Kapitel 6

 

»Ein Toast! Auf den Drachen!« »Auf Lord Lu Tung!« »Rebellenabschaum!« »Sohn einer schielenden Konkubine!«

Mit einem unartikulierten Wutschrei stürzte sich ein junger Pai-Krieger auf einen anderen. Die beiden Männer rangen inmitten einer chaotischen Masse aus gepolsterten Kissen, umgekippten Schüsseln, überreizter Adliger und spärlich bekleideter Dienstmädchen miteinander. Will Riker hatte es sich auf einer Chaiselongue aus Plüschsamt zwischen dem Erben und seinem jüngeren Bruder, dem schwarzen Schaf der Familie, bequem gemacht und zog den Kopf ein, als die beiden Streithähne, in ihrem Ringkampf eng umschlungen, sich in seine Richtung warfen. Sie flogen über ihn hinweg und prallten gegen die Wand hinter ihm. Die beiden verhedderten sich in den Satinwandbehängen, kämpften aber weiter und schlugen und traten um sich. Kan-hi schien es gleichgültig zu sein, welchen Ausgang der Kampf nahm, und rettete eine Flasche Wein vor den wild um sich dreschenden Gliedmaßen.

»Trinken Sie noch ein Glas, mein lieber Riker«, sagte der Zweite Sohn.

Die Vorletzte Bestäubung des ungezähmten Samens erinnerte den Ersten Offizier an einige der wilderen Feiern, an denen er auf der Vergnügungswelt Risa teilgenommen hatte. Über ein Dutzend junge Männer hatten sich in eine Zimmerflucht gezwängt, die anscheinend Chuan-chi gehörte. Die einzelnen Räume wurden von Wandschirmen aus Papier voneinander getrennt, die mit durchsichtigen, unterschiedlich gefärbten Stoffen verhangen waren. Die Feiernden flegelten sich auf großen Polstern, die überall verteilt lagen, während sich lächelnde Dienstmädchen, lediglich mit schmalen Streifen aus durchsichtiger Gaze bekleidet, geschmeidig durch die Party schlängelten, Wein nachschenkten, Leckerbissen auf kleinen Porzellantellern reichten und, manchmal erfolglos, die grapschenden Hände der wüsten Junggesellen abzuwehren versuchten. Nach den üppigen Gewändern, die auf dem Bankett getragen worden waren, einschließlich der hochgeschlossenen der Musikerinnen, empfand Riker diese großzügige Zurschaustellung weiblicher Haut einerseits als angenehme Überraschung, andererseits aber auch als möglicherweise gefährliche Abwechslung. Er musste darauf achten, dass die verlockenden Reize der weiblichen Pai ihn nicht von seiner eigentlichen Pflicht ablenkten: die Söhne des Drachen vor dem Attentäter zu schützen – und vor sich selbst.

Er ließ sich von Kan-hi nachschenken und dankte Beverly im Geiste, dass sie ihn gegen die Wirkung des Alkohols immun gemacht hatte. Der Wein war smaragdgrün, leicht erhitzt und ziemlich stark. Er spürte, wie das Gebräu sich seine Kehle hinabbrannte. Der Alkoholdunst, der aus dem Kelch emporstieg, versengte seine Nase und ließ die Augen tränen. Angesichts der Schnelligkeit, mit der der Wein floss, vermutete Riker, dass er bereits der einzig Nüchterne auf der Party war. Er blinzelte Tränen aus den Augen, grinste dem Zweiten Sohn zu und zeigte auf die Streithähne, die knapp einen Meter entfernt auf dem Boden aufeinander einschlugen. »Sollten wir sie nicht voneinander trennen?«

Kan-hi zuckte mit den Achseln. »Warum sich die Mühe machen? Sie werden die Sache bald geklärt haben, so oder so. Und dann wird es die nächste Schlägerei geben.«

Riker musste ihm beipflichten. Trotz der luxuriösen Umgebung kam ihm die Situation sehr explosiv vor. Diese aristokratischen jungen Krieger waren empfindlich und jederzeit zu einer Auseinandersetzung bereit, und der gerade beendete Bürgerkrieg schien noch einiges böses Blut – und lange schwelenden Groll – unter der ausschweifend guten Stimmung zurückgelassen zu haben. Dazu noch reichhaltige Mengen Wein, und Riker sah Ärger aufziehen. Man brauchte keinen vorsätzlichen Attentäter, um Gewalt auszulösen; diese Gruppe an sich war vielleicht imstande, einen Erben oder auch beide umzubringen.

»Es ist wirklich eine barbarische Tradition«, sagte Chuan-chi verächtlich. »Aber ich fürchte, wir müssen es einfach ertragen, Commander Riker. Meine erste Feier dieser Art vor vielen Jahren war genauso ärgerlich.«

»Das ist Ihre zweite Ehe, Sir?«, fragte Riker.

»Meine ehrenwerte erste Frau erlag vor mehreren Jahren einem Fieber«, erklärte Chuan-chi. »Es war ziemlich verantwortungslos von ihr, aber man kann sich eben nur selten auf eine Frau verlassen.«

Riker wusste nicht genau, was er darauf erwidern sollte. Zum Glück unterbrach das Eintreffen eines weiteren Dienstmädchens ihr Gespräch und ersparte es ihm, sofort antworten zu müssen. Die Frau, die nur mit einem schmalen Streifen safrangelber Gaze um die Hüften bekleidet war, kniete vor den drei Männern nieder und bot ihnen frische Scheiben einer türkisfarbenen Frucht an, die Riker unbekannt war. Ihre Saphiraugen unter den dichten schwarzen Lidern schauten neugierig zu Riker hinüber. Er erwiderte ihren Blick mit offener Bewunderung.

»Finden Sie ihren Anblick angenehm?«, fragte Kan-hi. Riker entdeckte weder Eifersucht noch Groll in seiner Stimme.

»Sehr«, erwiderte er ehrlich und nahm von den schlanken Fingern der Frau eine grünlich-blaue Scheibe entgegen. »Die Frauen Ihrer Welt sind sehr attraktiv.«

»Ach, das ist nur der äußere Harem meines Bruders, und diese Frauen sind nur Dienerinnen. Sie sollten seine privaten Konkubinen sehen«, erwiderte Kan-hi. »Aber das ist natürlich unmöglich. Kein anderer Mann darf sie je zu Gesicht bekommen. Es heißt, nur die Frauen meines Vaters wären schöner.« Der Zweite Sohn hielt kurz inne, und ein ungewöhnlich ernster Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Doch keine andere Frau kann sich mit der Grünen Perle vergleichen. Ihre Anmut und Schönheit sind unvergleichlich, und ihr Herz …« Nun wurde die Stimme des Prinzen zu einem Flüstern, und ein verträumter Blick legte sich in seine Augen. »Ihr Herz ist ein größerer Schatz als der Drachenthron selbst.«

Ein lauter, dumpfer Schlag verkündete das Ergebnis des trunkenen Kampfes hinter ihnen. Der siegreiche Pai erhob sich – er hatte ein blaues Auge abbekommen und blutete aus der Nase –, zog sein Gewand zurecht und ließ seinen bewusstlosen Widersacher ausgestreckt auf dem Boden liegen. Mit großer Würde nahm er auf einem leeren Polster gegenüber von Riker Platz, während drei reizende, fast nackte Dienerinnen sich bereits mit weichen, erwärmten Tüchern und zärtlichen Liebkosungen um seine Verletzungen kümmerten. Eine andere Frau tippelte auf kleinen, nackten Füßen leise zu dem Besiegten hinüber, um nach ihm zu sehen, während die Herrin der türkisfarbenen Frucht davonschlüpfte und dabei einen letzten Seitenblick auf Riker warf. Der Erste Offizier musste sich nachdrücklich daran erinnern, dass er noch im Dienst war.

Die hektische Aktivität riss Kan-hi aus seiner offensichtlichen Träumerei. Er schüttelte den Kopf, als wolle er ihn von einer hartnäckigen, unwillkommenen Vision klären. »Verzeihen Sie mir, Commander. Ich habe zuviel getrunken. Ich habe mich vergessen.« Seine Stimme nahm wieder den üblichen unbeschwerten Tonfall an. »Aber sagen Sie, wie sind die Frauen der Föderation im Vergleich zu den unseren?«

»Nennen Sie mich Will«, bot er dem Prinzen an. »Falls eine Frage je nach einer diplomatischen Antwort verlangte, dann diese. Sagen wir einfach, auf den vielen Welten, aus denen die Föderation besteht, habe ich bezüglich des anderen Geschlechts immer viel gefunden, das Anlass zur Bewunderung gibt.«

Kan-hi lachte. »Das habe ich mir gedacht. Nach der Vertragsunterzeichnung bietet sich mir vielleicht die Gelegenheit, noch viel mehr Ihrer Frauen kennenzulernen und mich selbst davon zu überzeugen, wie diplomatisch Sie waren.«

»Falls der Vertrag unterzeichnet wird«, sagte der Erbe brüsk. Die Verachtung in seiner Stimme ließ sich unmöglich ignorieren, also versuchte Riker es erst gar nicht.

»Ich nehme an, Sir«, sagte er, »Sie missbilligen die Absicht Ihres Vaters, das Drachenreich mit der Föderation zu verbinden?« Vielleicht war es noch möglich, dachte er, die Befürchtungen des Erben über den Vertrag zu zerstreuen und ihn auf die Seite der Föderation zu ziehen. Der Versuch konnte auf keinen Fall schaden; schließlich würde Chuan-chi eines Tages selbst der Drache sein, vorausgesetzt, die G'kkau zerstörten das Reich nicht vorher.

»Ich würde bezüglich der Absichten des Kaisers nicht so sicher sein«, sagte Chuan-chi. »Mein törichter junger Bruder ist zweifellos ganz versessen darauf, von fremden Frauen und anderen Einflüssen korrumpiert zu werden, doch der Drache ist über so heimtückische Versuchungen erhaben. Er wird dafür sorgen, dass das heilige Schicksal des Drachenreichs sich nicht in einem Netz von äußeren Verwicklungen verfängt.«

»Müssen wir uns etwa hinter unseren Grenzen verstecken wie eine Schildkröte, die Angst hat, den Kopf unter dem Panzer hervorzuschieben?«, forderte Kan-hi seinen Bruder heraus. »Da draußen wartet ein ganzes Universum auf uns, voller neuer Ideen und Gelegenheiten! Sollen wir einfach so tun, als gäbe es all diese anderen Welten gar nicht? Erwartest du etwa, dass sie sich immer damit zufriedengeben werden, so zu tun, als gäbe es uns nicht?«

Die G'kkau ganz bestimmt nicht, dachte Riker. Es war die reinste Ironie und mehr als nur ein kleines Problem, dass der Vertrag von der Ehe des Pai-Adligen abhing, der die größten Vorbehalte dagegen hatte. Zu schade, dass Kan-hi, der dem Anschluss gegenüber offensichtlich viel offener eingestellt war, nur der Zweite Sohn war. Ich kann mir ganz genau vorstellen, wie die Romulaner diese Sache handhaben würden, grübelte er reumütig. Sie würden sowohl den Drachen als auch den Erben ermorden und eine Marionettenregierung unter Kan-hi etablieren. So ging die Föderation natürlich nicht vor, aber er fragte sich, ob auch die G'kkau zu solch einer Raffiniertheit imstande waren. Konnte Kan-hi mit den G'kkau unter einer Decke stecken? Er wollte es nicht hoffen; er mochte den spitzbübischen jungen Prinzen viel lieber als den Erben, der ihm wesentlich verdrossener veranlagt zu sein schien.

»Wie du selbst, mein lieber Bruder, noch vor ein paar Minuten klargestellt hast«, sagte Chuan-chi grinsend, »gibt es keinen Schatz im Himmel oder auf Erden, der sich mit der Grünen Perle vergleichen kann. Warum sollte ich mir also wünschen, die ungesunden Vergnügungen der Föderation zu kosten? Andererseits, mein Bruder, hast du, wie es aussieht, wohl nichts besseres zu tun.«

Mordlust blitzte in Kan-his Augen auf. Er ballte an seinen Seiten die Hände zu Fäusten. Riker bemerkte, dass die Fingernägel des Zweiten Sohns kürzer waren und eine praktischere Länge hatten als die vieler anderer Adliger der Pai, einschließlich des Erben. Er vermutete, dass Kan-hi ein aktiveres Leben als die meisten Bewohner des Palasts führte. Im Augenblick schien er jedoch drauf und dran zu sein, zu aktiv zu werden. Riker hatte den Eindruck, dass Kan-hi kurz davor stand, dem Erben seine manikürte Faust ins Gesicht zu schmettern. »Du widerwärtiger Abschaum von einem Pai!«, knirschte er. »Wärest du nicht mein Bruder …«

»Wäre mir zumindest ein peinliches Verwandtschaftsverhältnis erspart geblieben«, beendete Chuan-chi den Satz für ihn. »Und auch eine Schande für die Ehre unserer Erblinie.« Er verschränkte die Arme vor der Brust; offensichtlich befürchtete er nicht, dass sein Bruder sich zu einer Gewalttat hinreißen ließ. Riker stellte fest, dass seine Fingernägel jeweils über sechs Zentimeter lang waren. Zehn goldene Ringe, ein jeder einen anderen kostbaren Edelstein umfassend, schmückten seine Finger. Er hielt das Kinn hoch, als wolle er einen Angriff herausfordern. Während Kan-hi vor Wut zu kochen schien, wirkten Chuan-chis hochmütiges Gehabe und erstarrte Haltung kalt wie Eis.

Riker hatte die wachsende Spannung zwischen den beiden Prinzen nicht als einziger bemerkt. Überall im Raum drehten die Gäste die Köpfe, um die Konfrontation zu verfolgen, und der überreichlich fließende Wein und die Frauen schienen in Vergessenheit geraten zu sein. Die Stimmung in der Suite war plötzlich angespannt und erwartungsvoll und drohte jeden Augenblick zu explodieren. Riker war in genug Kneipenschlägereien verwickelt gewesen, ganz zu schweigen von klingonischen Zusammenkünften, um zu wissen, dass sich hier Ärger zusammenbraute. Er hatte keine Ahnung, welche der versammelten Krieger den Erben unterstützten und welche zu Kan-hi hielten, spürte aber, dass eine Massenschlägerei mit möglicherweise tödlichem Ausgang drohte. Seine rechte Hand näherte sich dem Phaser, doch dann zögerte er. Trug irgendeiner der Pai eine Energiewaffe? Er wollte in diesem engen Raum keinen Schusswechsel anzetteln, nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

»Wie kannst du es wagen, meine Ehre in Verruf zu bringen?«, brüllte Kan-hi.

»Ehre? Welche Ehre?«, sagte Chuan-chi. Kalte Verachtung troff aus jeder Silbe, die über seine Lippen kam. »Dein Ungehorsam und deine Respektlosigkeit entehren unseren Vater, deinen Kaiser. Und deine Vorliebe für Allianzen mit fremden Reichen riecht nach Verrat an den Prinzipien des Drachenreichs!«

»Ich werde dir zeigen, was Verrat ist!«, sagte Kan-hi und sprang auf. Doch zu viel Wein hatte sein Gleichgewicht beeinträchtigt, und die plötzliche Bewegung ließ ihn heftig an Ort und Stelle schwanken. »Ich bring dich um«, schwor er, während er versuchte, den Blick auf seinen verhassten Halbbruder zu konzentrieren. Riker nutzte die kurze Desorientiertheit des Prinzen, um endlich einzugreifen. Er stellte sich zwischen Kan-hi und den Erben.

»Meine Herren, meine Herren«, sagte er so laut, dass alle ihn hören konnten. »Verschwenden wir unsere Zeit doch nicht mit einem Streitgespräch über die Politik. Das soll eine Party sein, zu Ehren des Drachenerben und seiner bevorstehenden Hochzeit.« Er hörte, wie Kan-hi rechts leise und wütend etwas murmelte. Der junge Prinz machte einen Schritt in Richtung seines Bruders, nur um ruhig, aber energisch von Riker zurückgedrängt zu werden. Interessant, dachte der Erste Offizier. Kan-hi reagiert empfindlich, was die Hochzeit betrifft. Ich frage mich, warum …

»Lassen wir uns dieses freudige Ereignis doch nicht verderben. Vor allem, da so viele hübsche Damen anwesend sind. Wo ich herkomme, gibt es ein uraltes Sprichwort: ›Macht Liebe, nicht Krieg.‹« Riker ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er hatte die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Noch immer war eine gewisse Spannung zu spüren, doch zumindest machte niemand mehr Drohgebärden. Es war noch möglich, den Kampf abzuwenden. Er hielt ein Auge auf Kan-hi gerichtet, bückte sich und hob schnell seinen Kelch vom Boden auf. »Wein für alle!«, rief er, und wie ein Flaschengeist tauchte vor ihm eine einnehmende junge Frau auf, die nur zwei strategisch platzierte Perlenketten trug, und schenkte ihm nach. Sie war kaum fertig, als er schon den Kelch hob. »Einen Toast«, erklärte er, »auf die Liebe.«

Noch unpolitischer kann man nicht sein, dachte er. Wer hat schon etwas gegen die Liebe einzuwenden?

Außer einem Vulkanier vielleicht …

Einen Moment lang, der sich wie eine Ewigkeit dahinzog, fiel niemand in seinen Trinkspruch ein. Dann hob zu Rikers Erleichterung und Überraschung auch Kan-hi seinen Becher. »Auf die Liebe«, sagte der Zweite Sohn verdrossen. Sein Zorn schien für den Augenblick abgestumpft zu sein, und er ließ sich langsam auf das wartende Kissen hinab und rieb sich mit der freien Hand die Stirn. Riker richtete seine Aufmerksamkeit auf Chuan-chi. Der Drachenerbe blieb zuerst so steif – und in etwa so fröhlich – wie eine Marmorstatue. Sein Gesicht war eine erstarrte Maske absoluter, auf seinen Bruder gerichteter Verachtung. Nachdem jedoch offensichtlich war, dass Kan-hi nicht über seinen Bruder herfallen würde, entspannte Chuan-chis Gestalt sich leicht unter seinem Gewand. Bilde ich es mir nur ein, dachte Riker, oder scheint er leicht enttäuscht zu sein? Suchte der Erbe vielleicht nur nach einer Entschuldigung, um seine Männer auf den Zweiten Sohn zu hetzen? Riker war sich nicht ganz sicher, nicht einmal, während er beobachtete, wie der Erbe mit einer fließenden Bewegung nach seinem goldbeschlagenen Becher griff. »Auf die Liebe«, sagte er und gähnte verdächtig ausgiebig.

Der Toast des Erben klang zwar alles andere als begeistert, schien jedoch das Ende der derzeitigen Spannungen einzuleiten. Überall im äußeren Harem des Prinzen wurden Stimmen und Becher zum Lob auf die Liebe gehoben, wenngleich der verkniffene Ausdruck vieler Gesichter die nun wieder etwas gelöstere Stimmung Lügen strafte. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass viele der heißblütigen Krieger, die nun gute Miene zum bösen Spiel machten, sich um eine ordentliche Prügelei betrogen sahen. Riker hatte die Explosion nur verzögert, nicht verhindert. Selbst jetzt funkelte nur ein paar Meter entfernt der Sieger der vorherigen Rauferei, der ein blaues Auge davongetragen hatte, Riker mit unverhohlener Feindseligkeit an. Seine zentimeterlangen, nun mit getrocknetem Blut verklebten Fingernägel klackten mit einem bedrohlichen Geräusch gegeneinander. Riker vermied es absichtlich, Blickkontakt mit dem Krieger herzustellen, da er befürchtete, sein Gegenüber könne dies als Herausforderung auffassen. Wir sind hier, um Freunde zu gewinnen und Menschen zu beeinflussen, mahnte er sich, und nicht, um jemandem Vernunft einzuprügeln.

Riker gab sich so gelassen wie nur möglich und ließ sich auf den Plüschsamtdivan fallen. Das weiche Polster gab unter seinem Gewicht nach, als er sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zwischen die Prinzen setzte. Unter seiner roten Starfleet-Galauniform schmerzten Nacken und Schultern leicht aufgrund der Anstrengung, seine Wachsamkeit zu bewahren – und zu verbergen. Er griff über die Schulter zurück, um seinen Nacken zu massieren, nur um von dem sanften Griff geschickter Hände überrascht zu werden, die dort bereits einige verspannte Muskeln kneteten. Starke Finger bearbeiteten sein Fleisch durch die Uniformjacke, und Riker erblickte aus den Augenwinkeln türkisfarbene Fingernägel. »Was …?«, rief er überrascht, aber keineswegs betrübt über diese plötzliche Wendung der Ereignisse.

Als er über die Schulter schaute, sah er, dass die Herrin der türkisfarbenen Frucht zurückgekehrt war, diesmal aber mit ihren zarten Zuwendungen als einziger Erfrischung. Sie drückte ihren Körper sanft gegen seinen Rücken, und ihr blaugrüner Lippenstift schimmerte noch feuchter als zuvor. Sie hielt den Blick gesenkt und sah ihn nicht an, doch ein Lächeln hob ihre Mundwinkel, als er sie erfreut anstrahlte. Das gefällt mir schon besser, dachte er.

»Hah!«, lachte Kan-hi, dessen Laune sich allmählich wieder besserte. »Ich glaube, Sie haben eine Eroberung gemacht, Commander … Will, meine ich.«

Chuan-chi schnaubte lediglich missbilligend. Vielleicht, dachte Riker, hielt er auch die Dienerin mit den türkisfarbenen Fingernägeln für eine Verräterin am Isolationismus der Pai. Zu schade. Na ja, wenigstens mache ich mir hier ein paar Freunde. Oder Freundinnen.

Riker betrachtete die feingeschnittenen Gesichtszüge der Frau. Sie war wirklich sehr attraktiv und exotisch. Falls, wie Kan-hi zuvor behauptet hatte, diese Schönheit nach den Maßstäben der Pai nicht besonders bemerkenswert war, musste man sich fragen, wie umwerfend erst die vielgepriesene Grüne Perle war. Konnte sie wirklich so schön sein, dass sie diesem vom Krieg zerrissenen Planeten den Frieden brachte? Oder das verdrossene Herz des Drachenerben erwärmte? Er wurde immer neugieriger darauf, die Braut bei der morgigen Hochzeit endlich zu Gesicht zu bekommen.

Mittlerweile übten die Hände der Frau weiterhin ihre besänftigende Magie auf seinen Nacken und die Schultern aus und lösten mit ihrer Massage den Stress und die Anspannung, die er verspürt hatte. Sei lieber auf der Hut, mahnte er sich, oder du wirst zu entspannt sein, um die Prinzen noch bewachen zu können. Trotzdem schloss er ein paar Sekunden lang die Augen und ließ seinen Körper in den geschickten Verwöhnungen der jungen Frau schwelgen.

Doch er wäre fast aus der Haut gefahren, als er spürte, wie zwei weitere Hände sinnlich über seine Brust glitten und sich den Weg unter die Falten der Galauniform bahnten. Er riss die Augen auf und den Kopf herum und sah, dass eine weitere Dienerin – diejenige, die nur mit Perlenketten bekleidet war – vor ihm kniete und seinen Oberkörper streichelte, während die Hände ihrer Kollegin mittlerweile sein Rückgrat hinauf und hinab glitten. Im Gegensatz zu dem blauäugigen Mädchen mit dem Pferdeschwanz hinter ihm hatte diese Frau gewelltes, pechschwarzes Haar, das bis über ihre Schultern floss, und große, purpurfarbene Augen, die wie Amethyste aussahen. Eine Kette mit winzigen silbernen Perlen baumelte über den üppigen Brüsten der Frau, während eine zweite ihre schmale Taille umgab. Als sie sich näher zu ihm beugte, rollten die Perlen über ihre nackten Hüften. Riker starrte die Verstärkung aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Bart war nur ein paar Zentimeter von ihren bleichen weißen Brüsten entfernt, und ihr angenehm duftendes Parfum füllte seine Nase mit dem Geruch frischer Blumen. Der Erste Offizier musste feststellen, dass er vorübergehend sprachlos war. Das sind aber wirklich kleine Perlen, dachte er.

Amüsiert über Rikers Dilemma, hatte Kan-hi einiges zu sagen. »Die Dienerinnen meines Bruders scheinen sehr von Ihnen eingenommen zu sein, Will Riker. Offensichtlich darf man nicht die Wirkung unterschätzen, die etwas Neues auf die feine Empfindsamkeit einer Frau ausübt. Damit möchte ich Ihre Anziehungskraft natürlich nicht herabwürdigen, die bestimmt ganz beträchtlich ist.« Der Zweite Sohn kicherte, während er beobachtete, wie die anziehenden Dienerinnen sich um Riker schlangen, ihn mit weicher, warmer, vollbusiger weiblicher Haut einhüllten. »Ich hoffe, Sie haben Ihren Spaß?«

Türkisfarbene Lippen streiften sein Ohr, als die erste Frau die linke Seite seines Halses liebkoste. Perlen raschelten verführerisch, als die andere Frau die rechte Seite küsste und dabei so leise wie ein Tribble schnurrte. »Ich bin … äh … überwältigt von ihrer Gastfreundschaft«, keuchte er. Die Sache gleitet mir aus der Hand! Er fragte sich, wie er sich buchstäblich als auch in übertragenem Sinne von den allzu ablenkenden Aufmerksamkeiten der Frauen befreien konnte. Es war ein Glück, dass Deanna nicht mitgekommen war; er hätte bestimmt etwas zu hören bekommen.

 

Zwei extrem große Männer bewachten den breiten Torbogen vor Beverly Crusher. Riesige Krummsäbel ruhten auf ihren Schultern, während an den Schärpen um ihre Hüften irgendwelche Energiewaffen hingen. Beide blickten stur geradeaus und ließen sich keinen Augenblick lang von der ihnen zugewiesenen Aufgabe ablenken. Der eine stand auf der rechten, der andere auf der linken Seite des Eingangs stramm. Die Türöffnung wurde von einem atemberaubenden Jadebogen bedeckt, der mit detaillierten Gravuren geschmückt war, die Männer und Pferde zeigten. Beverly blieb stehen, um die Verzierungen zu betrachten; soweit sie es sagen konnte, stellten sie den Aufstieg und Fall eines ehrgeizigen Kriegsherrn dar. Ob es sich nun um eine mythische oder historische Geschichte handelte, jedenfalls erinnerte sie an Lord Lu Tungs vor kurzem niedergeschlagene Rebellion gegen den Kaiser. Die Ärztin schaute zu dem stämmigen Mann mittleren Alters hinüber. Wie es der Tradition entsprach, ging er ein paar Schritte vor ihr.

»Der Drache hat mir in seiner Großzügigkeit ein Quartier im Kaiserlichen Palast zur Verfügung gestellt«, erklärte Lu Tung. »Das ist der Eingang zu meinem Harem, in dem meine Tochter bis morgen wohnen wird.«

»Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen, Lord Lu Tung«, sagte Beverly. Sie fragte sich, ob der Kaiser Lu Tung absichtlich diese Räume unter der eingravierten Sage des durchkreuzten Ehrgeizes zugewiesen hatte. Vielleicht eine nicht besonders subtile Botschaft – und eine permanente Beschuldigung? Sie gingen unter dem Torbogen her und ließen die Wachen zurück.

Lu Tungs Harem erwies sich als überraschend geräumig. Beverly stellte fest, dass der Rebellenlord trotz der warnenden Gravuren am Eingang wohl kaum in den Tower von London verbannt worden war. Der Korridor, durch den sie gingen, kam ihr unendlich lang vor, und die Mischung aus schwacher Beleuchtung und Wolken bunt gefärbten Weihrauchs erschwerten es zusätzlich, das andere Ende auszumachen. In einer betörenden Vielfalt von Farben gestrichene Türen öffneten sich auf beiden Seiten des Gangs zu einer Vielzahl von Räumen. Beverly spähte durch einige Türöffnungen, als sie an ihnen vorbeiging, und erhaschte kurze Blicke auf üppiges Mobiliar und vergoldeten, luxuriösen Dekor. Zahlreiche Frauen, alle betörend schön und mit langen, eleganten Gewändern bekleidet, schritten hin und her und verbeugten sich bis auf den Boden, als sie ihren Herrn erblickten. Obwohl die Gewänder oberflächlich dem Beverlys ähnelten, stellte sie fest, dass sie an den Seiten höher geschlitzt und vorn tiefer ausgeschnitten waren. Sie rief sich in Erinnerung zurück, dass es sich schließlich um einen Harem handelte.

»Hier scheinen sich ja sehr viele Frauen aufzuhalten«, sagte Beverly fasziniert. »Wohnen sie alle hier?«

»Natürlich«, erwiderte Lu Tung. Beverly betrachtete seinen Hinterkopf und wünschte sich, seinen Gesichtsausdruck beobachten zu können. Sie hoffte, nicht zu aufdringlich zu sein. »Das sind eigentlich alles nur Dienerinnen.«

Für Dienerinnen schienen die Frauen nicht allzu viel zu tun zu haben und nur durch die äußeren Bereiche des Harems gleiten zu müssen. Ihre verschwenderischen, kostspielig aussehenden Gewänder schienen im Übrigen ausgesprochen schlecht für Hausarbeit oder andere praktische Pflichten geeignet zu sein. Aber diese Frauen konnten keine ausschließlich dekorative Funktion haben – oder etwa doch? »Ihre Dienerinnen sind außergewöhnlich attraktiv«, sagte sie.

»Sie dienen hauptsächlich zur Trennung meines inneren Harems von der Außenwelt«, erklärte Lu Tung.

»Ich verstehe«, sagte sie, als ihr endlich ein Licht aufging. »Nur für den Fall, dass jemand an den Palastverteidigungen und den Männern mit den Schwertern vorbeikommt.«

»Genau«, sagte er. »Auf diese Weise werden die Eindringlinge abgelenkt und nicht an meine Tochter oder Konkubinen herankommen, bevor ich eingreifen kann. Ich kümmere mich sehr gut um all meine Frauen.«

Beverly konnte Lu Tungs Gesicht zwar nicht sehen, doch seine Stimme klang aufrecht. So verzogen und von sich eingenommen die Männer der Pai auch sein mochten, der Lord kam Beverly anständig vor. Bislang hatte er sie respektvoll behandelt und keine ungehörigen Annäherungsversuche gemacht, obwohl sie sich nun ohne Begleitung in seinem Harem aufhielt. (Beverly litt nicht unter falscher Bescheidenheit. Sie wusste, dass sie in ihrem pfirsich- und smaragdfarbenen Gewand umwerfend aussah.) Aber das hieß noch lange nicht, mahnte sie sich, dass Lu Tung nicht für den Anschlag während des Banketts verantwortlich war. Man konnte ritterlich sein und trotzdem planen, einen Thron zu erobern; die klingonischen Legenden besagten, dass sogar der grausame Kahless den Frauen und Kindern seiner Feinde Gnade erwiesen hatte. Als langjähriger Feind des Drachen musste Lu Tung auf der Liste der Verdächtigen ganz oben stehen.

»Ist Ihre Tochter in der Nähe, Lord Lu Tung?«, fragte die Ärztin.

»Auf meine Anweisung hin hält sie sich heute Abend im Raum der Anhaltenden Erwartung auf.«

»Hoffentlich hält diese nicht zu lange an«, scherzte Beverly.

»Keineswegs«, erwiderte Lu Tung. »Wir sind da.« Im Gegensatz zu den anderen Türen, an denen sie vorbeigegangen waren, war diese geschlossen und wirkte undurchdringlich. Aquamarinblaue Verzierungen umgaben ein rechteckiges Metalltor, das breit genug war, um zwei Leute nebeneinander durchzulassen, wäre die massive schwarze Tür nicht gewesen, die ihnen den Weg versperrte. Beverly berührte das dunkel gefärbte Metall mit den Fingern; es fühlte sich wie reines Eisen an. Ein geprägter Drache von mindestens sechs Metern Höhe bewachte die Tür, auf deren Balken ihr unbekannte chinesische Schriftzeichen gemalt waren. Die Ärztin konnte die türkisfarbene Kalligraphie nicht lesen, vermutete aber, dass sie zusammen mit dem grimmigen Drachen so etwas wie ›Kein Zutritt!‹ bedeutete. Sie zog mit den Fingern den Umriss der scharfen Zähne des Drachen nach. Zwei in das Metall eingelassene funkelnde Rubine bildeten die Augen.

»Verzeihung, Doktor«, sagte Lu Tung und trat zwischen sie und die Eisentür. Er hielt die rechte Hand vor die Augen des Drachen. »Lord Lu Tung und ein Gast«, sagte er laut. »Zutritt für zwei Personen.«

Zu Beverlys Überraschung bewegten sich die Juwelenaugen des Drachen.

 

Zwei feuchte Lippenpaare knabberten an Rikers Ohren. Vier schmale Hände wühlten unter den Falten seiner Galauniform.

»Wenn Sie es vorziehen«, sagte Kan-hi eifrig, »können wir für Sie und Ihre neuen Bewunderinnen bestimmt ein Privatgemach auftreiben. Nicht wahr, Bruder?«

Chuan-chi reagierte lediglich gelangweilt, obwohl zwei seiner Frauen praktisch über Riker hinwegkrochen. »Natürlich«, sagte er. »Es ist des Kaisers Wunsch, dass wir Ihnen jede Höflichkeit erweisen.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass die Wünsche des Erben sich beträchtlich von denen seines Vaters unterschieden. Aber das war Riker gleichgültig. Er durfte sowieso nicht zulassen, dass dieses amouröse Pärchen ihn von den Prinzen trennte, für deren Schutz er verantwortlich war. Ich hoffe nur, dass Captain Picard mein Pflichtgefühl zu schätzen weiß.

»Vielleicht ein andermal«, sagte er und versuchte, die Frau mit der Perlenkette sanft von seinem Gesicht wegzuschieben. »Nicht, dass Ihr … Personal nicht bezaubernd wäre, aber ich würde heute Abend die Ehre Ihrer Gesellschaft vorziehen.«

Kan-hi war nicht überzeugt. »Aber was ist mit Ihrem Wunsch, Liebe und keinen Krieg zu machen?«

»Das ist nur so ein Spruch.« Als Riker sich auf die Füße kämpfte, rutschte das Mädchen mit den Perlen von seinem Schoß. Er spürte, dass die andere Frau an seinen Schultern hing; ihre lackierten Zehennägel streiften kaum den Boden hinter ihm. »Vielen Dank, Miss, doch … Ich bin sehr geschmeichelt, aber … entschuldigen Sie bitte …« Mit beiden Händen löste er die Frau so höflich von ihm, wie es ihm nur möglich war, bis er plötzlich allein dastand – und von der einen Hand ein safrangelbes Band baumelte und sich um die Finger der anderen eine Perlenkette geschlungen hatte. »Huch«, sagte er schwach.

»Hund!«, schrie eine wütende Stimme. »Schänder der Pai-Frauen!« Der Ruf kam von dem Krieger mit dem blauen Auge, der auf Riker zusprang. In seinem unverletzten Auge loderte Zorn, und in seiner Stimme schwang moralische Entrüstung. Der Erste Offizier hatte gar nicht mitbekommen, wie riesig der Mann war. Sein Schädel schien so groß wie der eines Bullen zu sein, seine Fäuste hatten den Umfang von Horta-Babys. Er wog mindestens drei Zentner, die Gewänder gar nicht berücksichtigt. Riker wusste zwar, dass das Sumoringen japanischen und nicht chinesischen Ursprungs war, doch wenn man die schiere Masse dieses erzürnten Kriegers sah, der sich in seine Richtung wälzte, kam einem unwillkürlich der Gedanke, ob die ursprünglichen Kolonisten von Pai nicht einen oder zwei Sumos mitgebracht hatten.

»Das ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er und versuchte, die belastenden Kleidungsstücke von seinen Händen zu schütteln. Die gelbe Gaze klebte wie Leim an seinen Fingern. Die Perlenkette hatte sich unentwirrbar verknotet. Habe ich wirklich so einen Blödsinn gesagt?, dachte Riker. Er kam sich vor, als wäre er in irgendeine schlechte Schlafzimmerkomödie gestolpert. Aber der mordlüsterne Riese, der ihn angriff, entsprang nicht der Phantasie eines Stückeschreibers.

Würde der Erbe eingreifen? Riker rechnete halbwegs damit, dass Chuan-chi dem Heranstürmenden mit einem scharfen Befehl Einhalt gebot, doch er hörte weder vom Erben noch von Kan-hi etwas. Zögernd griff er nach seinem Phaser, um den Angreifer zu betäuben. Es war sinnlos, mit dem Mann zu argumentieren; Riker erkannte berserkerhafte Wut, wenn er sie sah. Seine Finger tasteten nach dem Phaser, fanden ihn jedoch nicht. Verdammt, dachte er. Wo ist meine Waffe geblieben?

 

Die Augen des Drachen funkelten.

Gebrochenes Licht funkelte auf der spiegelnden Oberfläche der Rubine, die sich in ihren Sockeln drehten und zuerst Lu Tung und dann Beverly musterten. Sie glaubte, im Innern der Tür ein leises, mechanisches Summen zu hören. Der Blick der Rubine kehrte zu Lu Tung zurück. Er hielt die gehobene Hand ganz still, und Beverly bemerkte zum ersten Mal einen entsprechenden Rubin an einem der vielen Goldringe Lu Tungs. Zwei dünne rote Strahlen aus kohärentem Licht sprangen über die wenigen Zentimeter, die seine Hand von der Tür trennten, und verbanden die drei Rubine miteinander. Dann verschwanden die Strahlen, und aus dem Maul des Drachen erklang eine tiefe, gutturale Stimme: »Einlass wird gewährt, geehrter Lord. Dieser bescheidene Diener begrüßt Euch und Euren geehrten Gast.«

Beverly rechnete damit, dass die Tür in den Boden oder die benachbarten Wände zurückwich. Statt dessen verschwand sie einfach. Die Ärztin fragte sich, was für eine Technik hier im Spiel war. Waren die massive Tür und der wachsame Drache von Anfang an ein Hologramm gewesen, oder hatte irgendeine Art von Transporter oder Replikator sie aufgelöst? Die äußere Erscheinung des Drachenreichs war nach dem Standard der Föderation so archaisch, dass man leicht vergaß, dass es sich bei ihm keineswegs um eine mittelalterliche Gesellschaft handelte. Beverly fasste den Vorgang als eine überfällige Erinnerung an die wissenschaftlichen Fähigkeiten der Pai auf. »Sehr beeindruckend«, sagte sie anerkennend zu Lu Tung.

»Beeindruckender, als Sie ahnen«, erwiderte er stolz. »Im Fall eines unerwünschten Eindringens sind die Augen des Drachen durchaus imstande, jeden ungebetenen Besucher zu desintegrieren.«

»Oh«, sagte Beverly. »Es beruhigt mich, dass Ihre Tochter so gut geschützt ist.«

»Die Grüne Perle ist der Schatz meines Daseins«, sagte er, und seine Stimme klang dabei noch ernster als sonst, »und der Preis des endgültigen Friedens.«

Beverly glaubte, in seinem Tonfall ein leises Zögern zu vernehmen. Sie fragte sich, was er wirklich davon hielt, seinen ›Schatz‹ mit dem Drachenerben zu verheiraten. Auf dem Bankett hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, den Prinzen zu beobachten, doch was sie gesehen hatte, hatte sie nicht besonders beeindruckt. Und sowohl Will als auch Jean-Luc schienen keine hohe Meinung von Chuan-chi zu haben.

Eine Sekunde nachdem sie Lu Tung in den Raum gefolgt war, tauchte die Drachentür wieder auf. Ein kurzes Frösteln durchlief sie, als hätte das Tor eines Gefängnisses sich hinter ihr geschlossen. Jetzt gab es kein Zurück mehr … oder doch? Sie widerstand der Versuchung, den Kommunikator zu berühren, der in den sich überlappenden Schichten ihrer Gewänder verborgen war. Konnte man sie notfalls hinausbeamen, oder war der Harem auch gegen Transportertechnologie abgeschirmt? Ihr wollte partout nicht einfallen, wie sie sich auf diplomatische Weise bei Lu Tung danach erkundigen konnte.

Die Wände des Innenraums strahlten hell vor zahlreichen Perlen, die in sie eingelassen waren, genau wie die vielen Kissen, die die einzige Einrichtung des Raums zu bilden schienen. Beverly machte in einer Ecke des Raums zahlreiche Stoffdrachen und -einhörner aus; plötzlich kam die Kammer ihr vor wie das Privatreich eines heranwachsenden Mädchens. Sie bezweifelte, dass Lu Tung sich oft hier aufhielt.

»Vater?« Von einem Kissenstapel in der Mitte des Raums erklang eine helle Stimme. Ihre Besitzerin erhob sich und verbeugte sich pflichtschuldig vor Lord Lu Tung. »Ich bin geehrt und erfreut, dass mein geehrter Vorfahre sich herabgelassen hat, von meiner Existenz Kenntnis zu nehmen.« Die Worte wurden so schnell gesprochen, dass sie fast zu einer einzigen langen, fortlaufenden Silbe verschmolzen. Offensichtlich war die Begrüßung eine Formalität, die die junge Frau automatisch und mit großer Hast rezitierte, versessen darauf, sie hinter sich zu bringen.

Das Mädchen hob den Kopf, und Beverly sah die Grüne Perle.

 

Riker wurde klar, dass er den Phaser verloren hatte.

Aber ihm blieb keine Zeit herauszufinden, auf welche Weise das passiert war. Der gewaltige Krieger hatte ihn fast erreicht, und seine massigen Beine zertrampelten die Tabletts und Schalen, die vor Riker lagen. Kristall und Porzellan zersplitterten unter den schweren Tritten des Mannes. Der Krieger trug zwar nur Sandalen, doch seine schwerfälligen Schritte ließen den Boden erzittern, als steckten die Füße in Gravitationsstiefeln. »Ausgeburt eines Mistkäfers!«, brüllte er. »Bereite dich darauf vor, zerquetscht zu werden wie das Insekt, das du bist!«

Weder die Beschimpfung des Kriegers noch seine Größe schüchterten Riker ein; er hatte es in Worfs leichten Gymnastikprogrammen mit größeren Ungetümen zu tun gehabt. Je größer sie sind, dachte er, et cetera … Er ballte die Hände zu Fäusten und trat zurück, um den Gegner mit einem einzigen Schlag ins Reich der Träume zu schicken. Je schneller er diesen Kampf beendete, desto besser. Riker lächelte grimmig. Der große Schläger war wahrscheinlich so betrunken, dass er gar nicht mitbekam, was ihn traf.

Riker zielte auf das Kinn des Mannes und wurde überrascht, als sein Gegner den Schlag geschickt blockierte, indem er den rechten Unterarm vor das Gesicht hielt. »Hah, gut gemacht, Tu Fu, gut gemacht!«, jubelte Kan-hi Rikers Widersacher zu. Der Mann sprang Riker an, doch der Erste Offizier bückte sich unter den ausgestreckten Armen des Riesen hinweg und rammte ihm dann den Kopf in den gewaltigen Bauch. Tu Fu taumelte zurück und zertrat mit dem Fuß einen weiteren Porzellanteller. »Oh ho!«, rief Kan-hi fröhlich; er schien keinen der beiden Kämpfer zu bevorzugen. »Fünfhundert Cycee auf den Fremdweltler!«

»Ich nehme die Wette an, Bruder«, sagte Chuan-chi. »Fünfhundert Cycee – und fünfzehn Konkubinen – auf den tapferen Tu Fu.«

Andere Männerstimmen fielen ein und setzten auf oder gegen den Starfleet-Offizier, doch Riker war viel zu beschäftigt, um mitzubekommen, wem die größeren Chancen zugerechnet wurden. Er sah sich hastig nach dem vermissten Phaser um, konnte aber keine Spur der Waffe ausmachen. Plötzlich fiel ihm ein, dass die Hände der beiden Dienerinnen vor kurzem noch über seinen ganzen Körper gekrochen waren. Konnte eine von ihnen ihm die Waffe während des ganzen Durcheinanders entwendet haben? Er runzelte argwöhnisch die Stirn. Vielleicht war das mehr als nur eine Kneipenschlägerei. Tu Fus plötzlicher Angriff unmittelbar nach dem Diebstahl seines Phasers roch nach Vorsatz und Verschwörung. Mit ein paar Tritten befreite er seine Füße von den ihn behindernden Kissen und Polstern und schätzte den Gegner neu ein. Tu Fu war offensichtlich nüchterner, als er aussah – und auch viel schneller.

Der Krieger griff Riker wieder an und schlug diesmal mit einer offenen Hand zu. Der Erste Offizier riss seinen Oberkörper zurück, fort von dem Schlag, doch die scharfen Spitzen von Tu Fus überlangen Fingernägeln streiften die Vorderseite von Rikers Uniform und rissen jeweils fünf Zentimeter lange Spalten in das widerstandsfähige rote Material. Rikers Augen weiteten sich vor Überraschung; ihm war nicht klar gewesen, dass die langen Nägel der Pai nicht nur dekorative Zwecke hatten. Ich muss diese Nägel im Auge behalten, dachte Riker, oder ich werde beide Augen verlieren. Er holte zu einem weiteren Hieb gegen Tu Fu aus, doch seine Faust prallte erneut gegen einen der fleischigen Arme des Pai.

Sämtliche Gäste und Dienstmädchen hatten sich mittlerweile zurückgezogen und bildeten einen weiten Kreis um die beiden Kämpfenden. Überall auf dem Boden des Harems lagen zersplitterte Becher und Schalen und zerrissene Kissen verstreut. Ausgelassene Junggesellen umklammerten überfließende Weinkelche, johlten den Kämpfenden zu oder buhten sie aus und stießen sich gegenseitig beiseite, um besser sehen zu können, während die Dienerinnen schnell in Sicherheit huschten oder sich hinter den Leibern der Männer verbargen und den Kampf über die Schultern ihrer Beschützer verfolgten. Selbst der humorlose Chuan-chi schien von der zunehmenden Erregung gepackt zu werden und rief Tu Fu ermutigende Worte zu, als der erzürnte Soldat zu einem zweiten Schlag gegen Riker ausholte. Der Erste Offizier zog gerade noch rechtzeitig den Kopf ein und spürte, wie Tu Fus rasiermesserscharfe Fingernägel über seine Haare streiften. Fast unbemerkt fiel eine dunkelbraune Locke zu Boden. Das hatte der Captain wohl kaum im Sinn, dachte Riker bedauernd.

Die Kämpfenden umkreisten einander wachsam, wobei Riker sich bemühte, in sicherer Entfernung von Tu Fu zu bleiben. Der Pai wog mindestens dreimal soviel wie Riker; falls er den Ersten Offizier zu packen bekam, würde schon allein seine bloße Körpermasse ihm einen gewaltigen Vorteil einbringen, und das wollte Riker verhindern. »Feigling!«, verhöhnte Tu Fu ihn. »Hast du Angst, mit mir zu kämpfen?«

»Hah! Zeigen Sie ihm, was Sie können, Will!«, rief Kan-hi von der Seitenauslinie. Er hat gut reden, dachte Riker. Aus dem Augenwinkel erhaschte er einen Blick auf den Taugenichts von jüngerem Sohn des Drachen, der ganz vorn stand und den Kampf verfolgte. Er hatte je einen Arm um die Schultern zweier fast nackter Dienstmädchen gelegt, was den Eindruck erweckte, als hielten sie den betrunkenen Prinzen aufrecht. Riker bekam die beiden Frauen nur ganz kurz zu sehen, doch er hätte schwören können, dass es sich um dieselben verführerischen Schönheiten handelte, die ihn noch vor ein paar Minuten umgarnt und massiert hatten. Hatte eine von ihnen ihm den Phaser gestohlen? Und falls ja, war Kan-hi eingeweiht gewesen?

Tu Fu ließ Riker keine Zeit, um über die Möglichkeiten nachzudenken. Ein wütendes Knurren drang aus der breiten Brust des Kriegers, und er streckte beide Arme aus und rannte auf den Ersten Offizier zu. Riker kam sich plötzlich wie ein Matador vor, der einem anstürmenden Stier gegenüberstand. Worf würde das gefallen, dachte er in genau dem Augenblick, in dem er seinen Körper anspannte, um beiseite zu springen. Nach rechts oder links?, überlegte er und überdachte kühl seine Möglichkeiten. »Schnapp ihn dir, Tu Fu!«, befahl eine Stimme irgendwo rechts hinter ihm. »Besiege den Fremden zur Ehre des Reichs!«

Das konnte nur von Chuan-chi kommen, dachte Riker, als er sowohl die Stimme als auch den verächtlichen Tonfall erkannte. Ein hervorragender Gastgeber, dachte er stirnrunzelnd. Dann wurde ihm mit der Wucht eines Intervallerstrahls die vollen Implikationen der Situation klar. Wenn er Tu Fu aus dem Weg sprang, würde der ungezügelte Ansturm den Krieger – und seine tödlichen Klauen – genau auf den Drachenerben prallen lassen. Würde Tu Fu noch rechtzeitig anhalten können? Riker bezweifelte es. Vor seinem inneren Auge flackerte deutlich ein Bild des Erben auf, wie er von den blutigen Klauen des riesigen Pai gepfählt wurde, so deutlich, als würde er es auf dem Holodeck sehen. Im flackernden Licht der bemalten Lampions schoss Tu Fus gewaltiger Schatten ihm voraus und warf einen Schleier auf Riker und, hinter ihm, Chuan-chi. Zehn geschärfte, zentimeterlange Fingernägel näherten sich Rikers Gesicht. Ihm blieb nur noch ein Herzschlag, um zu reagieren.

Er erwiderte Tu Fus Attacke mit einem Gegenangriff. Er ging in die Hocke, drehte sich und rammte mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, die rechte Schulter in den Leib des Pai. Der Aufprall genügte nicht, um Tu Fus angesammelten Schwung voll zu stoppen, verlangsamte den anderen jedoch soweit, dass alle anderen die Chance bekamen, ihm auszuweichen. Hinter sich hörte er Keuchen, schrilles Geschrei und wildes Gelächter, doch zum Glück keine Todesschreie. Dem Erben war ein Ableben durch einen ›Unglücksfall‹ erspart geblieben. Riker war so paranoid – oder auch nur angemessen argwöhnisch –, dass er sich eine flüchtige Sekunde lang fragte, ob Chuan-chi nicht von Anfang an das eigentliche Ziel gewesen war. Schließlich konnte bei einer unvorhersehbaren, außer Kontrolle geratenen Schlägerei alles mögliche passieren …

Ein scharfer, brennender Schmerz beendete seine Überlegungen abrupt. Tu Fus Nägel gruben sich in seinen Rücken und rissen Stoff und Haut auf. Nur der Umstand, dass der Krieger nach dem unterbrochenen Sprung das Gleichgewicht noch nicht zurückgefunden hatte, verhinderte, dass Tu Fu die Situation voll ausnutzen und die Nägel noch tiefer in Rikers Körper treiben konnte, vielleicht hinab bis zu den empfindlichen Innenorganen. Der Erste Offizier musste unbedingt verhindern, dass Tu Fu ihn richtig zu fassen bekam. Bevor der Krieger noch einmal zuschlagen konnte, ergriff er dessen Bein direkt über der rechten Kniekehle. Jahre des Kampfsporttrainings zahlten sich aus, als Riker Tu Fu über die Schulter warf. Der Pai grunzte überrascht auf, als er einen Salto über Riker hinweg schlug und genau dort flach auf dem Rücken landete, wo der Drachenerbe ihm gerade noch zugejubelt hatte.

»Ausgezeichnet! Nein, wahrhaft vollendet!«, rief Kan-hi, der zwischen den Frauen seines Bruders eingekeilt stand (und scheinbar von ihnen gestützt wurde). Er klang nicht so, überlegte Riker, wie ein Mann, dessen Attentatsversuch soeben durchkreuzt worden war. Vielleicht hatte er tatsächlich schon vergessen, dass er sich gerade noch mit seinem Bruder fast duelliert hätte. Oder vielleicht war er ein sehr guter Schauspieler …

Riker wirbelte auf den Fersen herum, in der Hoffnung, in die Offensive gehen zu können, bevor Tu Fu wieder auf den Beinen stand. Vielleicht konnte er den Krieger doch noch erledigen, bevor jemand ernsthaft verletzt wurde. Zu seiner Bestürzung sah er jedoch, dass einige von Tu Fus Freunden ihn schon wieder hochgezerrt hatten. Er funkelte Riker mit schierem Hass und Blutgier im unverletzten Auge an. »Verdammt«, murmelte der Erste Offizier, als er sah, wie Tu Fus Anhänger ihn unterstützten. Sobald die Junggesellen erst einmal richtig Partei ergriffen hatten, konnte dieser Kampf leicht in eine Massenschlägerei ausarten. Und bei so einem blutigen Chaos konnte er unmöglich beide Prinzen beschützen.

»Weitere fünfhundert Cycee auf den Mann aus der Föderation«, sagte Kan-hi kühn. Sein stattliches Gesicht war vom Wein gerötet.

»Tausend Cycee und einhundert Konkubinen auf Tu Fu vom Drachenreich«, antwortete Chuan-chi. Wüstes Gejohle begrüßte seine Herausforderung.

Toll, dachte Riker sarkastisch. Wir machen eine Sache der kaiserlichen Ehre daraus. Er hoffte nur, dass tausend Cycee (was auch immer ein Cycee sein mochte) keine so große Summe waren, dass man dafür jemanden umbrachte.

 

Beverly begriff sofort, warum die Tochter des Kriegsherrn Grüne Perle genannt wurde. Das betörendste Merkmal des Mädchens waren ihre Augen, die groß, leuchtend und hellgrün waren, während ihre glatte, makellose Haut perlweiß war. Grüne Perle trug ein einfaches, meergrünes Gewand, das nach den Maßstäben der Pai überraschend schlicht war. Offensichtlich hatten sogar die auf Verzierungen versessenen Pai eingesehen, dass übermäßige Ausschmückungen und Verzierungen das Auge nur von der natürlichen Schönheit der Braut ablenken konnten. Unter dem Saum des Kleides lugten die Spitzen winziger Samtschuhe hervor. Grüne Perle war beträchtlich jünger als der Drachenerbe; Beverly schätzte sie auf höchstens siebzehn Jahre.

»Meine Tochter«, wandte Lu Tung sich an sie, »diese Frau ist eine Besucherin von der Vereinten Föderation der Planeten. Sie hat sich großzügigerweise bereiterklärt, heute Abend nach dir zu sehen. Dr. Crusher, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen, Lady Yao Hu, genannt die Grüne Perle von Lord Lu Tung.«

Das Mädchen verdrehte die Augen, als es den Titel hörte. Die extravagante Bezeichnung machte sie eindeutig verlegen. »Sie ist mit dem Raumschiff gekommen? Die Männer der Föderation reisen mit ihren Frauen?«

»Sie ist eine erfahrene Heilerin«, erklärte Lu Tung. »Und ein Starfleet-Offizier, falls du dir so etwas vorstellen kannst.«

»Wirklich?« Sie riss die Augen so weit auf, dass die Brauen unter ihrem Pony verschwanden. »Wie faszinierend!« Das Mädchen betrachtete Beverly mit offener Neugier. Die Ärztin vermutete, dass Yao Hu im Harem ihres Vaters nur selten Fremden begegnete.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Lady Yao Hu«, sagte Beverly strahlend.

»Danke.« Das Mädchen nickte der Ärztin zu und drehte sich dann wieder zu Lu Tung um. »Aber wirklich, Vater, ich brauche keinen Babysitter. Morgen heirate ich, und das heißt, ich bin praktisch schon erwachsen.«

»Hah! Das glaubst du!« Ein zweites Mädchen tauchte aus den Tiefen einer Couch auf, die in den Schatten am Rand des Zimmers stand. »Seien Sie gegrüßt, Erhabener Lord und Geschätzter Vater der Grünen Perle«, sagte es. »Ich bin geehrt und erfreut und so weiter …«

»Hsiao!«, sagte Grüne Perle ungehalten. »Das ist kaum respektvoll.«

Das andere Mädchen schien ein paar Jahre älter als Yao Hu zu sein. Es war kleiner, wirkte sogar in seinem scharlachroten Gewand knabenhaft schlank und hatte dunkles Haar, das bis knapp auf die Schultern fiel. »Du bist noch nicht meine Mutter«, sagte es warnend.

»Aber morgen werde ich es sein, und dann wirst du wesentlich netter zu mir sein müssen«, sagte die Perle.

»Ich bin trotzdem noch die ältere, und du wirst netter zu mir sein müssen.«

»Ach ja?«, sagte die Perle drohend.

»Das reicht«, befahl Lu Tung und brachte die zänkischen Heranwachsenden damit zum Schweigen. »Dr. Crusher, das ist Hsiao Har, die Tochter des Erben aus seiner ersten Ehe. Da sie bald die Stieftochter meiner Perle sein wird, hat sie sich in den letzten Wochen hier zu Besuch aufgehalten. Schließlich müssen die beiden lernen, miteinander auszukommen … hoffen wir jedenfalls.«

Das knabenhaft schlanke Mädchen warf trotzig den Kopf zurück. »Das ist absurd. Sie kann doch unmöglich meine Mutter sein. Einfach lächerlich!«

»Und ich möchte sie auch nicht zur Tochter haben!«, gab die Perle zurück. »Sie ist viel zu ungehorsam und schrecklich.«

»Du bist die Schreckliche.«

Lu Tung zog die Brauen hoch, und schwere Falten runzelten seine Stirn. Er verbeugte sich in Beverlys Richtung. »Madame, ich überlasse meine Tochter – und zukünftige Enkelin – Ihrer Obhut.«

Die Ärztin kam sich plötzlich vor, als hätte man ihr während eines Angriffs der Borg das Kommando über die Enterprise gegeben.

Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

 

»Machen Sie ihn fertig, Will!«, rief Kan-hi. »Für die Föderation!«

Ein Schnauben verzog Tu Fus klotzähnliches Gesicht. Die purpurne Schwellung hatte sich wie ein bösartiges Krebsgeschwür über sein verletztes Auge ausgebreitet. »Föderation … hah! Das halte ich von eurer Föderation!«, fauchte er und spuckte einen Klumpen klebrigen, grünen, übel aussehenden Schleims vor Rikers Füße. »Die Föderation ist pi t'i«, schnaubte er eine Beleidigung, die offensichtlich über das Vokabular von Rikers allgemeinem Translator hinausging. Aber das machte nichts; Riker hatte das Wesentliche mitbekommen.

»Na los!«, ermahnte Kan-hi ihn. »Sie wollen ihm diese Bemerkung doch nicht durchgehen lassen, oder?«

Riker brauchte keinen medizinischen Tricorder, um zu wissen, dass sein Blutdruck stieg. Normalerweise hätte er nichts lieber getan, als Tu Fu einen seiner Fingernägel nach dem anderen ins Maul zu stopfen, doch das war nicht nur eine Prügelei bei einem Landurlaub. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, also zwang er sich, ruhig zu bleiben. Er warf noch einen Blick auf Tu Fus blaues Auge, das aufgrund der Schwellung so gut wie blind war. Dem Ersten Offizier kam eine Idee in den Sinn …

»Du bist selbst pi t'i«, provozierte Riker seinen Gegner absichtlich. Tu Fu reagierte genau so, wie der Erste Offizier es sich erhofft hatte. Er brüllte wie ein erzürnter klingonischer Targ auf, setzte seine gewaltige Körpermasse in Bewegung und warf sich auf seinen Widersacher. Der wich jedoch mit Vorbedacht nach links auf die blinde Seite des Pai aus. Jetzt konnte Tu Fu den Schlag des Offiziers der Enterprise nicht mehr abblocken. Eine harte Rechte traf sein ungeschütztes Kinn so schwer, dass Rikers Arm bis zur Schulter buchstäblich vibrierte. Der Kiefer des Kriegers fühlte sich an, als bestünde er aus Duranium. Oha, dachte Riker. Das sah nicht gut aus.

Falls der Schlag Tu Fu etwas ausmachte, merkte man jedenfalls nichts davon. Der Pai warf sich mit seinem vollem Gewicht auf Riker und trieb ihn mit der Kraft eines Bullen zurück. Die Zuschauer mussten zur Seite gesprungen und ihnen ausgewichen sein, denn der Erste Offizier bekam nur noch mit, dass er und sein Gegner in eine der Papierwände stürzten, die den äußeren Harem unterteilten. Pergament zerriss, und hölzerne Verstrebungen zerbrachen unter den um sich schlagenden Körpern. Riker hörte eine Frau schreien und eine männliche Stimme fluchen. Er sah fünf oder sechs fast nackte Frauen, die voller Panik davonliefen. Ein ebenfalls unbekleideter Adliger der Pai rollte sich hektisch aus dem Weg und griff nach seiner abgelegten Kleidung, während er sich nur ein paar Meter entfernt aufrappelte. Der hatte etwas Besseres vor, als sich eine Prügelei anzusehen, dachte Riker trocken – einen Augenblick, bevor sein Hinterkopf wieder auf den Boden des Harems prallte. Zahlreiche Kissen dämpften zwar seinen Sturz, konnten aber nicht verhindern, dass das gesamte Gewicht des Sumoringers auf ihn fiel und ihn tief hinabdrückte. Sein mitgenommener Brustkorb knirschte protestierend; er hatte sich schon auf Welten mit hoher Schwerkraft aufgehalten, die ihm nicht dermaßen zugesetzt hatten. Er bekam kaum noch Luft.

Selbst Tu Fu schien der Aufprall kurz benommen gemacht zu haben; vielleicht nahm ihm aber auch nur ein zerrissenes buntes Seidentuch die Sicht, das sich um seinen Kopf geschlungen hatte, der sich nur ein paar Zentimeter von dem Rikers entfernt befand. Der Krieger hatte den Starfleet-Offizier wie ein umgestürzter Berg unter sich begraben. Riker zog kurz in Betracht, Tu Fu mit dem Knie dorthin zu treten, wo es am meisten weh tat, kam aber zum Schluss, dass die Pai diese Taktik wohl als höchst unehrenhaft ansehen würden. Statt dessen atmete er tief ein, versuchte, trotz der gewaltigen Masse, die ihn niederdrückte, Luft in die Lungen zu bekommen, und zwängte dann die Arme unter Tu Fu hervor. Er legte die Fäuste zusammen und trieb sie gegen das Kinn des Kriegers. Tu Fus Kopf schnappte zurück, und plötzlich lag sein Hals frei. Riker versetzte ihm mit der rechten Handkante einen kräftigen Schlag. Der Pai stöhnte vor Schmerz auf und versuchte, sich von Riker zu befreien, der auf dem Rückgrat vor und zurück schaukelte, bis er genug Schwung hatte, um seinen massigen Widersacher zur Seite zu werfen und sich auf ihn zu hocken. Er rammte Tu Fu ein Knie in den Magen und hörte überall um sich herum Gejohle und Gelächter. Der Kreis der Zuschauer hatte sich wieder um die Kämpfenden geschlossen, und Kan-hi und die anderen Junggesellen grölten und tobten, als Riker beide Fäuste hoch über den Kopf hob, um sie gegen Tu Fus Kinn zu schmettern und den Kampf zu beenden. Er fragte sich, was Kan-hi mit dem vielen Geld und den Konkubinen anfangen würde, die er gewinnen würde.

Ein Spritzer Wein traf Riker ins Gesicht …

 

»Vater, warte!«, rief die Perle, als Lord Lu Tung gehen wollte. »Du kannst sie nicht hierlassen.« Der Blick grüner Augen traf den Beverlys. »Ich will Ihnen gegenüber nicht respektlos sein, Doktor, aber wie ich schon sagte, ich brauche wirklich keine Krankenschwester oder Anstandsdame. Ihre Freundlichkeit erweist mir große Ehre, aber Sie müssen wegen mir nicht diese Unannehmlichkeiten auf sich nehmen.«

»Es sind keine Unannehmlichkeiten«, beharrte Beverly. Solange Yao Hu das mögliche Ziel eines Attentäters war, durfte sie die junge Braut nicht allein lassen. Nun ja, zumindest nicht allein mit Hsiao Har. Nicht, dass sie dem Wildfang irgendwelche bösen Absichten unterstellte, aber Jean-Luc hatte bestimmt nicht im Sinn gehabt, dass ein junges Mädchen ein anderes beschützte.

»In der Tat«, sagte Lu Tung streng. »Es ist nicht richtig, dass eine Braut ohne den Trost und die Führung einer älteren, erfahreneren Frau heiratet. Du solltest Dr. Crusher dankbar sein, dass sie sich bereit erklärt hat, dir diese Nacht Gesellschaft zu leisten.«

»Das bin ich, Vater, wirklich, aber …«, sagte die Perle und stockte dann, suchte nach Worten. Es schien ihr keineswegs zu passen, dass sie Beverlys Obhut übergeben werden sollte. Warum nicht?, fragte die Ärztin sich. Sie war nicht beleidigt, lediglich verwirrt. Warum ist das so wichtig für die Perle?

»Keine Angst, Lord Lu Tung«, ergriff Hsiao Har das Wort. »Ich kann auf Ihre kostbare Perle aufpassen.«

»Du?« Die junge Braut schien die bloße Vorstellung als Kränkung zu empfinden, als eine größere sogar als die, dass Beverly auf sie achtgab. Ich bin wohl das kleinere von zwei Übeln, dachte die Ärztin erheitert.

»Na ja, ich bin älter und klüger als du«, sagte Hsiao Har. Sie schritt über den mit Kissen übersäten Boden, bis sie dicht vor der Perle stand. Beverly stellte fest, dass die Tochter des Erben etwas größer als das andere Mädchen war, das Hsiao Har anfunkelte. Die Ärztin hoffte, dass sie nicht die Schiedsrichterin bei einem handgreiflichen Ringkampf der beiden spielen musste.

»Viel älter«, verhöhnte die Perle Hsiao Har. »Viel, viel älter. Aber auch klüger? Das denke ich kaum.«

Lu Tung seufzte müde, unternahm aber nichts, um das Wortgefecht zwischen seiner Tochter und Hsiao Har zu beenden. Offensichtlich war es unter seiner Würde, Streitigkeiten zwischen Frauen zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar damit zu befassen. Das ist Frauenarbeit, dachte Beverly mit leisem Groll, und Lu Tung sank ein wenig in ihrer Achtung.

»Madame«, sagte der Lord und deutete eine Verbeugung an, »ich wünsche Ihnen viel Glück.« Vor der schweren Eisentür und dem Wachdrachen winkte er mit der Hand. Zwischen dem Portal und seinem Ring blitzten kurz Laserstrahlen auf, und Lord Lu Tung trat durch das nun offene Portal. Sekunden später rematerialisierten die Tür und der Drache und sperrten Beverly mit ihren streitsüchtigen jungen Schutzbefohlenen ein.

»Flegel«, zischte die Perle in dem Augenblick, in dem ihr Vater außer Sicht war, Hsiao Har an. »Alte Schachtel!«

»Baby!«, erwiderte Hsiao Har. »Fötus!« Sie nahm eine Haltung ein, die verdächtig an die einer Person erinnerte, die in der einen oder anderen Kampfsportart ausgebildet war. Beverly argwöhnte plötzlich, dass die Frauen des Harems vielleicht nicht die zerbrechlichen Blumen waren, für die sie sie gehalten hatte.

»Yao-Kobold!«, sagte die Perle und hob im Karatestil beide Hände.

»Nan hai tzu!«, erwiderte Hsiao Har. Sie hob einen Fuß und schob die Spitze ihres Slippers auf die Perle zu. Die Situation schien schnell zu eskalieren und außer Kontrolle zu geraten. Alarmstufe Rot, dachte Beverly automatisch.

»Mädchen!« Die Ärztin klatschte in die Hände. Ich höre mich an wie die Mutter in einem viktorianischen Roman, dachte sie bedauernd, aber es schien zu funktionieren. Die beiden jungen Frauen wichen zurück, und ihre angespannten Körper nahmen allmählich wieder eine nicht ganz so aggressive Haltung ein. Mit etwas Glück, dachte Beverly, wollen die beiden sich vor einer völlig Fremden nicht allzu schlecht benehmen. Hsiao Har funkelte die Perle böse an, die sich ohne großen Anmut plötzlich auf das nächste Kissen fallen ließ. Verdrossen verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog einen Schmollmund. Worüber regt sie sich am meisten auf?, fragte Beverly sich. Über ihren Streit mit Hsiao Har, meine Anwesenheit oder – der Gedanke kam ihr ganz plötzlich – ihre unmittelbar bevorstehende Hochzeit mit dem Erben? Was auch immer es sein mochte, Dr. Crusher befürchtete, dass ihr ein langer und unangenehmer Abend bevorstand.

All die Jahre der Starfleet-Ausbildung, überlegte sie, und dann spiele ich die Glucke für zwei unausstehliche Karate-Mädchen. Sie musste unbedingt mit Jean-Luc darüber sprechen, was alles unter ihre Pflichten als Chefärztin fiel.

Sie hoffte nur, dass die anderen einen angenehmeren Abend verbrachten.

 

Der Wein spritzte Riker ins Gesicht und blendete ihn einen Sekundenbruchteil, bevor er seinen Hieb ausführen konnte. Die scharfe, brennende Flüssigkeit überraschte ihn völlig; er hatte keine Ahnung, woher sie gekommen war oder wer ihn damit abgelenkt hatte. Er blinzelte und spuckte, schüttelte den Kopf und schleuderte dabei winzige Tropfen smaragdgrünen Weins in alle Richtungen. Der Alkohol brannte in seinen Augen, und der süßliche, fruchtige Geschmack füllte Mund und Nase aus. Die lauwarme Flüssigkeit rann seine Wangen hinab und tropfte aus seinem Bart. Verdammt, fluchte er stumm. Wenn ich den Scherzbold zu fassen kriege, der den Wein verschüttet hat …

Tu Fu stand plötzlich auf und warf Riker zurück. Der Erste Offizier stürzte zu Boden und landete hart auf der linken Seite. Seine Hüfte prallte auf Marmorfliesen, und ein scharfer Schmerz schoss bis zu den Schultern hinauf. Noch immer von dem Wein in den Augen geblendet, versuchte er sich von Tu Fu davonzurollen, bewegte sich aber nicht schnell genug. Ein schwerer Fuß senkte sich auf seinen Rücken und drückte sein Gesicht auf die Fliesen. Riker blinzelte erneut und schüttelte den Kopf im vergeblichen Versuch, sich von den letzten Tropfen der klebrigen, brennenden Flüssigkeit zu befreien, die ihm die Sicht nahm, doch seine Augen brannten noch immer fürchterlich, und die Tränen quollen schneller hinaus, als er sie mit dem Handrücken abwischen konnte. Na schön, wenn du es so haben willst, dachte er. Er musste nicht sehen können, um diesem Schläger eine Abreibung zu verpassen, die er nie vergessen würde.

»Du hättest auf mich hören sollen, Fremder«, krächzte Tu Fu. »Ich habe gesagt, ich trete dich wie ein Insekt in den Schmutz, und genau das werde ich jetzt tun.« Er grub die Ferse tiefer in Rikers Hüfte. »Kein ausländischer Teufel kann gegen einen wahren Krieger des Reichs bestehen.«

Kan-hi war anderer Meinung. »Liegen Sie doch nicht einfach so da!«, rief er Riker zu. »Stehen Sie auf! Tun Sie irgend etwas! Machen Sie ihn fertig!«

»Erneut hast du unklug gesetzt, mein Bruder«, sagte Chuan-chi. Riker konnte sich das selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht vorstellen. »Kein Wunder, dass du so hohe Spielschulden hast.«

Der Erste Offizier hatte genug gehört. Tu Fu drückte noch einmal mit dem Absatz zu, doch Riker versuchte, den unerträglichen Schmerz in seinem Rücken zu ignorieren. Er entfernte sich im Geiste vom Harem, dem Palast und von Pai selbst, bis er sich statt dessen auf einer grauen Gummimatte in einer leeren Turnhalle irgendwo in Alaska wiederfand. In ein paar Metern Entfernung machte er seinen Vater aus. Ein verstärkter roter Plastikhelm mit herabgelassenem Visier nahm Kyle Riker die Sicht, doch das spielte keine Rolle. Bei Anbo-jyutsu kam es nicht auf die Augen, sondern auf die Bewegung an. Auf die beherrschte, effiziente Bewegung. »Vertraue deinen anderen Sinne und lasse sie dann los«, hatte sein Vater ihm immer wieder bei unzähligen Übungsstunden wie dieser gesagt. »Dein Unterbewusstsein soll herausfinden, wo du in Bezug auf deinen Gegner stehst. Konzentriere dich lediglich auf den Augenblick und die Bewegung. Der Augenblick ist die Bewegung.« Mit einem mühelosen Stoß warf Kyle Riker seinen Sohn auf die Matte. Er hielt ihn mit einem Fuß unten, stand da wie anno dazumal ein Großwildjäger, der mit gespreizten Beinen auf einem gerade von ihm erschossenen Löwen posierte. Der jüngere Riker kämpfte Tränen des Frusts und Zorns zurück. Er konnte dieser erniedrigenden Position nicht entkommen … oder doch? Kyle Riker wollte nicht, dass sein Sohn aufgab. »Es gibt für jeden Angriff eine Verteidigung«, wiederholte er endlos, bis Will es nicht mehr hören konnte. »Ein Entkommen aus jeder Falle.« Riker wand sich hilflos unter dem unablässigen Druck des Fußes seines Vaters. »Anbo-jyutsu«, sagte Kyle in seiner Erinnerung. »Denke nicht darüber nach. Bewege dich einfach.«

Riker bewegte sich.

Seine Beine fuhren hinter Tu Fu hoch und schlugen wie zwei Kobras zu. Er hakte die Füße um Tu Fus Beine, die so breit wie kleine Säulen waren, und streckte die eigenen dann mit einem konvulsiven Zucken aus. Der riesige Pai-Krieger wurde zurückgeworfen. Riker hörte das Geräusch, mit dem der Schädel des Mannes auf dem Marmorfußboden aufprallte, gefolgt von einem schweren, regelmäßigen Atmen. Der Erste Offizier erkannte den beruhigenden Rhythmus der Bewusstlosigkeit.

Applaus und einige Jubelrufe priesen Rikers Sieg. Er drehte sich um, setzte sich auf und brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen völlig von Wein und Tränen zu befreien. Als sein Blick sich klärte, sah er, dass Kan-hi mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht neben ihm stand. Die beiden Frauen, die ihn umgarnt hatten, waren verschwunden. Riker schaute sich suchend nach ihnen um, konnte sie unter den Junggesellen und zahlreichen anderen Dienstmädchen aber nirgendwo ausmachen. Das bekräftigte den Verdacht, den er bezüglich des verschwundenen Phasers hegte, ganz zu schweigen von dem Wein, den er so urplötzlich ins Gesicht bekommen hatte. »Ist er in Ordnung?«, fragte er Kan-hi und nickte zu dem zusammengebrochenen Tu Fu hinüber.

»Ich glaube schon«, sagte der Zweite Sohn verächtlich. »Sollte sein Zustand ernster sein, werden die Frauen einen Arzt rufen … aber genug von diesem riesigen Tor! Das war sehr beeindruckend, Freund Will.« Er versetzte Riker einen Klaps auf den Rücken. Der Erste Offizier zuckte zusammen. Dort, wo Tu Fus Nägel ihm die Haut aufgerissen hatten, tat es noch immer höllisch weh.

»Ich würde diesem Kerl gern eine Maniküre verpassen«, knirschte er. Vorzugsweise mit einem auf Maximum eingestellten Phaser.

Kan-hi untersuchte die Schnittwunden auf Rikers Rücken und die Risse in seiner Uniform und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein, das geht so nicht, Will. Ihre Kleidung ist völlig ruiniert. Hier, nehmen Sie eine von meinen Roben.« Er löste die Schnüre seines obersten Gewandes und streifte den fließenden gelben Stoff beiläufig ab. Riker sah, dass der Prinz darunter noch mehrere andere Kleidungsschichten trug. Kan-hi hielt ihm das Gewand hin.

»Das ist nicht nötig, Sir«, sagte Riker. Er stand vorsichtig auf und verspürte einen stechenden Schmerz in der Hüfte, als er sich streckte.

»Aber ich bestehe darauf«, erwiderte Kan-hi und lachte laut auf. »Mit dem Geld, das ich gerade durch Sie gewonnen habe, kann ich mir eine ganz neue Garderobe kaufen. Nicht wahr, Bruder?«

Chuan-chi stand nicht weit entfernt, hatte die Hände steif vor der Brust verschränkt und betrachtete den Jüngeren stirnrunzelnd. »Keine Bange. Im Gegensatz zu einigen anderen, die ich kenne, begleiche ich meine Schulden stets. Alle Schulden«, betonte er und warf Riker einen unverhohlen giftigen Blick zu. Ich habe vielleicht gerade dein Leben gerettet, du blöder Arsch, dachte Riker wütend über den Drachenerben. Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass die Prügelei mit Tu Fu kein zufälliger Akt plötzlicher Gewalt war. Irgendwer wollte ihn oder Chuan-chi aus dem Spiel nehmen. Vielleicht waren auch sie beide gleichzeitig das Ziel gewesen. Er nahm sich vor, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit Captain Picard darüber zu sprechen, und fragte sich, wie es Deanna und den anderen ergangen war und ob sie in Sicherheit waren.

Dann überlegte er es sich und nahm das gelbe Gewand von Kan-hi entgegen. Eine der allgegenwärtigen Dienerinnen tupfte vorsichtig Blut von seinem Gesicht und den Schultern, bevor sie ihm in das teure Seidengewand half. »Na ja, wenn Sie darauf bestehen«, sagte er freundlich. »Meine Uniform hat wohl tatsächlich schon bessere Zeiten gesehen.« Er warf einen kurzen Blick auf die langen Fingernägel des Drachenerben und erinnerte sich daran, wie Tu Fus Nägel seine Haut aufgetrennt hatten. »Haben hier alle so scharfe Fingernägel?«, fragte er.

»O nein«, erwiderte Kan-hi. »Tu Fu gehört dem Heiligen Orden der Erweiterten Finger an. Seine Nägel wurden von Geburt an täglich in eine Speziallösung getaucht, die sie härtet und ihre Zugfestigkeit vergrößert.«

»Großer Gott«, sagte Riker, zugleich beeindruckt und abgestoßen. »Ist das ein … äh … großer Orden?« Er wollte es nicht hoffen.

Kan-hi schüttelte den Kopf. Riker fiel auf, dass der Zweite Sohn beim Sprechen leicht schwankte, aber wieder so nüchtern geworden zu sein schien, dass er ohne Hilfe stehen konnte. Vielleicht war er gar nicht so betrunken gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte. »Viele werden auserwählt, aber nur wenige erreichen das Erwachsenenalter. Die meisten können der Versuchung nicht widerstehen, sich zu kratzen, wenn es sie juckt.«

Riker war einen Moment lang sprachlos. Am besten denkst du gar nicht darüber nach, sagte er sich dann. Statt dessen musterte er kurz die Teilnehmer der Party, suchte mit den Blicken den Raum ab. Die verbliebenen Dienerinnen räumten schnell und geschickt auf und stellten im äußeren Harem die Ordnung wieder her. Die zerrissene Trennwand war bereits fortgeschleppt und durch einen neuen papierenen Raumteiler ersetzt worden, mit dem man den bewusstlosen Krieger vor den Blicken der anderen abschirmte. Irgendwo in einem benachbarten Abteil wurde eine Harfensaite angeschlagen, und die klagenden Klänge der leisen Musik schienen das ihre dazu beizutragen, die wilde Stimmung der heißblütigen jungen Männer zu besänftigen. Frisches Obst und Wein tauchten in überreichlichen Mengen auf, herangeschleppt von den schlanken Armen noch bezaubernderer junger Frauen.

Doch wie Riker feststellte, schenkten die meisten Männer weder der Musik noch den Erfrischungen oder den wunderschönen jungen Frauen große Beachtung. Die Junggesellen wirkten rastlos; einige scharten sich um Kan-hi, während die anderen die Nähe des Erben suchten. Im Raum schien eine gewisse Erwartung aufzukommen. Alle schienen Riker und die beiden Prinzen zu beobachten und darauf zu warten, dass irgend etwas passierte. Selbst die Dienerinnen wirkten trotz ihres beharrlichen Lächelns und betont zurückhaltenden Benehmens nervös. Riker spürte, dass die Möglichkeit von weiteren Gewaltausbrüchen mit seinem Sieg über Tu Fu kein Ende gefunden hatte. Wenn überhaupt hatte seine kurze Schlägerei mit dem Pai-Krieger eher den Appetit der Partybesucher auf eine echte Prügelei angeregt, bei der es dann bis zum Äußersten ging. Die Menge wollte Blut sehen, doch danach stand Riker nun überhaupt nicht der Sinn, vor allem, da eventuell noch ein oder mehrere Attentäter irgendwo zwischen den dekorativen Raumteilern und Plüschsofas lauerten. Denk nach, befahl Riker sich. Es musste eine Möglichkeit geben, wie er die Aggression und Streitlust dieser Männer in ungefährlichere Bahnen leiten konnte. Aber wie?

Als ihm die Lösung in den Sinn kam, legte sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht.

»Sagen Sie, meine Herren«, fragte Will Riker, »haben Sie je von einem Spiel namens Poker gehört?«