Dieses ist die erste Lektion in Sachen »Geist über Materie«. Ehe wir beginnen, entleeren Sie Ihren Geist bitte von allen äußerlichen Gedanken. Stellen Sie sich vor, Sie würden auf einer Wolke hoch über der Erde schweben … schweben … schweben … schweben …«
»Ach, blödes Band!«, schimpfte Ruby Jordan, als sie ins Arbeitszimmer ihres Mannes stürmte, um das Gerät abzustellen. Wahrscheinlich hatte Rhoda, ihre etwas schlampige Putzfrau, die Knöpfe der komplizierten Anlage beim Abstauben verstellt.
Unerträgliche Kopfschmerzen klopften hinter Rubys Augen, und sie wusste, dass sie noch zunehmen würden, bis Jack nach Hause kam. Ob es wieder zum Streit kommen würde?
Ruby blieb abrupt stehen, als sie Jack entdeckte, der sich ein paar seiner Motivationsbänder fürs Geschäft aussuchte und sie in seinen Aktenkoffer packte.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du zu Hause bist. Warum hast du nicht –«
»Fang nicht wieder an, Rube«, unterbrach Jack Jordon seine Frau, und eine seidige Warnung schwang in seiner warmen, tiefen Stimme mit. »Unser Gezanke steht mir bis hier.« Er fuhr sich ausdrucksvoll mit dem Zeigefinger über die Kehle.
»Mir auch«, flüsterte Ruby und seufzte, ehe sie die Reihe seiner Koffer an der Tür bemerkte. Dann ging er also wirklich. Sie hatte seit Wochen damit gerechnet, aber dennoch stiegen ihr jetzt die Tränen in die Augen.
»Jack, bist du dir auch sicher, dass es das ist, was du willst?« Wie oft hatte sie diese Frage in den vergangenen zwei Wochen gestellt? Was für eine Närrin sie war zu hoffen, dass die Antwort diesmal anders ausfallen würde!
Jack richtete sich aus seiner gebückten Haltung vor der Stereoanlage auf, rieb sich mit einer müden Geste die Augen und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. Er trug noch immer den dunkelblauen Geschäftsanzug, den er heute morgen angezogen hatte.
Ruby wusste, dass der nachgebende Markt für Immobilienhändler ihm ein anstrengendes Jahr bereitet hatte. Einen Monat lang hatten sie sogar auf ihr Gehalt zurückgreifen müssen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können – ein gewaltiger Schlag für sein Ego. Jetzt waren Jacks breite Schultern vor Traurigkeit und Erschöpfung gebeugt. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen. Für einen Moment wurde Rubys Herz weich, und fast hätte sie ihn gefragt, ob sie ihm Abendbrot machen sollte. Fast.
»Rube, unsere Ehe ist unerträglich geworden. Seit langer Zeit haben wir einander nur noch verletzt, und ich habe es satt, es weiter zu versuchen. Ich muss mein Leben weiterführen … wir beide müssen das. Diese Streitereien machen mich kaputt … und belasten meine Arbeit.«
Ruby hörte ihm mit wachsender Bestürzung zu, und ein eisiges Gefühl der Vorahnung hieß sie schweigen. Als sie nicht antwortete, fuhr Jack heiser und schmerzvoll fort: »Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe keine Lust, den Rest meines Lebens mit einer Frau zu verbringen, die mehr Befriedigung aus ihrem Job und ihren Kunden zieht als aus mir.«
»Oh!«, keuchte Ruby, schockiert von seiner Unverblümtheit. »Das ist nicht wahr. Das sieht dir wieder ähnlich, alles in Zusammenhang mit Sex zu bringen.«
»Heh, das ist so ziemlich das einzige, das wir noch gemeinsam haben, und nicht einmal das haben wir in letzter Zeit oft gehabt«, gab Jack mit trockenem Grinsen und einem Achselzucken zurück.
Sein Lächeln, so intim wie ein Kuss, ließ Rubys Herz selbst nach all den Jahren noch Purzelbäume schlagen, und sie musste sich gegen seinen Charme wappnen, ehe sie ängstlich fragte: »Du gehst doch nicht, weil es mit dem Sex zwischen uns nicht mehr stimmt?«
»Das solltest du besser wissen.« Sein Lächeln schwand, und er sah sie aus blauen Augen anklagend an. »Wir könnten auf der Stelle nach oben gehen und einander bewusstlos vögeln, aber das würde nichts ändern.«
»Du bist so grausam!«
»Nun, du brauchst es nicht länger zu ertragen.« Sein Kiefer mahlte, aber dann berührte er ihre zitternden Lippen sanft mit einem liebkosenden Finger. »Es tut mir leid, Babe, ich wollte nicht, dass es so endet. Können wir nicht einfach als Freunde auseinander gehen?«
Ruby erschauerte innerlich bei diesen Worten. Sie versuchte, sich eine Zukunft ohne Jack in ihrem Leben vorzustellen. Die Qual riss mit stählernen Fingern an ihrem Inneren, und sie musste sich die Fingerknöchel an den Mund drücken, um den Schmerz zurückzuhalten.
»Gibt es … eine andere Frau?«, fragte Ruby mit versagender Stimme, die ihren Schmerz verriet.
Wütend fuhr Jack zu ihr herum. »Nein! Das habe ich dir schon ein Dutzend Mal gesagt.« Seine glitzernden Augen funkelten sie herausfordernd an. »Aber du kannst davon ausgehen, dass ich vorhabe, eine andere Frau zu finden, die mich nicht als Chauvinisten betrachtet, nur weil ich für sie sorgen will.« Er holte tief Luft und fuhr mit einem bitteren Unterton fort: »Ich sage dir noch etwas. Unsere Kinder brauchen eine Vollzeitmutter. Du lieber Himmel, wie oft warst du in letzter Zeit mit ihnen zusammen? Sie fühlen sich genauso vernachlässigt wie ich.«
Die Wucht seines zornigen Angriffs traf Ruby unvorbereitet. Sie versuchte, die aufkeimende Hysterie zurückzudrängen, und fragte ruhiger, als ihr zumute war: »Warum fühlen Männer sich immer bedroht, sobald eine Frau erfolgreich ist? Warum können sie nicht akzeptieren, dass eine Frau Beruf und Familie miteinander vereint?«
»Ich habe keine Lust, mich wieder auf diese Frauenbewegungsdiskussion mit dir einzulassen«, erklärte Jack mit kühler Endgültigkeit, räumte noch ein paar Bänder in seinen Aktenkoffer und ließ ihn vernehmlich zuschnappen.
»Ich nehme an, dass du bei irgendeiner Zwanzigjährigen in Stretchklamotten endest, die dich zum Kauf eines Motorrads oder einer Corvette oder so überredet«, gab Ruby zynisch zurück, biss sich aber auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen.
Ein trauriges Lächeln umspielte Jacks Lippen. Seine Antwort kam so schnell und flapsig, wie es nach Jahren des Zusammenlebens Gewohnheit geworden war. »Ich denke eher an eine Dreißigjährige mit einem Körper wie Dolly Parton, der Intelligenz von Barbara Walters und dem Humor von Joan Rivers.« Jacks grimmiger Blick verriet, dass er es nicht lustig fand.
Ruby konnte nicht leugnen, dass seine Worte Schmerz und Eifersucht in ihr weckten. »Dolly Parton! Werde erwachsen! Jane Fonda könnte ich ja noch verstehen, aber Dolly Parton!«
Jack grinste noch immer, was Ruby zu ihrem nächsten Ausspruch bewog. »Wenn man von dem Dolly Parton-Körper absieht, könnte ich die anderen beiden Kriterien erfüllen … glaube ich.«
Jack hörte auf zu grinsen und fragte ernst: »Wonach wirst du Ausschau halten?«
Ruby zuckte zusammen, weil er auf ihr Angebot nicht einging. Glaubte er wirklich, dass sie einen anderen Mann wollte?
Aus verletztem Stolz heraus hob sie den Kopf, aber ihre Verlegenheit wandelte sich rasch in Wut. Trotzig traf sie Jacks Blick. »Das Filmstaraussehen wäre nett, aber es ist nicht das Wichtigste. Außerdem muss ich realistisch sein, denke ich. Ich bin nicht gerade eine umwerfende Schönheit, und Männer meines Alters sehen sich nach einer Jüngeren um.«
»Oh, Rube, das stimmt nicht. Du könntest jeden Mann haben, den du willst.« Zärtlich wanderte sein bewundernder Blick über ihren nur zu vertrauten Körper.
Jeden Mann, bis auf den, den sie brauchte, dachte Ruby, sagte aber nichts, sondern schluckte und entgegnete: »Jack, setz die rosarote Brille ab und sei ehrlich. Achtunddreißigjährige Männer drehen sich nicht nach achtunddreißigjährigen Frauen um.«
»Sie tun es wohl, wenn die Frau so aussieht wie du.« Jack betrachtete sie einen Moment und fuhr dann fort: »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wonach suchst du bei einem Mann? Ich habe es ja offensichtlich nicht.«
Der Schmerz ließ Rubys Kehle eng werden, während Jack ihr dumme Fragen stellte. Dennoch fuhr sie mit der sinnlosen Beschreibung des idealen Partners fort. »Er sollte intelligent sein. Ja, Intelligenz ist ganz wichtig. Und erfolgreich … oh, nicht was das Geld angeht, nur einfach gut bei allem, was er macht …«
Ihre Stimme verklang, und sie riss sich zusammen, um weitersprechen zu können. »In Wirklichkeit ist nichts davon wichtig. Ich will einfach nur einen Mann, der mich liebt. Weißt du, so wie du früher …« Rubys Stimme brach, und sie konnte nicht weitersprechen.
Jack streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, aber Ruby wich ärgerlich aus. »Ich will dein Mitleid nicht. Geh, wenn du gehen willst. Du hast Recht, wir können das Unvermeidliche nicht aufschieben. Geh!«
Nach ein paar Sekunden hörte sie Jack zur Tür gehen. »Ich bleibe im Haus am See, bis ich eine Wohnung gefunden habe«, sagte er seltsam heiser. »Ich rufe die Jungen heute abend an.«
Angesichts dieses Endes einer Ehe, die zwanzig Jahre gehalten hatte, vergaß Ruby ihren Stolz. Himmel, wie oft hatte sie sich geschworen, diese dumme Frage nicht zu stellen, die Frage, die die meisten Frauen unweigerlich irgendwann in ihrem Leben stellen?
»Liebst du mich nicht mehr?«
Jack erstarrte und drehte sich dann hölzern um.
Rubys Herz machte einen Sprung. Dieser attraktive Mann konnte ihr Herz immer noch mit einem einzigen Blick zum Rasen bringen – selbst nach zwanzig Jahren Ehe noch und trotz der grauen Strähnen in seinen blonden Haaren. Die letzten Jahre großer beruflicher Belastung hatten ihre Spuren in seinem markanten Gesicht hinterlassen, aber Jahre des Joggens und disziplinierten Lebens hatten seinen einsachtzig großen Körper schlank und muskulös gehalten. Er hatte keinerlei Mühe, anziehend auf Frauen zu wirken. Bei diesem schmerzhaften Gedanken schloss Ruby kurz die Augen, ehe sie ihn fragend ansah.
Wo waren der feine Sinn für Humor und diese verführerische Sinnlichkeit geblieben, die sie zu einer Affäre an der Highschool und zu einer frühen Ehe verlockt hatten, in deren Anfangsjahren sie gerne zu Hause geblieben war, um seine Kinder zu bekommen? Wie hatte es nur so weit kommen können?
Jacks langes Schweigen auf Rubys Frage sprach Bände, ehe er schließlich seufzte und heiser sagte: »Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich empfinde. Es spielt einfach keine Rolle mehr.«
Seine Worte schnitten Ruby ins Herz.
»Wir brauchen einfach Zeit–«
»Nein! Was wir nicht brauchen, ist noch mehr Zeit, um das hier zu verlängern. Ich habe dich wiederholt gebeten, die Arbeitsstunden in deiner Wäschefirma zurückzuschrauben, damit wir an unserer Ehe arbeiten können. Aber du hast dich geweigert.«
»Ich habe mich nicht geweigert. Ich konnte es nur nicht auf der Stelle tun. Sweet Nothings hat so viele Aufträge, dass ich jemanden hätte einstellen müssen, der meine Aufgaben übernimmt. Nächsten Monat, spätestens übernächsten wäre ich so weit …«
Jack sah sie ungläubig an und hob dann resignierend die Arme. »Ich gebe auf! Dasselbe erzählst du mir seit Monaten. Ruf mich an, wenn du einen Termin für mich frei hast.«
Einige lange Sekunden zögerte Jack – fast bedauernd. Die Zeit stand für sie beide still und ließ sie in einer nostalgischen Wolke verharren. Jacks herzzerreißender Gesichtsausdruck war Ruby voller Zärtlichkeit zugewandt und gab ihr Hoffnung.
Doch dann wandte er sich ab und ging.
Durch einen Tränenschleier sah Ruby auf die geschlossene Tür. Warum wollte Jack einfach nicht verstehen, wie hart sie gearbeitet hatte, um ihre Wäschefirma aufzubauen, wie schwer es war, sie aufzugeben, selbst nur ein Stück davon? Sie liebte Jack doch, liebte ihn wirklich. Warum konnte sie nicht beides haben, ihn und ihre Karriere?
Eine heiße Träne rann ihr über die Wange. Voller Bedauern dachte sie an Jack und all das, was sie verloren hatte. Erinnerungen stürmten auf sie ein. Endlich ergab sich Ruby ihrem Schmerz und schluchzte ihren Kummer laut heraus.
Ruby weinte lange, bis sie sich leer und erschöpft fühlte. Sie ließ sich in einen abgewetzten Ohrensessel sinken – seit dem College Jacks Lieblingsstuhl – und sah sich um. Dann griff sie nach dem Walkman ihres fünfzehnjährigen Sohnes, um die Stille zu füllen. Geistesabwesend legte Ruby das Band ein, das Jack gerade gehört hatte, stellte das Gerät an und lehnte sich zurück, nur um nicht nachdenken zu müssen. Vielleicht würde eines der Motivationsbänder sie dazu inspirieren zu wissen, wie sie ihre Ehe wieder ins Lot bekommen könnte.
Himmel, was habe ich nur für einen Schlamassel aus meinem Leben gemacht!
Ruby rückte ihren jeansbehosten Po bequemer zurecht und überflog die anderen Bänder auf den Regalen des Arbeitszimmers. Sie war kein Gegner von Motivationsbändern, aber Jack war in letzter Zeit geradezu besessen von ihnen gewesen.
Die schlimmsten, aber auch die komischsten, waren die Kojote-Bänder gewesen. Wie oft hatte er sie und die Jungen morgens mit dem Heulen eines Kojoten geweckt und erklärt, dass jeder Tag mit einem optimistischen Grundton anfangen sollte? Sie hatte die Bedeutung des Kojoten vergessen – es hatte irgendetwas damit zu tun, dass Kojoten in der Wildnis überleben konnten und Geschäftsmänner es ihnen in schweren Zeiten nachmachen konnten oder so ähnlich.
Was sie noch sehr gut wusste, war, wie die Jungen ihre Köpfe bei diesem Heulen unter die Kissen gesteckt hatten und nicht mehr mit ihrem Vater hatten Auto fahren wollen, weil er sie zwang, diese Bänder zu hören statt die ihrer Lieblingsband. Trotz ihres Kummers musste Ruby lächeln.
Wie lange das her zu sein schien. Jahrhunderte!
Sie betrachtete wieder die Regale. Hunderte dieser verwünschten Bänder standen dort, von den Videos, Büchern und Postern ganz zu schweigen, alles von dem alten Klassiker »Die Kraft des positiven Denkens« bis hin zu »Du kannst Alles!«.
Sie wusste, was sie tun würde, wenn sie alles könnte. Sie wäre zwanzig Jahre jünger, dachte Ruby trotzig. Sie würde alles für die Chance geben, ihr Leben noch einmal leben zu dürfen, aber dabei das zu wissen, was sie heute wusste. Ganz bestimmt würde sie nichts mehr mit einem Chauvinisten anfangen. Sie würde es nicht zulassen, sich wieder in einen Mann wie Jack zu verlieben, das war einfach zu schmerzhaft.
Wahrscheinlich würde sie nicht noch einmal heiraten. Gut, es hatte viel Schönes mit Jack gegeben, aber Männer verlangten zu viel von der Frau, die sie liebten. Sie saugten ihre Träume aus. Barfuß und schwanger, so wollten sie die Frauen immer noch haben!
Ruby wischte sich die Tränen ab, spulte das Band zurück, drückte auf Wiedergabe und versuchte, alle ihre Sorgen und Entscheidungen zu verdrängen, die sie würde treffen müssen. Eddie und David wussten, dass ihre Eltern Probleme miteinander hatten, aber sie würden am Boden zerstört sein, wenn sie erfuhren, dass ihr Vater gegangen war. Ruby hatte das Gefühl, nur noch an den Fingerspitzen vom Rand einer Klippe herabzuhängen. Ob sie die Kraft hatte, sich wieder hochzuziehen? Oder sollte sie einfach aufgeben und loslassen?
Wieder schossen Ruby die Tränen in die Augen, als die vertraute Stimme vom Band erklang und erklärte: »Sie können Ihr Leben selber kontrollieren.«
Hah!
Der Sprecher fuhr fort. »Ehe wir beginnen, entleeren Sie Ihren Geist von allen anderen Gedanken. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihren Körper verlassen und schweben … schweben … schweben …
Es gibt nichts – gar nichts – auf der Welt, was Sie nicht haben können, wenn Sie es sich sehr wünschen. Der Geist ist ein mächtiges Werkzeug.«
»Oh, Gott, wenn ich doch nur einen Ausweg aus dieser Misere wüsste«, betete Ruby laut. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Jack weitermachen soll.«
»Einige Leute suchen die Antworten im Gebet«, fuhr der Sprecher fort, und überrascht riss Ruby die Augen auf. Wurde sie jetzt auch noch verrückt? Himmel, Telepathie mit einem Kassettenrecorder!
»Gebete sind gut«, beruhigte sie die Stimme, »aber selbst Gott will, dass Sie die Antwort selber finden. Ich versichere Ihnen, es gibt nichts auf der Welt, was Sie nicht schaffen können. Wenn der Wille nur stark genug ist, gibt es immer einen Weg!«
Die predigende Stimme des Sprechers dröhnte weiter und weiter, während Ruby ihren Geist wandern ließ. Völlig entspannt hatte sie das Gefühl, über ihrem eigenen Körper zu schweben. Es war ein himmlisches Gefühl! Leichter als eine Feder schwebte ihr schwereloser Körper in einem blauen Himmel von Wolke zu Wolke.
Ihre Probleme lösten sich auf. Die fünf Pfund zusätzliches Gewicht, die sie wegen der Belastungen der vergangenen Monate zugesetzt hatte, schmolzen dahin. Sie fühlte sich zwanzig Jahre jünger.
Selbst im Schlaf lächelte Ruby.
Es war der Geruch, der Ruby aus ihrem Tiefschlaf weckte – der Geruch nach einem menschlichen Körper. »Okay, Ruby-Baby«, murmelte sie im Selbstgespräch, »schwimm mit dem Strom.« Träume, die sogar ihre Sinne beeinflussten! Das war etwas, was sie ihrem Therapeuten erzählen konnte – falls sie je zu einem hinginge.
Widerwillig schlug Ruby die Augen auf, um sie dann schnell entsetzt wieder zuzukneifen. Als sie erneut hinsah, wurde ihr klar, dass sie noch immer träumen musste, auch wenn es der realistischste Traum war, den sie je gehabt hatte. Ungefähr ein Dutzend zerlumpte Gestalten, die die seltsamste Kleidung trugen, die wie Kartoffelsäcke aussah, drängten sich in einem langen Boot um sie, das sich rasch auf die Küste zubewegte. Dem Geruch nach hatten sie seit Wochen nicht gebadet.
Ruby rümpfte angeekelt die Nase und rückte von einer zahnlosen Alten ab, die sie an ihre schlampige Putzfrau Rhoda erinnerte. Sie kicherte. Man stelle sich vor, da hatte sie den Traum des Jahrhunderts und nahm ausgerechnet ihre Putzfrau mit. Andere Frauen hatten gutaussehende Männer wie Kevin Costner und seine Vorliebe für »lange, tiefe, weiche, nasse Küsse, die drei Tage lang dauern« wie in Bull Durham im Kopf, sie hatte Rhoda. Wie sollte Rhoda ohne ihre Hochglanzmagazine überleben?
»Himmel, bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, rief der Rhodaverschnitt aus.
Jetzt erst erkannte Ruby, dass jedermann im Boot sie anstarrte – als wenn sie die Seltsame wäre. Ruby sah an sich herab. Sie konnte an ihren Turnschuhen, den Jeans und dem großen Eisen-Bälle-Saloon-T-Shirt ihres Sohnes nichts Außergewöhnliches entdecken. Oh, vielleicht war es das Logo, das ein paar Leute verstörte.
Sie begann zu erklären, dass das T-Shirt eigentlich ihrem fünfzehnjährigen Sohn Eddie gehörte, der es ohne ihre Erlaubnis gekauft hatte, hielt dann aber inne. Wirklich, in einem Traum brauchte sie sich doch nicht zu verteidigen.
Ruby glättete den Stoff des T-Shirts über ihren schlanken Hüften, dann fuhr sie zusammen. Schlank! Lieber Himmel, so schlank war sie seit der Zeit vor ihrer ersten Schwangerschaft nicht mehr gewesen. Nicht dass sie je dick gewesen wäre, aber so ein Körper gehörte zur Jugend, nicht zu Geburten und achtunddreißig Lebensjahren.
Verstohlen hob Ruby den Rand des weiten T-Shirts an, schob den Bund ihrer weiten Jeans beiseite und warf einen Blick auf die Haut oberhalb ihres Nabels. Hallelujah! Keine Schwangerschaftsstreifen mehr! Ihr Wunsch hatte sich erfüllt. Sie war wieder zwanzig Jahre jünger.
Breit lächelnd warf Ruby einen Blick über die Schulter … und keuchte auf. Drei große Wikingerschiffe ankerten auf der sonnigen Oberfläche an der Stelle, wo zwei Flüsse zusammenzukommen schienen. Hunderte weiterer Schiffe lagen entlang der Küste oder fuhren in und aus einer breiten Flussmündung, die in die See zu münden schien. So ein Spektakel hatte sie seit der Seglerparade auf dem Hudson vor New York nicht mehr gesehen. Es war ein großartiger Anblick.
Ein lauter Schlag veranlasste sie, sich nach vorne zu drehen. Ihr Boot hatte die Mole erreicht und wurde an Land gezogen. Hunderte von Leuten wimmelten im Hafen durcheinander, und alle waren sie seltsam angezogen.
Einige der Männer trugen eine kurze Tunika, die kaum ihre Knie bedeckte und die Arme bloß ließ, andere dagegen schlichte Hemden ohne Kragen, die bis zu den Knien reichten, über engen Hosen. Gürtel aus Leder oder Gold markierten ihre Taille und hielten kurze Schwerter oder lange Dolche an ihrer Seite.
Lange, weite Tuniken, die an den Seiten offen waren und leinerne Unterkleider zeigten, schmückten die Frauen. An den Schultern waren die Tuniken mit Spangen zusammengehalten, die mit kleinen Scheren, Messern oder Schlüsseln verziert waren.
Ruby fiel auf, wieviel blonde Köpfe in der Sonne schimmerten, von weißblond bis rotblond waren alle Schattierungen dabei. Die älteren Frauen hatten ihr Haar im Nacken hochgesteckt und es mit Schals oder Tüchern bedeckt, die anderen hatten ihr Haar zu Zöpfen geflochten oder trugen es offen über die Schultern fließend.
Die Männer trugen ihr Haar schulterlang und offen, aber auch als Zopf, und sie waren entweder glattrasiert oder trugen Vollbärte.
Fein gearbeitete und reich mit Edelsteinen verzierte Goldarmbänder schmückten Arme und Beine der besser gekleideten Menschen. Einige schienen die Qualität von Museumsstücken zu haben. Wow!
Fasziniert wandte Ruby sich an Rhoda, die sie immer noch misstrauisch beäugte. »Wo sind wir?«
»Jorvik.«
»Jorvik? Wo liegt das?«
»Für die Sachsen heißt es Eoforwic, aber die heidnischen Wikinger nennen es Jorvik. Bist du Sachse?«
»Huh?«, gab Ruby verwirrt zurück. Sie dachte über Rhodas Worte nach. Jorvik? Das klang vertraut. Hatte sie nicht kürzlich etwas über eine archäologische Ausgrabung dort gelesen, irgend etwas mit Wikingern? Plötzlich fiel es ihr wieder ein.
»Oh, Himmel, meinst du York, in England? Und die Schiffe da draußen, sind das Wikingerschiffe?«
Rhoda starrte sie nur mit offenem Mund an. Ruby hatte plötzlich einen verrückten Einfall. Erst verwarf sie ihn, fragte dann aber doch zögernd: »Welches Jahr haben wir?«
Jetzt sah Rhoda sie wirklich so an, als wäre sie aus einer Irrenanstalt entlaufen. »925, warst du lange irgendwo eingesperrt oder so? Vielleicht im Kerker? Oder in einem Kloster, was? Diese Nonnen sind manchmal schlimm. Ich habe mal von einem Mädchen gehört, dem die Männer zu gut gefielen, und ihre Mutter hat sie ins Kloster gesteckt, und da ist sie verrückt geworden, nur weil sie ein Jahr lang kein Mann angerührt hat.«
Gute Güte! Rhoda brauchte ihre Magazine gar nicht zu vermissen. Selbst in diesem primitiven Zeitalter kam sie an den Klatsch, den sie so liebte.
Ruby begann, hysterisch zu lachen, als sie begriff, dass Rhoda glaubte, sie sei verrückt. Was für ein Traum war das nur! Warum konnte sie nicht von Cowboys oder Rittern in schimmernder Rüstung träumen? Warum mussten es Wikinger im mittelalterlichen England sein? Nun, was konnte sie erwarten, so wie ihr Leben sich in letzter Zeit entwickelt hatte?
Sie konnte es kaum erwarten, Jack zu erzählen, dass seine »Geist über Materie«-Bänder wirklich funktionierten. Moment. Das hatte sie vergessen. Jack würde ja gar nicht da sein, wenn sie zurückkam. Oder?
Heftige Kopfschmerzen setzten hinter Rubys Augen ein, die noch zunahmen, als ein Gigant von Mann, der roch wie der Bär, den sie einmal im Zoo gesehen hatte, sie und ihre Begleiter aus dem Boot zog und sie rau auf eine Gruppe an der Seite zuschob.
»Heh«, protestierte sie laut, »pass auf, du Rohling!« Die anderen sahen sie entsetzt an, weil sie so frech war, als wäre sie noch mehr zurückgeblieben, als sie angenommen hatten. Der Goliath sah finster auf sie herab.
»Wie heißen Sie?«, fragte Ruby ärgerlich. »Ich werde mich bei Ihrem … Ihrem Chef über Sie beschweren.«
»Olaf«, knurrte er und versetzte ihr einen weiteren groben Schubs.
»Olaf. Das passt. Der Name passt zum Gesicht.«
Rhoda zog sie zurück und warnte: »Schsch. Hast du keine Angst? Willst du getötet werden?«
Und dann sah Ruby Jack.
Oh, sein hellbraunes Haar war etwas heller und hing ihm bis auf die Schultern, und die schwarze Tunika verhüllte einen jüngeren, kräftigeren Körper – einer, der Arnold Schwarzenegger alle Ehre gemacht hätte – aber das Gesicht gehörte eindeutig dem Mann, neben dem sie die letzten zwanzig Jahre geschlafen hatte. Ein Glück! Diese Traumgeschichte wurde rasch langweilig. Sie wollte gerne aufwachen.
Gleichzeitig begann Rubys Herz beim Anblick des neuen, golden schimmernden Körpers ihres Mannes wild zu schlagen. Sie fühlte sich wieder wie das atemlose achtzehnjährige Mädchen von damals.
»Jack«, rief Ruby glücklich, während Rhoda versuchte, sie zurückzuhalten. Dieser Klotz! Er ignorierte sie. Natürlich, er war wütend auf sie. Hatte er sie nicht gerade erst verlassen?
Er musste mit einem der großen Schiffe angekommen sein, und die Aufmerksamkeit, die er erweckte, machte deutlich, dass er ein wichtiger Mann sein musste. Als er sein Gespräch abbrach, erkannte Ruby, dass sein Arm eine üppige blonde Wikingerin umfasste, die eine grünseidene Tunika mit genügend Geschmeide an Arm und Hals trug, um damit ein Königreich zu finanzieren.
Rubys Schmerz wandelte sich rasch in Eifersucht und dann in weißglühende Wut. Wütend schrie sie erneut »Jack«, aber er sah hartnäckig in eine andere Richtung. Verlogener Schuft! Er hatte gesagt, es gäbe keine andere Frau!
»Betrügerischer, verlogener Hundeso …«, schluchzte Ruby, riss sich von Rhoda und Olaf los und lief auf Jack zu.
Sie würde es ihm schon zeigen. Sie hob ein Stück Dreck auf, so groß wie eine Melone, warf es nach ihm und traf ihn mitten ins Gesicht. Sie war nicht umsonst die beste Werferin in der Schulmannschaft gewesen.
Die große Gestalt fuhr herum, die blauen Augen groß vor Schock, aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, wies Ruby mit dem Finger auf seine Begleiterin und warnte: »Finger weg von meinem Mann, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
Die Frau sah sie aus großen Augen an, als hätte sie einen Geist gesehen, wich zurück, glitt dabei im Matsch aus und fiel flach auf den Rücken.
Ruby lachte bei dem komischen Anblick, bis Olaf hinter ihr erschien, ihr eiserne Arme um den Leib schlang und zudrückte, bis sie dachte, ihre Rippen würden brechen.
»Lass mich runter, du Affe«, schimpfte Ruby. Dann wandte sie sich an ihren Mann. »Jack, sag diesem Gorilla, dass er mich loslässt, er tut mir weh.«
»Nicht Affe, Olaf«, verbesserte der Riese Ruby.
Ruby schnitt eine ungeduldige Grimasse und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Lass mich los, Affe.« Als Reaktion hob er sie noch höher, als wöge sie nicht mehr als eine Feder.
Jack betrachtete sie mit eisigem Blick und biss die Zähne zusammen, um den Drang zu unterdrücken, sie zu schlagen. Langsam wischte er sich mit einem leinernen Tuch den Schmutz vom Gesicht. Seine Freundin jammerte laut, bis einer seiner Begleiter ihr auf den Arm klopfte, um sie zum Schweigen zu bringen.
Es wurde tödlich still um Ruby. Alle Aktivität kam zum Erliegen, als die Menge innehielt um zu sehen, was nun passierte.
Nun gut, ja, vielleicht hätte sie nicht nach ihm werfen sollen, schon gar nicht an einem öffentlichen Ort, aber er hatte kein Recht, sie so böse anzusehen. Immerhin war er derjenige, der im Unrecht war. Ehebruch blieb Ehebruch – sogar im Traum.
Mit ehrfurchtgebietender Haltung kam der Wikinger auf Olaf zu, der sie immer noch in die Luft hielt. Sein wohlproportionierter, kräftiger Körper bewegte sich mit müheloser Grazie, nicht viel anders als ihr moderner Ehemann. Jetzt, wo er ihr nahe war, nahm sie den vertrauten männlichen Geruch seiner Haut wahr. Jack hob in einer fast liebkosenden Berührung ihr Kinn mit dem Finger an. Gewohnheitsmäßig beugte Ruby sich der Liebkosung entgegen, zuckte aber zurück, als eine heiße Flamme sie durchschoss. Jacks gerunzelte Stirn und sein verwirrter Blick zeigten ihr, dass auch er etwas gemerkt hatte. Die Luft um sie herum schien vor Spannung zu knistern.
Doch dann verwandelte Wut Jacks Gesicht. Sie erfuhr sehr schnell, warum. Jack packte ihr Kinn mit einem schmerzhaften Griff und knurrte: »Was bist du für ein Narr, Junge, dass du es wagst, Thork, den Sohn Haralds, König der Norweger, zu schlagen?«
Junge? Er hielt sie für einen Jungen, erkannte Ruby. Kein Wunder, dass die sexuelle Anziehung zwischen ihnen ihn verstörte. Nun, wenn sie in Betracht zog, wie die Männer sich hier kleideten, mochte sie mit den Jeans und ihrem kurzen Haarschnitt schon wie ein Junge aussehen. Aber Jack hatte große Ziele damals – der Sohn eines verdammten Königs? Sollte sie sich jetzt verneigen oder was?
»Wer bist du?«, knurrte Jack wieder und drückte stärker zu. »Spionierst du für Ivar?«
»Ivar? Wer zum Teufel ist Ivar?«
»Du wagst viel mit deiner scharfen Zunge, Junge.«
»Aber Jack, erkennst du mich denn nicht? Ich bin Ruby … deine Frau.«
»Nein, ich habe keine Frau«, erklärte er mit stählerner Stimme, wobei er wütend von einem Fuß auf den anderen trat. »Und ich bin auch kein Sodomit«, setzte er mit einem verächtlichen Blick dahin hinzu, wo er ihre Männlichkeit erwartete. Dann wurde ihm ihr glattes Kinn bewusst, und verwirrt neigte er den Kopf.
Was jetzt?, wunderte sich Ruby. Hatte sie etwas Seltsames gesagt?
Olaf setzte sie auf die Füße, zog ihr aber die Arme auf den Rücken, sodass sie sich nicht bewegen konnte.
Jack starrte auf ihre Brust, und seine Augen wurden groß. Wieder dieses dumme Logo auf dem T-Shirt!
Jack streckte die Hand aus. Sein Zeigefinger glitt sacht über ihren bloßen Arm, als wollte er eine Frage stellen, dann wie zur Bestätigung über ihre zitternde Unterlippe. Dann lächelte er und nickte, als wollte er sich selber eine Antwort geben, gleichzeitig erfreut über die Gänsehaut, die seine Berührung auf ihrer bloßen Haut erzeugt hatte.
Dann tat ihr Mann das Undenkbare. Er streckte rasch die Hand aus und fuhr um ihre Brustspitzen. Er berührte ihre Brüste vor all diesen Leuten! Für diese Erniedrigung würde sie ihn umbringen! Wütend wand sich Ruby in Olafs Griff.
»Bei Thor! Das ist ein Mädchen«, rief Jack aus und wandte sich grinsend zu seinen Begleitern um.
»Hör auf, Jack, das reicht. Sag diesem Mistkerl, dass er mich loslassen soll. Dieser Witz … oder Traum … ist weit genug gegangen. Ich will nach Hause.«
»Erkläre dieses jack, von dem du sprichst.«
»Das ist dein Name, Jack. Jack Jordan. Ich bin deine Frau Ruby. Und ich habe genug von diesem dummen Traum.«
Tränen stiegen ihr in die Augen. Warum benahm sich Jack so seltsam? Ruby schloss fest die Augen. Sie hätte sich in die Wangen gezwickt, wenn Olaf sie nicht weiter festgehalten hätte, also biss sie sich stattdessen auf die Unterlippe, bis sie blutete, und hoffte, aus diesem Albtraum zu erwachen.
Es funktionierte nicht.
Ein paar Leute traten näher und starrten verwundert auf ihre blutende Lippe, als wäre sie wirklich verrückt. Sie war verrückt! Nur eine Verrückte kam in so eine Situation. Vielleicht hatte die Tatsache, dass Jack sie verlassen hatte, sie so weit getrieben.
»Nein, ich heiße Thork«, widersprach der Jack-Klon. »Hör gut zu. Ich habe keine Frau und will auch keine haben. Ich bin ein Jomswikinger.« Jacks tiefe Stimme klang kalt, laut und klar, und die Menge nickte und lächelte erfreut, dass er die Frau so zurechtwies.
Die Leute sprachen eine seltsame Mischung, die sie an altes Angelsächsisch aus dem Mittelalter erinnerte, wie sie es einmal in einem englischen Literaturkurs gehört hatte, wahrscheinlich Altnordisch. Die Sprachen waren einander sehr ähnlich. Seltsamerweise konnte sie alles verstehen. Aber bei einem Traum war das vielleicht gar nicht so seltsam.
Ehe Ruby auf Jacks erstaunliche Worte antworten konnte, trat er näher und fuhr die Buchstaben auf ihrem T-Shirt mit dem Finger nach. Dabei sprach er die Worte laut aus. »Eisenbälle«, las er und sah den Mann neben sich fragend an, dann grinste er, weil er offenbar verstand, was die Worte bedeuteten. Ein paar Männer hinter ihm kicherten. Doch die Belustigung wandelte sich wieder in Ärger.
»Dann bringst du uns also von Ivar die Nachricht, dass die männlichen Teile seiner Männer unseren überlegen sind, weil sie aus Metall sind?« Er sprach so laut, dass alle ihn hören konnten. Himmel, sie war in einem Irrenhaus gelandet.
»Kennst du die männlichen Teile von Ivars Leuten aus eigener Erfahrung, Mädchen?«, fuhr er sie an.
»Sei still, Jack, du bringst mich in Verlegenheit.«
Er ergriff ihr wundes Kinn, drückte es und sah ihr in die Augen. »Thork. Merk dir das, Mädchen, ich heiße Thork.«
Ruby wimmerte vor Schmerz, aber er ließ sie noch nicht los.
»Sag es.«
Als sie nicht gehorchte, drückte er härter zu. »Thork, du Klotz! Thork! Thork!«
»Klotz ist besser, eine würdige Anrede«, warnte er sie.
»Oh, ja, es bedeutet soviel wie Herr und Meister.«
Jack sah nicht überzeugt aus, ließ sie aber trotzdem los und wandte sich an die Umstehenden. »Ich glaube, Ivar schickt dieses jungenhafte Mädchen, um uns herauszufordern. Ja, er fordert uns wieder zum Krieg. Es ist schlimm genug, dass er unser Land überfällt, während wir Handel treiben. Jetzt schickt er uns diese verletzende Botschaft. Eisenbälle! Hah! Sollen wir Ivar ein für allemal beweisen, wer die besseren Männer hat?«
Die Menge begann zu brüllen wie Donnerhall. Gute Güte. Hatte man je davon gehört, dass ein T-Shirt einen Krieg auslöste? Ruby versuchte, die Sache zu erklären, aber Olaf legte ihr seine schmutzige Hand auf den Mund. Wütend trat sie ihm auf den Fuß, aber zu ihrem Ärger zuckte er nicht einmal zusammen. Stattdessen grinste er nur selbstgefällig. »Nicht Affe. Olaf.«
Vielleicht war der Mann doch nicht so dumm, wie sie gedacht hatte.
»Wir müssen diesen Spion zu König Sigtrygg bringen«, befahl Thork. »Lassen wir ihn über sein Schicksal bestimmen und darüber, ob wir gegen Ivar zu Felde ziehen sollen.« Wieder brüllte die Menge Zustimmung.
»Das hast du jetzt davon«, flüsterte Rhoda ihr ins Ohr. »Sigtrygg der Einäugige ist ein gemeiner Hund. Wahrscheinlich schlägt er dir den Kopf ab oder sticht dir ein Auge aus. Oder –«
»Mach einen Punkt, Rhoda. Du hast wieder zu viele Magazine gelesen.«
»Komm, Spion«, befahl Jack. »Die anderen Sklaven bleiben hier.«
»Wen nennst du hier einen Sklaven?«, protestierte Ruby und schaffte es endlich, sich aus Olafs Griff zu winden. »Ich bin nicht mehr Sklave als … als du.«
Jack besaß den Nerv, sie anzugrinsen. Er schien ihr Unbehagen wirklich zu genießen. Dann überraschte er sie, indem er ihr schützend den Arm um die Schultern legte und sagte: »Schweig still, wenn dir dein blonder Kopf lieb ist, Schätzchen. Die Menge wittert Blut.«
Schätzchen! Ruby lächelte und wagte es das erste Mal an diesem Tag, auf eine Versöhnung zu hoffen. Aber sie hatte nur einen kurzen Moment, um den Kosenamen zu genießen.
»Schneid ihr hier und jetzt den Kopf ab«, verlangte ein Mann. »Wickele ihn in ihr Hemd und schick das Ganze an Ivar.« Ruby sah Rhoda nicken als wollte sie sagen, »Ich habe es dir ja gesagt.«
Ein anderer rief: »Wozu warten? Schlag ihr den Kopf ab, sie ist ein Spion. Vielleicht sogar Ivars Geliebte. Was gibt es für einen besseren Weg, eine Nachricht zu überbringen?« Dem Brüllen der Menge nach schien diese Idee vielen zu gefallen.
Instinktiv trat Ruby näher zu Jack. Warum stieß ihn der Vorschlag, sie zu köpfen, nicht ab? Sie war oft genug mit ihm zelten gewesen, um zu wissen, dass er nicht einmal eine Forelle ausnehmen konnte, ohne dass ihm übel wurde. Er sollte eigentlich ihr Ritter in schimmernder Rüstung sein. Er müsste sie jetzt heldenhaft retten und dann mit ihr in den Sonnenuntergang hineinreiten. War es in Träumen nicht so?
Stattdessen stellte Jack laut fest: »Nein, der König muss entscheiden. Vielleicht will er das Thing nächsten Monat entscheiden lassen.« Dann wandte er sich abrupt ab und sprach einen gut gekleideten Mann neben sich vertraulich an: »Selik, wir vertun zu viel Zeit, ich habe eine wichtige Botschaft für Sigtrygg von König Athelstan in Wessex – viel wichtiger als eine kleine Spionin.«
Wieder wandte Jack sich zu Ruby um und packte sie am Arm, um sie durch die Menge zu zerren, die vor ihnen zurückwich. »Ich werde diese Spionin später zu einem privaten Verhör in mein Schlafzimmer bringen lassen«, enthüllte er seinen Begleitern mit einem Augenzwinkern. »Vielleicht besitzen die Frauen aus Ivars Land auch Metallteile.«
Die Männer lachten, und einer schlug vor, dass man doch sofort nachsehen könnte. Jack blieb stehen, den Arm immer noch schützend um ihre Schultern gelegt, und schien tatsächlich über ein öffentliches Ausziehen nachzusinnen.
Verlegen versuchte Ruby, Thork gegen die bloßen Beine zu treten. Sie dachte nicht mehr als Jack an ihn. Jack wäre niemals so grausam.
Thork lachte, als Ruby wirkungslos mit den Fäusten auf seine Brust einhämmerte, dann hob er sie einfach hoch und legte sie sich über die Schulter, wo sie schrie und die Menge zu noch größerem Gelächter anregte. Einem Mann befahl er, zur Burg vorauszugehen, um dem König anzukündigen, dass sie kamen, und einen anderen schickte er zum Haus seines Großvaters in Northumbria, um ihm zu sagen, dass er später kommen würde. Einen dritten Mann wies er an, das Schiff zu entladen und ihm abends Bericht zu erstatten.
Als er Ruby wie einen Sack Mehl zurechtrückte, biss sie ihn in die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Mit einem belustigten Kichern schlug Thork ihr mit der flachen Hand auf den Po, der provozierend in die Luft ragte, und ließ die Hand dann dort liegen, um sie intim zu streicheln. Ruby errötete, nicht nur, weil sie mit dem Kopf nach unten hing.
Wieder lachte die Menge zustimmend, als der Klotz in einer Seitenbemerkung raunte: »Vielleicht sind die weiblichen Teile bei den Frauen aus Ivars Land wirklich aus Metall. Ihr Po fühlt sich so knochig an wie ein Hase im Winter.«
Dafür würde er büßen, schwor sich Ruby, als er sie davontrug. Irgendwann, irgendwie würde sie einen Weg finden, um es diesem seltsamen Mann heimzuzahlen.