Kapitel 6

Chausey, Normandie

Am nächsten Morgen

Die Nacht war dem blassen Morgenlicht gewichen, es war noch kühl und etwas windig. Das Wasser lag ruhig in der Bucht des Mont-Saint-Michel, kleine Wellen schwappten gegen die Felsen, und drei Delfine, die elegant durch das Wasser glitten, boten ein überraschendes Schauspiel. Ihr Schnattern erklang in der kalten Luft, ihre Finnen blitzten in der winterlichen Morgensonne, und ab und an stob das Wasser nach oben, wenn sie in waghalsigen Verrenkungen aus dem Meer schossen.

Die Chausey-Inseln lagen wie gemalt vor die Küste der Normandie, nur allzu bereit, bewundert und bestaunt zu werden. Und nur wer genau hinschaute, wer sich nicht täuschen ließ vom glitzernden Licht auf dem Wasser und von den bunten Segelbooten, die vor den weiß getünchten Häusern lagen, der konnte ahnen, dass dieser Tag bereits schief in seinem Rahmen hing, gehalten von einem einzigen Nagel im porösen Mauerwerk. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Bild aus der Fassung gleiten würde.

Aber die Einzige, die das an diesem Morgen hätte bemerken können, saß mit geschlossenen Augen vor einem Klavier und spielte einen Akkord in g-Moll. Hätte sie aus dem Fenster gesehen, hätte sie in der klaren Luft das Festland erahnen können, dort, wo die Felsen von Granville stoisch das kalte Wasser ertrugen, wo die ersten Fischer zurück in den Hafen kamen, wo die Besitzer der Souvenirläden ihre Auslagen sortierten und wo, genau wie sie, noch niemand ahnen konnte, was geschehen würde.

 

Die fein gespielten Töne eines alten, leicht verstimmten Klaviers, das schon zu lange in diesem feuchten Gemäuer stand, mischten sich mit dem Tanz der Möwen am Morgenhimmel. Nicht für Louise, die auf Chausey alle nur »la petite mouette« nannten, weil sie schon als Kind den Ruf der Möwen hatte nachmachen können, besser als jeder andere. Louise legte ihre inzwischen runzligen Finger auf die alten Tasten des Klaviers, das schon immer in der Kapelle auf dem Hügel gestanden hatte, der nicht viel höher war als die Häuser und den sie dennoch liebevoll »den Hügel« nannten.

Louise und Chausey waren eins, sie hatte all die Geräusche, den Wind, die Gezeiten in ihr Wesen aufgenommen. Diese Inseln waren ihre Heimat: Les Blainvillais und Poulpiquet, die kleinen Siedlungen entlang der großen Einfahrt zwischen den Felsen, der Sound. Die Villa Léonie, die Crabière, das alte Haus der Krebsfischer.

Louise begann wieder zu spielen, es war früh und noch sehr kalt, sie trug eine dicke Steppjacke über ihrem Wollmantel, ihre Füße steckten in warmen Stiefeln, ihre Finger taten ihr weh, es war das Alter – es stimmte, dass man das Alter spüren konnte.

Man wurde nicht weise, man wurde nur alt. Und wenn die Traurigkeit einmal gekommen war, dann ging sie nicht mehr fort. Jedenfalls nicht mehr seit dem, was passiert war.

 

Louise hatte bereits als kleines Kind an diesem Klavier gesessen, auf dem Schoß ihres Vaters, der nicht spielen konnte, aber der den Klang so sehr liebte. Sonntags, wenn mal wieder einer der Küster vom Festland nach Chausey gekommen war, für eine Messe, eine Taufe oder die Segnung eines neuen Fischerbootes, dann hatte sie mit ihrem Vater in der ersten Reihe gesessen und immer wieder verstohlen zum Klavier geblickt, an dem ein Ministrant aus Granville oder aus Villedieu-les-Poêles saß und spielte, unsicher und nicht sauber, aber er spielte, und die damals noch kleine Louise hörte zu und war verzaubert und verloren zugleich. Später hatte sie ihren Vater gebeten, mit ihr in der Kapelle zu bleiben und sich an das Klavier zu setzen, er hatte ihr anfangs auf die Finger geschlagen, zärtlich, wenn sie die Tasten berühren wollte, die schwarzen und die weißen. Irgendwann hatte er sie gelassen und seitdem spielte sie, Jahr für Jahr, nur für sich, wenn die Kapelle leer war und die Tagesgäste fort. Niemals hätte sie vor Publikum gespielt, sie hatte nie einen Sinn darin gesehen. Sie spielte für sich und für den Augenblick, sie hatte sich alles selbst beigebracht, mit den wenigen Heften, die ihr Vater ihr manchmal mitgebracht hatte, aus den Häfen entlang der Küste.

Der Tag, an dem er nicht mehr zurückgekommen war, weil ein Sturm das Boot einfach zertrümmert hatte, mit eiserner Faust, war ein Montag oder ein Donnerstag gewesen. Sie wusste es noch, weil es damals Croissants im Laden der Mutter gegeben hatte, und die gab es immer nur montags und donnerstags, wenn der Bäcker aus Granville sie frühmorgens mit dem Fährschiff mitschickte. Sie war zur Kapelle gelaufen und hatte gespielt, sie war keine zwölf Jahre alt gewesen und ihre Tränen waren schwer auf die Tasten gefallen. Der Regen hatte gegen die feuchten Mauern getrommelt und Louise hatte weitergespielt, bis jemand sie geholt hatte.

 

Jetzt holte sie schon lange keiner mehr. Sie waren alle gestorben oder fort, aufs Festland gezogen. Nur wenige waren geblieben, der alte Bitrac etwa, der ebenfalls an dieser Insel hing und an seinem alten Leuchtturm, wie die Muscheln an den Felsen.

Sie beide waren noch hier, dazu die Pellerecs, die das »Hôtel de la Marée« betrieben, einige Küchenhilfen und Zimmermädchen, aber die waren nur im Sommer da. Eine Handvoll Fischer natürlich, die zu alt waren, um auf dem Festland noch mal neu anzufangen. Alle anderen kamen morgens mit der ersten Fähre und fuhren abends mit der letzten zurück. Jetzt, im Winter, kam fast niemand oder blieb gar über Nacht.

Louise war das recht, sie hatte alles, was sie brauchte.

 

Sie hatte die Tür der Kapelle offen gelassen, die Sonne schien herein, zeichnete scharfe Kanten und helle Flecke auf die Bänke, auf den rauen Stein des Altars, sie beschien die Schiffsmodelle, die oben an der Decke hingen. Louises Haar war grau und doch fest und stark, sie hatte es zu einem Dutt zusammengebunden, sie wollte stets den Wind im Nacken spüren, wenn sie über ihre Insel ging, jeden Morgen, bevor sie den kleinen Laden aufschloss, in dem die Tagesgäste einkaufen konnten: Souvenirs, Getränke, Postkarten. Am Himmel schoben sich dünne Wolken über die Insel, ihre Finger begannen sich zu bewegen und sie summte dazu, ein altes Kinderlied, ihre Urgroßmutter hatte es ihr beigebracht, das Lied des kleinen Matrosen, der nie zuvor zur See gefahren war. »Il etait un petit navire …«

 

Die Melodie stolpert voran, einige Tasten waren hart, andere weich, es war ein Stampfen, ein Stöhnen, es war der Rhythmus dieser Insel. Chausey war genauso: wie ein verstimmtes Klavier. Und Louise konnte es besser spielen als jeder andere. Sie musste an den neuen Bäcker auf dem Festland denken, endlich gab es wieder einen, vor einem halben Jahr war er zum ersten Mal auf die Insel gekommen, er war ein Segen, nichts anderes. Es gab doch neues Leben, das war ein schöner Gedanke.

 

»Qui n’avait jamais navigué – ohé,ohé!«

 

Sie hörte ein Geräusch an der offenen Holztür der Kapelle. Auf der Schwelle stand eine Möwe, neugierig blickte sie zu Louise hinüber, ihr Schnabel pickte kurz gegen den Steinboden, sie schlug mit den Flügeln.

Louise lächelte.

»Na, bist du zum Zuhören gekommen?«

Sie schob ihre Brille etwas nach oben, seit Jahren schon waren ihre Augen schwächer geworden, ohne die Brille konnte sie nicht mehr spielen, was sie ärgerte, denn sie war eitel. Selbst mit über siebzig noch, oder vielleicht gerade deshalb.

 

»Ohé, Ohé, Matelot! Matelot navigue sur les flots.«

 

Sie räusperte sich, hustete kurz, dann sang sie weiter, erst leise, dann mutiger, lauter, und dabei konnte sie sehen, wie die Möwe einen Schritt zur Seite machte.

»Tanz, kleine Möwe, tanz für mich«, und tatsächlich trippelte der Vogel zur Seite, links und rechts, nach vorne, nach hinten, den Kopf gedreht, mit den Flügeln schlagend. Das weiße Gefieder glänzte in der Morgensonne. Die Möwe drehte sich um die eigene Achse, reckte den Schnabel nach oben und Louise spielte. Schneller, lauter, und mit einem Mal merkte sie, dass sie Tränen in den Augen hatte.

Weil das Leben sonderbar war.

Weil Chausey sonderbar war.

Und weil da ein Vogel war, auf der Schwelle der kleinen Kapelle, und er aussah, als würde er wirklich tanzen. Doch plötzlich flog die Möwe erschrocken davon, weil ein Schatten in die Kapelle fiel. Der Schatten gehörte zu einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Und der nicht auf diese Insel gehörte.

 

Es war der unabänderliche Lauf der Dinge. Jene, die wichtig werden würden, fanden sich plötzlich an einer bestimmten Stelle auf dem Spielfeld des Lebens wieder, an dem sie jeglicher Deckung beraubt waren.

Nicolas saß in einem frühen Zug in Richtung Normandie. Er sollte nicht hier sein, sondern an seinem Arbeitsplatz, an der Seite des Präsidenten. Das dachte er zumindest.

Roussel, der die Tür seiner Wohnung hinter sich zuzog, unrasiert und schlecht gelaunt, in der kalten Morgenluft von Deauville, sollte nicht hier sein, sondern im Bett mit einer Frau, die ausgezogen war, weil er ihr nicht hatte sagen können, dass er sie liebte. Das dachte er zumindest.

Der alte Tito lag in seinem Krankenbett, sein Geist verwirrt, sein Herz schwach. Er sollte nicht hier sein, dem Tod näher als dem Leben. Das zumindest dachte Julie, die an der Seite des alten Mannes auf einem Stuhl saß, während sie auf einen Zettel starrte, den Nicolas ihr hinterlassen hatte.

»Ruf mich an.«

Er sollte bei ihr sein, sie sollte bei ihm sein. Aber so war es nicht.

Weitere Menschen, weitere Spieler, waren ebenfalls an Orten, an denen sie nicht hätten sein sollen. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis alle ihre endgültigen Positionen würden eingenommen haben und das Spiel beginnen konnte.

Denn genau so hatte er es geplant.

Der Einzige, der genau dort war, wo er hingehörte.

Mit einem feinen Lächeln und dem Wissen, dass nur er allein es war, der die Spielfiguren bewegte.

Er machte die Regeln. Und sie alle würden verlieren.

Sie würden fallen, zerschellen, drüben an den Felsen von Chausey, der Insel, die sich vor ihm aus dem Wasser erhob und auf der eine alte Frau jetzt zögerlich ihre Hände von den Tasten nahm und den Mann ansah, der soeben die Kapelle betreten hatte.

»Spielen Sie ruhig weiter«, sagte der Besucher und setzte sich in die letzte Reihe. Und erst jetzt sah Louise aus dem Fester, hinaus in den Himmel über Chausey und auf das Meer, das die Insel mit festem Griff umschloss.

Es war zu still.

Genau so still wie damals, dachte sie und spürte, wie ihre Brust eng wurde, wie jedes Mal, wenn sie sich an jenen Tag erinnerte. Es war so still gewesen.

Es war lange her. Und doch würde dieses Gefühl für immer bleiben.

Louise sammelte sich, legte ihre Finger wieder auf die Tasten und begann zu spielen.

So wie sie es immer getan hatte, wenn etwas sie bedrückte.