten sich aufs Neue, bevor sie in ihrem Schädel zu explodieren schienen.

»Immer einen Schritt voraus«, murmelte sie. »Als würde er uns die ganze Zeit beobachten.«

»Was hast du gesagt?«, fragte einer der Beamten.

Claire stand langsam auf und schaute aus dem Fenster auf die andere Straßenseite. Wolken waren aufgezogen, der Himmel war dunkel geworden, es wirkte fast, als sei schon die Dämmerung hereingebrochen.

»Immer in der Nähe«, murmelte sie erneut und zog langsam ihre Waffe.

»Hey, ist alles in Ordnung?«, fragte der Beamte und stand ebenfalls auf, während er Claire verunsichert ansah.

»Wie lange gibt es die Apotheke schon?«, fragte sie.

»Die da drüben? Schon immer. Aber der Besitzer ist neu, was meinst du, wie lange ist der schon da?«

Der andere Beamte war ebenfalls aufgestanden.

»Bertrand? Zwei Jahre vielleicht.«

»Er ist unser Mann.«

Claire sah auf die Uhr. Nicolas war seit zwei Stunden verschwunden, Rachmaninoff war kurz darauf aus dem Commissariat gestürmt und nicht wiedergekommen.

»Du bleibst bei Philippe Duval. Ich will nicht, dass jemand an ihn rankommt. Und du kommst mit. Ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser ganzen Sache.«

 

Zwei Minuten später huschten sie zu zweit über die Straße, die mittlerweile menschenleer war. Die wenigen Passanten waren vor dem stärker werdenden Wind geflohen. Ein Fensterladen schlug gegen eine Außenwand und als Claire den Eingang der Apotheke erreichte, fuhr ein einzelner Lieferwagen durch die Straße, die Scheinwerfer blendeten sie für einen Augenblick. Claire wartete kurz, machte dem Kollegen ein Zeichen und holte Luft.

»Warum eigentlich immer ich«, murmelte sie und öffnete schließlich die gläserne Eingangstür.

»Polizei!«

Mit erhobener Waffe stürmte sie in die Apotheke, der Beamte direkt hinter ihr. Sie machten zwei schnelle Schritte die Treppenstufen hinauf in den Verkaufsraum und sahen sich um.

»Keiner da«, sagte der Polizist und deutete auf den Tresen, auf dem ein kleines Schild stand.

»Bin gleich wieder da.«

Claire ging am Tresen vorbei, ihre Waffe in beiden Händen, als sie einen kalten Luftzug auf der Haut spürte.

»Dahinten geht es weiter«, sagte sie, durchquerte einen kleinen Flur mit Medikamentenschränken und erreichte kurz darauf eine angelehnte Tür, die auf einen kleinen Hof führte. Die ersten Regentropfen fielen auf sie herab.

Auch hier war niemand.

»Sicher«, sagte der Polizist, nachdem er einen Bretterverschlag kontrolliert hatte. Sie schauten sich um und wollten gerade zurück in die Apotheke gehen, als Claire zwei Dinge bemerkte.

Den entfernten Klang von Musik. Und den Geruch eines nassen Hundes.

»Rachmaninoff war hier«, sagte sie und deutete auf eine Kellertür. Der Beamte machte ihr ein Zeichen und öffnete sie langsam. Dahinter war es dunkel, eine kleine Treppe führte hinab in einen schmalen Gang.

»Haben Sie eine Taschenlampe?«

Der Polizist nickte und kurz darauf beleuchtete Claire beim Abstieg die Kellerwände. Sie sah ein Regal, mehrere Kisten standen auf dem Boden, darunter auch eine, in der sich Flaschen befanden. Claire pfiff durch die Zähne. »Courrier de la mer« war ins Glas graviert – Post aus dem Meer. Auf den Zetteln standen vermutlich harmlose Grußbotschaften, vielleicht auch eine Schatzkarte, aber sicherlich keine Todesliste mit fünf Namen.

Jedenfalls wussten sie jetzt, wo der Täter die Flaschen herhatte, die er seinen Opfern hatte zukommen lassen.

»Die Geschäfte auf dieser Straßenseite teilen sich die Kellerräume«, sagte der Polizist hinter ihr leise und Claire nickte. Bertrand, der Apotheker, hatte auf diese Weise immer genug Material für seine spezielle Flaschenpost gehabt.

 

Sie leuchtete den Gang entlang.

»Polizei!«, rief sie laut in Richtung einer Tür, die zwischen zwei Regalen weiter in das Innere des Kellers führte. Von dort kam auch die Musik.

Der Beamte ging langsam neben ihr durch den dunklen Raum, immer wieder sicherten sie sich gegenseitig, bis sie den Durchgang erreichten und Claire einen Lichtschalter fand. Neonröhren erwachten flackernd zum Leben und als Claire sah, was der Mann, den sie suchten, hier unten installiert hatte, pfiff sie ein weiteres Mal durch die Zähne.

»Verflucht, das ist ein …«

»… Schießstand«, ergänzte sie leise und ging weiter, bis sie die erste Nische erreichte, in der ein Tisch mit Munition stand.

»Da ist Blut auf dem Boden«, sagte der Beamte. Claire bückte sich und betrachtete den Steinboden. Immer noch roch sie nassen Hund und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.

»Das ist nicht gut«, flüsterte sie und entdeckte in etwa zehn Metern Entfernung eine zerfetzte Zielscheibe.

»Warten Sie«, sagte sie und betrat die Bahn. Die Neonröhren warfen ein kaltes Licht auf die Szene, es roch muffig, und sie hörte den Widerhall ihrer Schritte in diesem seltsamen Raum. Sie erreichte die Papierfetzen auf dem Boden und hob sie auf.

Claire brauchte nicht lange, um zu verstehen, wer hier in Stücke geschossen worden war.

»Julie«, murmelte sie. Dann drehte sie sich zur anderen Bahn und entdeckte, dass dort ebenfalls ein Foto lag, allerdings nicht so zerfetzt wie jenes, das sie in der Hand hielt.

»Der hier konnte deutlich besser schießen«, sagte sie, während sie auf die fünf Löcher in der Stirn des Ziels starrte, alle Treffer eng beieinander.

»Scheiße«, murmelte sie, »ich fürchte, unser Mann ist bereits über alle Berge.«

Und er hat Nicolas in seiner Gewalt, dachte sie bei sich, und dieser Gedanke machte ihr Angst, eine Angst, die tiefer saß als alles, was sie bisher erfahren hatte.