9. Kapitel

Thork lachte nicht lange.

Als Esle diese Nacht im Palast in sein Schlafzimmer kam, schickte er sie weg. Ihm ging zu viel durch den Kopf.

Er war unachtsam gewesen. Heute hatte er zum ersten Mal die dünne Linie überschritten, die er schon lange als Grenze für eine Beziehung zu einer Frau gezogen hatte.

Risiken! Er hatte zu Ruby von Risiken gesprochen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Dass er sich in Gefahr brachte, machte ihm wenig Gedanken. Er blickte immerzu dem Tod ins Auge, aber Eirik und Tykir bedeuteten ihm zu viel, um ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Und Ruby? Er wusste, dass er auch sie in Gefahr brachte, wenn er sich mit ihr einließ. Bedeutete ihm das etwas? Beim Thor! Natürlich tat es das. Das verflixte Mädchen hatte sich wie ein Splitter in sein Herz geschoben. Erschöpft und voller Selbsthass schloss er die Augen. Das musste auf der Stelle ein Ende haben. Jetzt war es sicher noch nicht zu spät.

Die zehn Jahre der Jomswikingerschaft hatten Thork wie nichts anderes zur Disziplin erzogen. Bis zum Morgen war er fest entschlossen, sich zu beherrschen und auf Distanz zu dieser verwirrenden Frau zu gehen. Frauen waren dazu da, das Bett eines Mannes zu wärmen, zu nichts sonst.

Ruby fühlte sich durch Thorks Kälte an diesem Morgen tief verletzt. Die Pferde waren gesattelt und mit Gepäck für alle aus Olafs Familie und die anderen beladen worden.

Erst hatte Ruby sich nicht vorstellen können, was Thorks Stimmungswechsel hervorgerufen hatte, aber dann hatte sie ihn sich mit dem Chaos auf Olafs Hof erklärt.

Ruby lachte laut, als sie das kurze Stück bis zum Stadtrand von Jorvik ritten und Tyra ihre Mutter schon fragte: »Wann sind wir da?« Kurz darauf jammerte sie: »Ich muss mal.«

Doch Rubys Lachen erstarb, als Thork grußlos an ihr vorüberritt. Seine muskulösen Beine in engen Leggings lenkten sein Pferd meisterhaft. Er hatte den Kopf selbstbewusst erhoben, aber in einer Wange zuckte ein Muskel, als er sie bewusst schnitt.

Nach der Strafpredigt gestern wäre Ruby über sein Verhalten nicht überrascht gewesen, wäre er nicht anschließend in ihr Zimmer gekommen. Der Wechsel seiner Gefühle von Heiß zu Kalt machte sie verrückt.

Dann verdrängte Ruby ihre verletzten Gefühle und wandte sich an Gyda. »Es tut mir leid, dass ich dir soviel Kummer gemacht habe, vor allem gestern, als Olaf so zu dir sprach.«

Gyda schnalzte mit der Zunge. »Keine Entschuldigungen, Mädchen. Wenigstens habe ich seit Jahren nicht mehr so gelacht, genau wie Olaf und Thork, auch wenn sie es nie zugeben würden. Haben Olaf und ich gestern richtig gehört, dass Thork in deinem Zimmer war?«

Ruby erzählte ihr von Thorks Bericht über die Geschehnisse bei Hof. Gyda kicherte und ergänzte noch einiges, das sie von Olaf erfahren hatte. »Am Komischsten war, als sie am Hof eintrafen und Sigtrygg sie alle anschrie und Thork etwas Graues in die Hand drückte, von dem keiner wusste, was es war.«

»Oh nein!«

Gyda lachte jetzt laut heraus. »Du errätst nie, was dann geschah. Das Ding, das er ihm gab – es war Freydis Kondom – Ruby, …« Gyda musste ihr Lachen in den Griff bekommen. »Oh, es war so komisch. Du musst wissen, Freydis hat noch … Troddeln ans Ende genäht.«

»Neeeein!«, schrie Ruby auf.

Als sie auf einem großen Stamm ihr Mittagsmahl aus kaltem Fleisch einnahmen, warf Thork ihr dann und wann einen Blick zu. Ob er das Band zwischen ihnen spürte? Auch wenn er ihr ihre Geschichte von der Zukunft und dem Leben, das sie gemeinsam verbracht hatten, nicht glaubte, konnte auch er die besondere Anziehungskraft zwischen ihnen, die bei jeder Berührung aufflammte, nicht leugnen. Doch Thorks Gesicht verriet nichts, und Ruby fühlte sich sehr verlassen – mal wieder.

Sie wollten vor Einbruch der Nacht in Dars Haus sein, aber die lange, ermüdende Reise forderte bereits am Nachmittag ihren Tribut. Die glückliche Tyra schlief tief in einem der Wagen, nachdem Ruby sechsmal ein Schlaflied für sie gesungen hatte.

Alle fuhren aus ihrer Lethargie, als sechs Berittene plötzlich aus einem Waldstück hervorbrachen und Dar, der mit Selik am Schluss ritt, mit sich rissen. Die Reiter mussten ihnen schon eine Weile gefolgt sein, denn sie hatten Dar in dem verletzlichen Moment getroffen, als er die Seite seines Enkels verlassen hatte, der am Kopf des Zuges ritt.

»Bring die Frauen und Kinder von der Straße«, rief Thork besorgt zu einem Chor von Flüchen gegen die Männer, die den Feind nicht hatten kommen sehen. »Selik, du bleibst mit Eirik und Tykir hier und bewachst die Frauen.«

Mit grimmigen Gesichtern galoppierten Thork und Olaf mit sechs Männern davon. Über zwei Stunden, die Ruby wie Wochen vorkamen, betete und weinte sie wegen Dars Schicksal und vor Angst um Thork und seine Männer.

Als die Männer ernst blickend zurück kamen, zählte Ruby sie schnell durch. Sie waren alle zurück und hatten Dar wieder mitgebracht, der unverletzt schien, auch wenn seine Kleidung zerrissen war.

Zusätzlich kamen zwei blutverschmierte Fremde mit, die Arme auf den Rücken gefesselt. Tiefe Peitschenwunden bedeckten ihre nackten Oberkörper. Ein Mann blutete heftig aus einer Schwertwunde in der Schulter, der andere hatte eine riesige Beule auf der Stirn. Offenbar hatte man sie nach ihrer Gefangennahme geschlagen, um ihnen Informationen zu entlocken.

Als sie abstiegen, meldete Thork Selik: »Zwei tot, zwei entkommen.«

»Irgendwelche Informationen?«

»Noch nicht. Aber ich verspreche dir, dass sie noch heute reden werden.« Kalte Wut blitzte aus Thorks blauen Augen. Seine Feinde würden kein Mitleid zu spüren bekommen.

»Werden sie sterben?«, wandte Ruby sich angstvoll an Gyda.

»Oh, ja, und schon recht bald. Wahrscheinlich foltern sie sie mit dem Blutadler.«

Seltsamerweise sagte Gyda das ohne jede Abscheu für dieses barbarische Verhalten. Gut, es war schlimm, dass diese Männer Dar hatten entführen wollen, aber die Todesstrafe war dafür doch nicht angemessen.

»Was ist ein Blutadler?«

»Hast du nie davon gehört?« Gyda war überrascht. »Nun, so oft wird er nicht mehr angewendet. Das ist das, was die drei Dänenbrüder Halfdan der Umarmende, Ubbi und Ivar der Knochenlose vor fünfzig Jahren mit König Aella gemacht haben, um sich dafür zu rächen, dass er ihren Vater Ragnar in eine Schlangengrube geworfen und zugesehen hatte, wie er totgebissen wurde.«

Ragnars Söhne haben den Tod des Vaters an Aella mit dem Blutadler gerächt.«

»Was genau ist ein Blutadler?«, brachte Ruby heraus.

»Das ist der langsamste und quälendste Tod von allen. Die Wikinger binden den Feind an einen Baum und brechen ihm das Rückgrat, sodass die Rippen wie Flügel abstehen und man das Herz sehen kann. Die Lungenflügel werden herausgezogen und auf seinen Rücken gelegt, auch wie Adlerschwingen«, beschrieb Gyda die grausamen Einzelheiten. »Das gilt als edles Opfer für Odin.«

»Und das traust du Thork zu?« Ruby musste bei der Vorstellung würgen.

Verwirrt runzelte Ruby die Stirn. »Warum denn nicht? Er ist ein Jomswikinger, aber jeder würde das tun, um seine Familie zu schützen.«

Ruby versuchte, die Bilder, die sich ihr aufdrängten, zu verdrängen. Thork ignorierte sie noch immer. Dars Beinaheschicksal schien ihn noch in seiner Entschlossenheit zu bestärken, die Ruby nicht einordnen konnte, die aber offenbar mit ihr zu tun hatte.

Wegen der Verzögerung wurde es bereits dunkel, als sie Dars großes Anwesen erreichten, das inmitten von Feldern und Schafweiden lag. Das Anwesen war berühmt für seine Yorkshire-Wolle. Schäfer mit Hunden und Hirtenstab arbeiteten, um die Herden zu den Wiesen zu bringen. Man sah Farmer und Hirten, die gut genährt und glücklich wirkten, als sie von den bestens gepflegten Feldern nach Hause kamen.

Gyda hatte Ruby einmal das Klassensystem der Wikinger erklärt: Hochkönige, Könige oder Adelige, Landadel mit Jarls und Earls, niedriger Adel, der hesir genannt wurde, Pächter oder Farmer, Freie und Handwerker und ganz unten schließlich die Sklaven. Ruby hatte erst Mühe, alles auseinander zu halten, bis sie die Titel mit den Namen verknüpfte. König Harald war natürlich Hochkönig, Dar und Thork waren Jarls, auch wenn Thork seinen Titel nicht führte, Olaf und Selik waren hesir.

Die Häuser in den Dörfern, an denen sie vorbeikamen, waren im Wikingerstil erbaut – lange, rechteckige Gebäude mit Weidengeflecht als Wände und Strohdächern, an die sich Außengebäude und Scheunen anschlossen.

Als sie das Dorf passiert hatten, ritten sie auf das Herrenhaus zu, das auf einem Berg lag, den Gyda Motte nannte.

Innerhalb des Hofes lagen die Stallgebäude und verschiedene Wirtschaftsgebäude, die das zweistöckige herrschaftliche Haus aus grauem Stein umgaben, das an eine kleine Burg erinnerte. Auch alte Holzgebäude waren noch zu erkennen.

Auf den Stufen stand eine ganze Anzahl gut gekleideter Männer und Frauen und erwartete die Ankunft der erschöpften Reisegesellschaft. Als erste trat die grauhaarige Aud vor, um ihren Mann Dar mit einer warmen Umarmung zu begrüßen. Dann umarmte sie auch Thork.

Dar ließ die beiden Gefangenen zu einem der kleinen Steinhäuschen im Hof bringen. Aud sah fragend zwischen ihnen und Dar hin und her, bewahrte sich ihre Fragen aber für später auf.

»Herzlich willkommen, Thork!« Eine junge, dunkelhaarige Frau trat vor, küsste Thork auf den Mund und lächelte ihn dann einladend an. Mit Grübchen in den Wangen legte sie den Kopf auf die Seite und fragte: »Hast du mich auch nur annährend so sehr vermisst wie ich dich?«

»Ts, Ts«, missbilligte Gyda das unziemliche Verhalten der jungen Frau.

»Es sieht Linette nicht ähnlich, sich in Gesellschaft so zu benehmen«, erklärte Gyda. »Sie führt sich auf wie eine Dienstmagd, statt wie die Witwe eines niedrigen Adeligen, die sie in Wirklichkeit ist.«

Doch dann setzte sie hinzu: »Obwohl es schön wäre, wenn Thork sich niederließe und seine Wanderlust ein Ende hätte. Selbst wenn es so jemand ist wie Linette.«

Thork – dieser betrügerische Schuft – schien das Entgegenkommen der Witwe durchaus zu schätzen. Er erwiderte ihren Kuss nämlich sehr herzlich. Der Schurke!

Ruby musste Tränen des Schmerzes und der Eifersucht zurückhalten. Sie durfte Thork nicht merken lassen, wie sehr seine Untreue sie verletzte.

Thork drückte Linettes Schulter. »Ich habe dich mehr vermisst, als du wissen kannst, Liebling!« Dabei sah er Ruby direkt an, um sicherzugehen, dass sie seine Worte gehört hatte.

Liebling!

Deshalb also hatte Thork sie den ganzen Tag über ignoriert. Er hatte gewusst, wer ihn hier erwartete, und sie interessierte ihn nicht länger. So würdig wie möglich stieg Ruby mit den Kindern aus dem Wagen. Ihre müden Muskeln schmerzten nach dem langen Ritt, und als sie gehen wollte, bewegte sie sich wie ein greiser Krüppel. Ruby bürstete sich die Tunika ab und wusste, dass sie unmöglich aussehen musste.

Nachdem der erste Wirbel um Ankunft, Ausladen und Versorgen der Pferde sich gelegt hatte, stellte Thork Ruby seiner Großmutter vor.

»Willkommen in meinem Heim. Ich werde dir später viele Fragen zu der interessanten Unterwäsche stellen, von der ich so viel gehört habe.« Auds Augen, die sehr an Thorks erinnerten, zwinkerten fröhlich. Ruby hatte eine Garnitur Wäsche als Geschenk für Aud mitgebracht, die sie ihr später geben wollte.

Weil die Besuchergruppe so groß war, würde Ruby mit dreien der Mädchen in einer Kammer schlafen, in die rasch provisorische Betten geschafft worden waren. Als sie ihre Sachen hereinbrachten, merkte Ruby, dass Thork und Linette nirgendwo zu sehen waren.

Die drei Wochen würden ihr lang werden!

Sobald Ruby auf dem Bett lag, das kaum mehr als ein Brett mit einem Strohsack darauf war, schlief sie auch schon. Emotional und körperlich erschöpft brauchte sie jetzt nur Erholung.

Früh am nächsten Morgen wachte sie durch das Geschwätz der Mädchen auf. Sie gingen in die Halle hinunter.

Dars große Halle vereinte norwegische und saxonische Elemente. Martialische Helme, Schilde und Schwerter bedeckten die eine Wand und führten Besuchern vor Augen, dass Gäste willkommen waren, eine Herabsetzung der Familienmitglieder aber nicht gestattet war. An der gegenüberliegenden Wand hingen Wandteppiche mit Bildern der nordischen Götter Thor und Odin, daneben der christliche Heilige St. Georg im Kampf mit dem Drachen.

Anders als bei den Wikingern, die eine offene Feuerstelle in der Mitte des Hauses hatten, gab es hier die saxonische Variante eines riesigen Kamins an der Westseite der Halle. Davor stand eine Gruppe gepolsterter Sessel. Gekocht wurde in der Küche, die in einem Extraraum untergebracht war.

Die Mädchen machten sich auf der Suche nach ihrer Mutter davon, und Ruby wollte gerade das Haus erkunden, als sie überrascht stehen blieb. »Rhoda! Du bist hier? Das wusste ich ja gar nicht. Wie wundervoll!«

Die verblüffte »Rhoda« sah sich um, um zu sehen, wen Ruby meinte, dann wich sie zurück, als sie die verrückte Frau vom Hafen wiedererkannte. »Ich heiße … ich heiße Ella«, stieß sie hervor. »Warum nennst du mich bei dem anderen Namen?«

Ruby umarmte die schockierte Sklavin und erklärte: »Du siehst aus wie meine Putzfrau Rhoda. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Es tut nur so gut, jemanden von Zuhause zu sehen … nun, jemanden, den ich für bekannt hielt.«

»Putzfrau?«, echote Ella schwach.

»Die Frau, die zweimal die Woche mein Haus sauber macht.«

»Das muss ein armes Haus sein, wenn es sich nur eine Sklavin leisten kann«, murrte Ella. »Hast du keine Köchin, Stalljungen und Leibeigene für die Felder?«

Ruby lächelte.

»Nein, meist koche ich selber, und Pferde haben wir nicht.«

Ella beäugte sie zweifelnd und überlegte offenbar, dass Ruby nicht so hochgeboren sein konnte, wie ihre Behauptung, von Hrolf abzustammen, sie hatte glauben lassen.

Jetzt sah Ruby Aud mit einem großen Schlüsselbund an der Schulter in einen Raum treten, in dem offenbar gewebt wurde. Rasch umarmte sie Ella noch einmal und versprach: »Wir reden später weiter.«

Ruby folgte Aud in das Zimmer, in dem ein riesiger Webstuhl den meisten Platz einnahm, auf dem die berühmte Yorkshire-Wolle gesponnen wurde.

»Guten Morgen«, grüßte Aud, »hast du schon gefrühstückt?«

»Ja, und jetzt wollte ich mich gerade etwas umsehen, falls ich darf.«

»Natürlich. Ich habe noch zu tun, sonst würde ich dich begleiten, aber wende dich doch an Linette, sie kann dich herumführen. Ihr Zimmer ist die letzte Tür rechts im zweiten Stock.«

»Vielleicht mache ich das.« Nicht sehr wahrscheinlich! »Wo sind die anderen?«

»Die Frauen schlafen noch. Die Männer sind seit dem Morgengrauen mit den Gefangenen draußen.«

Ruby ging nach oben, um sich ein Cape zu holen, denn die Morgenluft war kalt. Auch hatte die Erwähnung der Gefangenen Ruby das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Dann zog die Neugier Ruby doch in Richtung von Linettes Zimmer, wo die Tür einen Spalt breit offen stand. Sie wollte nur Mal einen Blick hineinwerfen, sagte sich Ruby, aber als sie das Zimmer leer vorfand, trat sie einfach ein. Anscheinend war das Schloss nicht so voll, dass die schöne Linette nicht ein Zimmer für sich alleine bekommen könnte, etwa viermal so groß wie die Kammer, die sie sich mit den Mädchen teilte.

Und luxuriös ausgestattet! Ein weicher Orientteppich bedeckte den Steinfußboden, schön gestickte Wandteppiche die kahlen Wände. In der Mitte stand ein großes Himmelbett auf einer Erhöhung, und die Vorhänge waren aus schwerer Seide. Überall lagen wunderschöne Kleider, Schuhe und Mäntel herum. Ruby wollte rasch wieder gehen, um nicht beim Schnüffeln ertappt zu werden, doch dann sah sie zufällig aus dem Fenster zum Hof.

Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber kein Laut drang hervor.

Im Hof lagen die beiden Gefangenen in ihrem Blut, das aus tiefen Schwertwunden im Rücken strömte. Olaf und Thork standen teilnahmslos daneben, während einer der Unglücklichen noch Todesschreie ausstieß.

Ruby konnte diese Grausamkeit nicht länger mit ansehen und floh aus dem Zimmer. Sie wollte in ihr Zimmer, war aber blind vor Tränen.

Thork hatte einen Mann mit eigener Hand getötet! Von seinem Schwert tropfte das Blut eines anderen Menschen – nicht aus Notwehr getötet, sondern aus kalter Wut.

Dieser Mann war ein Unbekannter für sie. Wie hatte sie glauben können, dass sie ihn kannte?

Ruby öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, sah aber sofort, dass sie sich geirrt hatte. Linette schlief nackt in einem großen Bett. Das Zimmer war so groß wie das von Linette, aber die Einrichtung ließ eher an einen männlichen Bewohner denken.

Ein Schauer überlief Rubys Körper. Verzweifelt sah sie sich um und erkannte Thorks Tunika und Mantel, die er gestern getragen hatte, an einem Haken.

Das war Thorks Zimmer. Und Linette hatte mit ihm die Nacht verbracht.

Ruby hatte das Gefühl, einen Tritt in den Magen bekommen zu haben. Eigentlich durfte sie nicht überrascht sein, aber sie hatte am vorigen Tag das Gefühl gehabt, als hätte Thork die Szene nur inszeniert, weil sie zusah. Was war sie doch für eine Närrin. Ruby schluchzte auf und wollte gehen.

»Wer bist du? Was hast du in Thorks Zimmer zu suchen?«, schrie Linette da auf. Sie setzte sich hin und zog ein Laken über ihre Brüste. – »Bist du die lästige Sklavin, die Thork aus Jorvik mitgebracht hat? Spionierst du hier auch?« Boshaft kniff sie die Augen zusammen. »Am Ende bist du hier, um Thorks Wein zu vergiften.«

Das war zu viel.

»Hör zu, du dämliches Flittchen …«, begann sie, brach dann aber voller Abscheu ab. Was sollte es. Sie drehte sich um und lief davon, die keifende Linette zurücklassend.

»Komm sofort zurück, du hässliches Gör, oder ich werde dich auspeitschen lassen«, rief Linette ihr nach. »Du gehorchst mir nicht? Na warte, Sklavin, du wirst schon noch lernen, deiner Herrin zu gehorchen.«

Ruby war es egal, was sie mit ihr machten. Heute Morgen waren ihr die Augen geöffnet worden, und sie glaubte nicht, dass sie noch mehr verletzt werden konnte, als sie ohnehin schon war.

In ihrem Zimmer wurde Ruby von Schluchzen geschüttelt. Sie weinte wegen der Brutalität, die sie mit angesehen hatte. Sie weinte wegen Thorks »Ehebruch« mit einer anderen Frau. Dann kam schließlich die Reaktion darauf, dass Jack sie verlassen hatte. Ruby trauerte wegen der Scheidung und um ihr altes Leben, das sie verloren und gegen diese grausame Zeit eingetauscht hatte.

Schließlich versiegten Rubys Tränen, und sie erkannte, dass der Anfall von Selbstmitleid eine neue Reaktion ausgelöst hatte. Sie war wütend. Für wen hielten diese Leute sich – Thork, Jack, Linette, die ganze Bande dummer Wikinger – sie so zu behandeln?

Ich bin Ruby Jordan. Ich werde mich nicht auf die Schlachtbank legen. Ich bin eine Kämpferin. Ich werde diesen Albtraum überleben!

Ruby konnte sich nicht vorstellen, dass sie bis in alle Ewigkeit in dieser Zeitfalle gefangen sein würde. Sie musste nur aufhören, Unruhe zu machen, und warten. Sie hatte niemanden – keine Menschenseele – auf den sie sich verlassen konnte. Das wusste sie jetzt ganz genau.

Ihr stärkster Schutz war die Verwandtschaft mit dem Herzog der Normandie. Sie musste hier alle davon überzeugen, dass er in der Tat ihr »Großvater« war, damit sie es nicht wagten, ihr etwas anzutun. Sie durfte nur ihre Emotionen nicht dazwischentreten lassen.

Gib es zu, Mädchen, du warst drauf und dran, dich in diesen verdammten Wikinger zu verlieben.

Ruby rollte sich auf ihrem Bett zusammen und schlief ihre Erschöpfung aus. Mehrere Stunden später erwachte sie, froh, dass niemand sie gestört hatte. Wahrscheinlich hatten sie zu viel damit zu tun, Leute umzubringen.

Sie leerte den ganzen Wasserkrug in die Schüssel und wusch sich von Kopf bis Fuß mit Wasser und Seife. Dann durchsuchte sie ihre neue Wikingergarderobe nach etwas Tragbarem für das Abendessen unten in der Halle. Sie entschied sich für eine cremefarbene Samttunika mit dunkelgrüner Borte zu einem jadegrünen Unterkleid. Gyda hatte ihr erlaubt, sich Kleider zu ändern, die Astrid nicht mehr passten. Um den Hals trug Ruby den schönen Smaragd, den Byrnhil ihr gegeben hatte, ehe ihr auffiel, dass sie vergessen hatte, Thork seine Drachenbrosche wiederzugeben. Ohne jedes Schuldgefühl steckte sie sie an ihr Kleid und schwor sich, sie erst zurückzugeben, wenn sie dazu aufgefordert wurde.

Jetzt kamen die drei Mädchen plappernd herein, verstummten aber sofort, als sie Ruby sahen. Ruby holte neues Wasser und half ihnen beim Anziehen, wobei sie sich über ihr seltsames Verhalten wunderte.

»Was ist passiert? Was habe ich diesmal getan?«

Die Mädchen sahen einander verlegen an, antworteten aber nicht. Das einzige, was Ruby einfiel, war Linette.

Na gut, dachte sie. Anscheinend hieß es: sie gegen die Wikinger. Gegen alle! Aber das passte gut zu ihrem neuen Plan, sich mit niemandem mehr näher einzulassen.

Sie gingen zusammen in die überfüllte Halle hinunter, wo Ruby sich möglichst weit nach hinten setzte, während die Mädchen zu ihrer Mutter gingen, wo auch Dar, Aud, Thork und Linette Platz genommen hatten sowie mehrere hesirs mit ihren Frauen, die Ruby noch nicht kennen gelernt hatte.

Ruby wusste sofort, dass es neuen Ärger geben würde. Alle wandten sich kühl von ihr ab.

Sie aß schweigend und wurde von der niedrigen hesir an ihrer Seite ignoriert. Ruby hatte Hunger, weil sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Doch sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe man sie über ihr jüngstes Verbrechen informieren würde.

Ella, die Rhoda-ähnliche Bekannte, gab ihr den ersten Hinweis. »Der Gefangene hat gestanden«, flüsterte sie ihr ins Ohr, als sie Wein nachschenkte. Ruby sah auf, merkte aber, dass Ella nicht wollte, dass man sie im Gespräch mit Ruby sah. »Sie kamen von Ivar. Ein Verräter unter uns hat ihm die Reiseroute verraten.« Damit verschwand Ella zurück in die Küche.

Verletzt warf Ruby einen Blick zu Thork hinüber, obwohl sie sich geschworen hatte, von ihm nichts mehr zu erwarten. Wie konnte er nur denken, dass sie Dar verletzen würde? Als Thork sie mit kalter Verachtung ansah, verhieß Ruby der Mut. Genau das dachte er.

Thork hatte gesehen, wie Ruby zum Essen in die Halle gekommen war, erschüttert über die Information und erneut entschlossen, sich von dem mysteriösen Mädchen fern zu halten.

Alles deutete auf sie als Informantin hin, aber er konnte nicht glauben, dass sie seinen Vater oder seine Söhne, die sie doch als ihre ansah, absichtlich in Gefahr bringen würde. Vielleicht war der Plan außer Kontrolle geraten. Vielleicht hatten die Männer Thork entführen sollen, was ihnen aber nicht gelungen war. Deshalb hatten sie Dar gewählt, ohne dass Ruby davon wusste. Das aber hieße, das Ruby seinen Untergang plante. Bedeutete er ihr so wenig? Wirklich, sagte er sich, warum wurde er von der Natur der Frauen immer wieder aufs Neue überrascht?

Dar und Olaf wollten, dass sie gefoltert wurde, um zu reden, zumal Linette behauptet hatte, dass sie am Morgen in seinem Zimmer gewesen war, um ihn umzubringen. Ihre Geschichte hatte überzeugend geklungen.

Thork und Dar waren daraufhin in Rubys Zimmer gegangen, wo sie in unruhigem Schlaf gelegen hatte. Die Worte, die sie im Schlaf vor sich hin murmelte, hatten den Verdacht noch verstärkt. »Tot! Sie haben die armen Männer getötet! Oh, Himmel, diese grausamen Barbaren. So viel Blut, alles unnötig. Vergib ihnen, Herr. Bitte, lass das enden!« Das Mädchen hatte sich damit selbst verurteilt.

Thork und Dar hatten sie schlafen lassen.

»Die ganze Geschichte gefällt mir nicht«, hatte Dar gesagt. »Alles deutet auf das Mädchen hin, und doch bin ich nicht überzeugt.«

»Ich auch nicht.«

»Es scheint alles so logisch, und doch kann ich nicht glauben, dass sie eine Spionin ist.«

Ein Teil von Thork wollte Ruby für unschuldig halten. Hatte sie sie alle getäuscht? Sein Kopf hämmerte vor Gedanken.

Während des Abendessens glitt Thorks Blick immer wieder zu Ruby. Ihr Äußeres war noch attraktiver durch seine Brosche. Er lächelte trocken. Da watete das Mädchen knietief in Gefahr und paradierte vor ihm in seinem Schmuck. Sie sah königlicher aus als alle anderen im Saal.

»Wirst du sie foltern?«, quengelte Linette und hängte sich an seinen Arm. »Tust du es? Ja?«

Angewidert schüttelte Thork sie ab. Er hatte letzte Nacht mit Linette geschlafen, aber irgend etwas störte ihn dabei. Er hatte bereits das Interesse verloren, wie es ihm bei Frauen immer ging. Ihr ärgerliches Quengeln beschleunigte den Prozess noch.

»Das ist meine Entscheidung, nicht deine«, schnappte Thork. »Sei still mit deinen Bosheiten, ich will nichts mehr hören.«

Schmollend wandte Linette sich an den hesir an ihrer anderen Seite.

Nachdem die Tische abgetragen worden waren, stand Ruby alleine in der Menge, in der man rüde Bemerkungen über sie machte. Thork knirschte über das Benehmen seiner Landsleute mit den Zähnen. Ein Teil von ihm wollte ihr beispringen, damit sie nicht so schutzlos war. Nur die Erinnerung an ihre Heuchelei hielt ihn zurück.

»Wollen wir sie zu einer Befragung holen?«, schlug Dar vor.

»Nein, das mache ich alleine«, erwiderte Thork mit dunklen Vorahnungen.

Alle Blicke folgten ihm, als er zu Ruby trat. Die ganze Zeit sah er ihr dabei in die Augen und forderte sie heraus, in Furcht zurückzuweichen oder zu weinen. Sie tat keines von beidem.

»Komm her«, befahl er, als er bei ihr war. Sein Herz schlug schneller, als ihr verletzter Blick sich hoffnungsvoll auf ihn richtete wie der eines gehetzten Rehs. Verdammt, was erwartete sie von ihm? Vergebung? Wütend ergriff er ihren Arm und führte sie in den Hof, wobei er sich zu den anderen umwandte, die ihm folgen wollten. »Alleine. Wir gehen alleine.«

Draußen zog Thork Ruby dorthin, wo die beiden Toten im Sand lagen, ihr Lebensblut versickert. Widerstrebend folgte Ruby ihm.

»Wir werden sicher beobachtet. Tu nichts, was dir oder mir schadet«, wies Thork sie an.

Er zog sie zu den Leichen und befahl ihr, die Männer anzusehen. Als sie sich weigerte, ergriff er mit eisernen Fingern ihr Kinn und zwang sie, sie anzusehen. Selbst im Tod waren die Augen der Männer noch angstvoll geweitet.

Ruby würgte und übergab sich vor Thorks Füßen und auf seine Schuhe. Doch Thork ließ sie immer noch nicht los.

»Kennst du diese Männer?«, fragte er eindringlich und zwang sie erneut, hinzugucken.

Ruby riss sich los und sah ihn wütend an, die grünen Augen voller Verachtung. Statt zu antworten, fragte sie vorsichtig, als hätte sie Angst vor der Antwort: »Hast du das gemacht, Thork?«

»Was? Sie getötet?« Er war überrascht. »Ja, das war ich. Sie haben versucht zu fliehen.«

Sie erbleichte und übergab sich erneut.

»Wird dir wegen des Schicksals deiner Freunde schlecht? Oder waren sie deine Liebhaber?« Thork schluckte. Aus irgendeinem Grund konnte er die Vorstellung von Ruby mit einem anderen Mann nicht ertragen. Heilige Freya, rief er sich zurecht. Diese Frau offenbarte seine Schwächen.

»Nein, mich stößt es nur ab, dass du so etwas tun kannst.« Traurig sah Ruby ihn an und wischte sich den Mund sauber.

»Was?««, rief Thork erstaunt. »Das sind meine Feinde. Sie haben versucht, meinen Großvater zu entführen. Sie hätten ihn zweifelsohne getötet.«

»In allererster Linie sind sie Menschen, Thork. Dass du so etwas tust –«, sie deutete schwach auf die beiden Leichen, »macht dich weniger menschlich.«

Trotzig erwiderte Thork: »Kein Mann bedroht straflos meine Familie. So halten es die Wikinger. Wenn ich es nicht so machte, wäre ich weniger Mann.«

Ruby sah ihn anklagend an.

»Das waren Ivars Männer«, verteidigte er sich.

»Ich weiß.«

»Du weißt das?«, brüllte Thork, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Du weißt es! Damit gibst du dich preis, Mädchen!«

Rubys Lippen kräuselten sich verächtlich. »Deine Wikingergerechtigkeit ist faul, Thork. Ich weiß, dass sie von Ivar kamen, weil Ella es mir gesagt hat.«

»Ella?«

Ruby seufzte. Was machte die Erklärung schon für einen Unterschied, sie würden ihr ohnehin nicht glauben. »Eine Dienerin in der Halle.«

Thork blinzelte. Dieses raffinierte Weib hatte für alles eine Erklärung. »Wenn du weißt, dass sie von Ivar kamen und du als Spionin angeklagt bist, dann musst du doch wissen, dass alle in der Halle dich verurteilen und töten wollen.«

Angst flammte in Rubys Augen auf, aber dann senkte sie den Blick. »Willst du mich auch töten?« fragte sie traurig.

Thorks Herz schlug heftig in seiner Brust. Ob sie es hören konnte? Forschend sah er sie an. Ruby war die Beschuldigte, und doch fühlte er sich seltsam schuldig.

»Vielleicht«, gab er schließlich zu. »Wenn du mich dazu zwingst.«

Tränen stiegen Ruby in die Augen, die sie zurückzudrängen versuchte, und die Verzweiflung auf ihrem Gesicht, als sie seine grausamen Worte hörte, traf Thork bis ins Herz. Verdammt, was hatte sie erwartet? Schutz? Dass er seine Leute verriet? Verdammt.

»Ich kenne dich nicht, Thork«, flüsterte sie schließlich.

»Sieht so aus, als hättest du es nie getan.«