Dars Vorratskammer war eine Fundgrube für exquisite Stoffe, Juwelen, Wandteppiche, Teppiche, Silber und Gold. Ruby beherrschte sich und suchte nur das heraus, was sie brauchte.
Zuerst wählte sie schwarze Seide und Spitze für ihren Body, dazu Garn und Nadeln. Dann schnitt sie sich Bahnen von roter, blauer, gelber und weißer Seide ab, um daraus die Wäsche für Aud und ein paar andere Dinge zu nähen, die sie für ihren Plan brauchen würde.
Ganz hinten fand sie noch ein Stück Fischbein, das sie als Bügel für die Büste benutzen konnte.
Ehe sie den Raum wieder verließen, entdeckte Ruby einen Ballen der feinsten mitternachtsblauen Wolle, die sie je gesehen hatte. Bewundernd ließ sie die Hand darüber gleiten – wie gut würde die Farbe zu Thorks Augen passen. Sie stellte sich einen Mantel mit Stickerei am Saum daraus vor, vielleicht wie sein Ohrring in Form eines Blitzes.
Bedauernd ließ sie den Stoff sinken. Sie war bereits schwer beladen mit den Dingen, die sie ausgewählt hatte. Der Stoff wäre ein unbescheidener Wunsch angesichts Auds Großzügigkeit.
Aud lächelte wissend. »Für Thork?«
Ruby nickte.
»Warum nimmst du ihn nicht mit?« Mit erhobener Braue reichte sie ihr den Stoff.
Rasch umarmte Ruby die ältere Frau. Heute kam sie allerdings nicht dazu, das geplante Essen zuzubereiten, dafür brauchte sie zu viel Zeit im Ort, wo sie mit einem Tischler und einem Kürschner um ein paar Dinge handelte, die sie brauchte. Beide hatten sie junge Frauen, die sich praktisch um das Muster-Set Wäsche rissen, das sie mitgebracht hatte, und die ihre Männer drängten, in unmöglich kurzer Zeit die gewünschten Dinge anzufertigen, damit sie selber auch solche Wäsche bekommen könnten. Ruby stand vor der Schwierigkeit, dass sie kein Papier hatte, um ihre Vorstellungen aufzuzeichnen, so dass sie sie mit einem Stock in den Sand zeichnen musste.
Auf dem Rückweg entdeckte sie reife Pfirsiche in einem Obstgarten, von denen sie zwölf Stück pflückte. Als sie zurück waren, wusch sie sie im Brunnen und bat Ella, sie als Geschenk zu Thork zu bringen und neben sein Bett zu stellen.
Ella murrte über die Aufgabe. »Es wäre doch viel bedeutungsvoller, wenn du ihm einen Korb Kirschen schicken würdest. Saure, natürlich.«
Ruby bat Aud außerdem um die Erlaubnis, die Webstube als Nähzimmer benutzen zu dürfen, weil ihr Turmzimmer viel zu klein war und keinen Tisch hatte. Dort arbeitete sie stundenlang, bis es zu dunkel wurde. Dann ging sie ins Haus, um das Abendessen zuzubereiten. Vigi war wütend, weil er ihr bei all diesen Hausfrauenpflichten folgen musste.
Ruby hatte Thork den ganzen Tag nicht gesehen und empfand fast Widerstreben, dass sie ihn jetzt treffen sollte. Seine Wut in der vorigen Nacht verhieß nichts Gutes für ein Wiedersehen an diesem Tag.
Thork war am Siedepunkt, und das entging keinem. Als sein Großvater ihn fragte, wie er gestern mit Ruby verfahren sei, riss er ihm fast den Kopf ab. Beim Üben verletzte er Selik am Arm, und sein Speer durchschlug die Zielscheibe, weil er ihn mit zu viel Wucht geschleudert hatte. Auch fiel ihm auf, dass an diesem Abend niemand mit ihm zurückgehen wollte. Am Haus rief er Tykir zu, dass er ihm Handtuch und Seife holen und zum Teich bringen sollte. »Mal sehen, ob wir die Schwimmstunde hinkriegen, die ich dir versprochen habe.«
Tykirs Gesicht hellte sich auf. Wenn er ein Hund gewesen wäre, hätte er sicherlich mit dem Schwanz gewedelt. Und das nur, weil er ihm etwas Aufmerksamkeit gezeigt hatte, dachte Thork schuldbewusst. Beim Thor! Ich darf nicht anfangen, meiner Söhne wegen Schuldgefühle zu entwickeln, sonst werde ich sie nie zurücklassen können!
Dann rief er Eirik zu sich. Der Junge zuckte zusammen, als sein Vater ihn vor den hesiren ansprach. »Eirik, du gibst doch immer mit deinen Schwimmkünsten an. Komm mit und zeig uns, was für ein Fisch du bist.«
Eirik grinste von einem Ohr zum anderen.
Thorks Herz machte einen Satz. Ich mache besser so schnell ich kann, dass ich nach Jomsborg komme. Aber er hatte die Verstellung so satt. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten, warum er zwei Waisenjungen mit zum Schwimmen nahm.
Thork verbrachte eine nette Stunde mit seinen Söhnen am Teich, was er später sicher bereuen würde. Dar hatte viele fremde Ritter in seinem Dienst, die an Ivar, die Sachsen oder seinen Halbbruder Berichte schicken konnten.
Ehe er ins Wasser ging, wandte er sich von den Jungen ab, damit sie ihn nicht nackt sahen. Er war den ganzen Tag in einem Zustand der Erregung, weil er ständig an dieses Mädchen denken musste.
Eine Jungfrau! Bei Freya, wer hätte das gedacht? Er bestimmt nicht! Sie redete wie eine Hure und hatte die Ausstrahlung einer erfahrenen Frau. All das Gerede von dem Mann und zwei Söhnen waren Lügen gewesen. Und er war so von ihr eingenommen gewesen, dass er wirklich geglaubt hatte, sie wäre anders als alle Frauen, die er kannte. Nun, das spielte jetzt keine Rolle mehr. Schon bald würde er aus Northumbria verschwunden sein.
»Stimmt es, dass du als Page an den Hof der Sachsen willst?«, fragte Thork Eirik auf dem Rückweg.
Sein Sohn errötete. »Das hätte sie dir nicht sagen dürfen.«
»Aber es stimmt?« Eirik zögerte und gab dann zu: »Ja. Es kommen harte Zeiten für die Wikinger in Northumbria. Wir müssen die Art der Sachsen kennen lernen, um uns anpassen oder wehren zu können, was auch immer.«
Thork war überrascht und stolz, dass sein zehnjähriger Sohn solche Einsichten hatte. Doch ehe er ihm das sagen konnte, unterbrach Tykir: »Nein, es wäre viel besser, sie bis zum bitteren Ende zu bekämpfen. Wir müssen die besten Krieger werden.« Er errötete verlegen, als Vater und Bruder ihn überrascht ansahen.
»Dann stimmt es, was Ruby sagt. Du willst ein Jomswikinger werden.«
Trotzig hob der Kleine das Kinn. »Ja, und das werde ich auch.«
Als Thork in sein Zimmer ging und sich dabei die Haare trockenrieb, entdeckte er die Schale mit Pfirsichen neben seinem Bett. Er aß einen, während er sein Kettenhemd auf den Boden fallen ließ. Er aß einen zweiten, während er sich anzog und die Haare kämmte.
Dann rasierte er sich vor einem kleinen Stück poliertem Metall. Es gab zu viele Tage auf dem Schlachtfeld oder auf See, wo sich Ungeziefer in einem Bart ansiedeln würde. Er war lieber glatt rasiert.
Er griff nach dem dritten Pfirsich und nahm sich vor, seiner Großmutter für die Gabe zu danken, als ihm etwas auffiel: Darunter lugte ein Zettel hervor. Darauf stand: Es tut mir leid. Ruby.
Als Erstes hatte Thork vor, die Pfirsiche in den Nachttopf zu werfen, aber dann überlegte er es sich anders und schüttelte den Kopf. Es war nichts Schlimmes daran, dass sie ihm das Obst geschickt hatte, aber wenn sie dachte, dass all ihre Lügen mit einem Korb Pfirsiche vergeben wären, hatte sie sich getäuscht.
Kurz darauf betrat er die Halle, den dritten Pfirsich in der Hand, und entdeckte dort Ruby, die ihn beobachtete. Sie lächelte ihn vorsichtig an. Rüde wandte er sich ab, um sie nicht zu ermutigen.
Dennoch konnte er nicht anders, als beim Essen immer wieder zu ihr hinzusehen. Sie trug wieder das burgunderfarbene Kleid vom Vorabend.
Er spürte, wie seine halbe Erektion zu einer ganzen wurde und fluchte, dann entschuldigte er sich bei dem kuhäugigen Mädchen neben sich, das erschrocken nach Luft geschnappt hatte. Beim Thor! Elise war schön. Warum hatte er kuhäugig gedacht? Weil Ruby sie so genannt hatte. Thork zog eine Grimasse. Er konnte das verflixte Mädchen nicht aus dem Kopf bekommen.
Er erwog, Linette zurück in sein Bett zu holen, um sich an ihr zu befriedigen, entschied dann aber, dass das Linette gegenüber nicht fair wäre. Sie verdiente die Ehe, die sein Großvater arrangiert hatte, und er durfte ihre Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Vielleicht würde er zum Abkühlen nach dem Essen noch einmal schwimmen gehen.
Gedankenverloren trank Thork beim Essen seinen Wein und dachte darüber nach, was er bis zum Althing noch alles erledigen musste. Dars Bitte an Ruby, für sie zu singen, holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Oh, nein, bitte, heute nicht«, wehrte Ruby ab.
»Ich bestehe darauf«, erwiderte sein Großvater nicht unfreundlich.
Ruby blieb sitzen, und Dar starrte sie an.
»Na gut, ein Lied«, gab sie schließlich nach.
Sie stimmte die Laute und dachte dann über ein passendes Lied für die Menge nach, die immer noch feindselig war nach der skandalösen Show, die sie am Vorabend abgezogen hatte.
Sie sah Thork nicht an, damit er sie nicht vor allen Gästen beleidigte. Vielleicht würde er es trotzdem tun. Aber erst einmal wollte er abwarten, ob sie wieder etwas anstellte.
»Ich habe dieses Lied schon einmal gesungen und erklärt, dass es das Lieblingslied meines Mannes war …«
Thorks Hand mit dem Becher verharrte in der Luft. Sie sah ihn direkt an und wandte sich dann schnell ab.
»… aber heute Abend singe ich es für einen anderen Mann, der an langen, einsamen Winterabenden an dieses Lied und einen … besonderen Moment denken soll, an Erinnerungen, die er an die Frau hat, die … er liebt und dann wieder verloren hat.« Am Ende zitterte ihre Stimme. Dann sang sie heiser das Lied »Help me make it through the night«. Gebannt lauschte die Menge auf jedes Wort. Hinterher nahm Ruby den Beifall der Gäste mit einem Kopfnicken entgegen, dann lehnte sie ab, weiterzusingen und verließ die Halle, um in ihr Turmzimmer zu gehen – ohne Thork auch nur einmal anzusehen.
Thork wurde das Herz schwer. Müde schloss er die Augen, als die Unterhaltung um ihn herum weiterging. Wie sollte er je die Nacht überstehen, geschweige denn die nächsten Wochen? Konnte er dem überwältigenden Drang widerstehen, mit Ruby zu schlafen? Wenn er sie in sein Bett holte, würde ihn das dann von dem fiebrigen Verlangen nach ihr kurieren? Irgendwie bezweifelte er das.
Als er die Augen wieder aufschlug, merkte er, dass Dar ihn prüfend betrachtete. Dann nickte er, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Thork traute seinem Großvater nicht. Er hätte nur zu gerne gewusst, was er sich jetzt gerade wieder ausdachte.
Ruby stand am nächsten Tag schon sehr früh auf, weil sie weiternähen wollte. Sie arbeitete den ganzen Tag und hatte das sexy Wäschestück am Nachmittag fertig.
Dann ging sie in die Küche und bat die Köchin um ein Backblech und Zutaten. Die Dienerin murrte, gehorchte aber, als sie Aud hinter Ruby kommen sah. Ruby musste ein Lachen unterdrücken, als die dicke Köchin sich bückte und dabei zahllose Schnitte an den Beinen enthüllte.
Ruby brauchte fast eine Stunde, um das Rindfleisch in die Konsistenz eines modernen Hamburgers zu bringen. Es war nicht ganz so fein gehackt, wie es sein sollte, aber es gelang ihr immerhin, es zu runden Fleischbällen zu formen. Sie legte sie mitsamt einem Hartkäse beiseite und schnitt vier Kreise als Brötchenersatz aus einem Bannock. Zufrieden betrachtete sie das bisherige Ergebnis ihrer Bemühungen.
Dann machte sie sich an die Baklava – Jacks ultrasüßer Lieblingsnachtisch mit Honig. Alle Zutaten waren vorrätig – Walnüsse, Butter und Honig – nur das weiße Mehl fehlte, aber Ruby improvisierte mit Roggenmehl. Es war schwer, den Teig dünn genug auszurollen, aber sie blieb geduldig, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.
Während die Baklava im Holzofen buk, begann sie, die Hamburger zu braten, wobei sie auch für Aud und Dar welche als Kostprobe bereitete. Thorks war innen noch rosa.
Als alles fertig war, wies sie Ella an, ein Tablett zu Thork zu bringen, sobald er saß.
Ella kicherte und schüttelte den Kopf. »Wie kommst du nur auf die Idee, du könntest den Mann über seinen Magen gewinnen?«
Ruby zuckte mit den Schultern. »Es heißt, man könne Fliegen besser mit Honig als mit Essig fangen.«
»Was?«
Ruby eilte in ihr Zimmer und zog sich rasch zum Essen um. Sie war eine der Ersten, die am Tisch saßen. Mit einem Flattern im Magen sah sie, wie Thork neben »Kuh-Auge« Platz nahm. Ruby sah er nicht einmal an.
Dieser Mistkerl!
Endlich trat Ella mit zwei Tabletts auf die Empore. Das eine stellte sie vor Aud, das andere vor Thork.
Zuerst starrte Thork sein seltsames Essen nur an, als wenn es gleich auf ihn losgehen würde. Dann nahm er zögernd einen Cheeseburger in zwei Finger und betrachtete ihn von allen Seiten, ehe er misstrauisch ein Stück davon abbiss. Ruby sah zu, wie er langsam kaute, dann anerkennend lächelte und alle drei Cheeseburger hungrig hinunterschlang.
Bei der Baklava war er nicht so vorsichtig. Ein Bissen, und ekstatisch schloss er die Augen und kostete die Süße aus. Genau wie Jack, wenn sie Baklava für ihn gebacken hatte, auch wenn sie das, wie sie zugeben musste, seit Jahren nicht gemacht hatte. Sie runzelte bei der Erkenntnis die Stirn.
Thork war bei seinem vierten Stück Baklava, als er sich umsah und merkte, dass die anderen etwas anderes aßen. Nachdenklich kaute er weiter. Ruby bemerkte es sofort, als er erkannte, dass sie das exzellente Essen gekocht hatte. Denn plötzlich sah er sie scharf an, als wenn er herauszufinden suchte, was da vorging.
Ruby nickte ihm zu wie ein Schachspieler, nachdem er den König des Gegners matt gesetzt hat. Dann ging sie in ihr Zimmer, erschöpft, aber zufrieden. Sie schlief sofort ein. Vor ihr lag ein langer Tag.
Sobald sie erwachte, rollte sie Garn zu einem Ball. Dann bedeckte sie ihn mit weichem Leder und nähte es zusammen.
Es war der schlechteste Baseball, den sie je gesehen hatte.
Nach dem Frühstück ging sie mit Ella und Vigi zum Teich, um zu baden. Anschließend gingen sie ins Dorf, wo Ruby zuerst zum Tischler wollte.
Aus solidem Hickory-Holz hatte er ihr einen Baseballschläger gefertigt. Er sah perfekt aus, aber sie verstand wenig davon.
Dann fragte sie nach dem Springseil. Der Tischler hatte Griffe gedrechselt und an ein kurzes Seil gebunden. Ruby nahm alles mit.
Zuerst probierte sie das Springseil auf dem harten Boden aus. Es war wunderbar. Sie dachte dabei, dass Ella und Vigi vor Lachen gleich tot umfallen würden.
Dann wies sie Vigi an, zwanzig Meter weit wegzugehen und ihr den Ball zuzuwerfen. Zuerst weigerte er sich. »Nein, ich werfe nichts Hartes nach einer Frau.«
»Ach, sei doch nicht dumm. Ich will es mit dem Schläger treffen.«
»Das schaffst du nie!«, rief Ella.
Doch Ruby traf.
Inzwischen hatte sich schon eine Menge schaulustiger Dorfbewohner um sie versammelt. Zeit, weiterzugehen.
Als Nächstes war der Schuhmacher dran. Ruby gab ihm die hohen Absätze aus Holz, die sie beim Tischler geholt hatte, und wies ihn an, sie an ihren Schuhen anzubringen.
»Du bist töricht, dass du das haben willst«, wandte er ein.
»Möglich. Ich hole sie morgen ab.«
Als sie wieder zu Hause waren, ging Ruby zu Eirik und Tykir, um ihnen ihr Geschenk zu geben. Beide lächelten, als sie das Springseil vorführte.
Tykir fiel ihr spontan um den Hals. »Warum gibst du mir ein Geschenk?«
»Ich möchte, dass ihr etwas als Andenken an mich habt, falls ich Jorvik nach dem Althing verlassen muss.« Ihren möglichen Tod erwähnte sie den Kindern gegenüber nicht. Wahrscheinlich wussten sie es ohnehin.
Dann zeigte sie Eirik, wie man den Baseballschläger benutzte, indem sie die Regeln in den Staub schrieb. Nach ein paar Übungswürfen war er schon überraschend gut.
Eirik umarmte sie nicht, bedankte sich aber widerwillig. Sie sagte sich, dass sie nicht enttäuscht sein durfte, die Freude auf seinem Gesicht sollte ihr Dank genug sein. Ehe sie ging, rief Eirik plötzlich: »Das ist ein schönes Geschenk.« Dann errötete er wegen seines Rückfalls aus cooler Männlichkeit.
Zum Teufel, was habe ich schon zu verlieren! Ruby ging zurück und drückte den Jungen fest an sich. Er blieb still stehen, wehrte sich aber auch nicht. Dann hatte sie wenigstens etwas bei dieser Zeitreise richtig gemacht.
Thork kam mittags ins Haus zurück, wo er nach einem Dutzend junger hesire suchte, die nicht zum Training erschienen waren, von Eirik ganz zu schweigen. Als er die Wiese vor dem Haus erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen.
Ein großes Karree war mit Mehl ins Gras gezeichnet worden, an den Ecken mit kleinen Säckchen als Markierung. Selik warf Eirik ein rundes Lederobjekt zu, der versuchte, es mit einem Holzstab zu treffen. Wenn es gelang, schrie Eirik vor Lachen und rannte auf eines der Säckchen zu, während die anderen auf dem Feld sich beeilten, den Ball zu holen.
Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Thork den Jungen hatte lachen hören. Wie hatte es soweit kommen können? Der Junge war erst zehn. Er runzelte die Stirn. Warum war ihm nie aufgefallen, wie ernst Eirik immer war?
Dann sah er Tykir im Hof, der auf und ab sprang und sich dabei ein Seil über den Kopf zog und mitzählte. Immer, wenn er einen Fehler machte, hielt er inne, lachte und begann von vorne.
Thors Blut! Nicht auch er!
Seine Augen wurden schmal. Das war Rubys Handschrift, da war er sich sicher. Sie stellte seine Familie und sein Leben auf den Kopf. »Selik, mach sofort, dass du zurück zum Training kommst, und nimm die anderen Milchbubis mit«, brüllte Thork.
Selik zuckte schuldbewusst zusammen.
Dann lächelte Thork und lobte Tykir: »Sehr gut«, ehe er zum Brunnen ging, um etwas zu trinken.
Thork unterdrückte den Impuls, zu Ruby zu rennen und eine Erklärung zu verlangen, denn das war wahrscheinlich das, worauf sie hoffte. Vielleicht stand sie jetzt sogar am Fenster und beobachtete ihn. Nur für alle Fälle streckte er dem nächsten Fenster die Zunge heraus und duckte sich dann verlegen, als er den grauen Kopf seines Großvaters erkannte.
»Prüfst du, ob es regnet?«, fragte Dar und steckte den Kopf heraus.
Thork schüttelte den Kopf. Bis er ging, hatte das seltsame Mädchen ihn wahrscheinlich genauso wunderlich gemacht wie sie selber war. Himmel, langsam merkte er, wie sehr er sie vermissen würde. Er wusste nicht mehr, wie es war, als er sie noch nicht gekannt hatte. Er hasste die Vorstellung, wie leer sein Leben ohne sie sein würde. Als er endlich wieder am Übungsplatz war, brüllte er den Männern zu: »Ihr seid alle miteinander verfluchte Weichlinge. Ich muss euch härter rannehmen. Heute werden wir alle Schwächen beseitigen, und wenn wir dabei tot umfallen.« Er achtete nicht auf die gemurrten Einwände wie »Das ist alles die Schuld dieses Mädchens aus der Hölle.«
Ruby hatte Thork nicht beobachtet. Sie war in ihrem Zimmer und arbeitete hart an seinem Mantel. In zwei Tagen würden sie alle nach Jorvik zum Althing reisen.
Ruby hatte immer schon gerne genäht und genoss die Arbeit, vor allem, wenn es so gute Wolle war wie diese. Sie hatte ein ganzes Geschäft auf ihrem Talent aufgebaut, und ein Mantel für Thork war eine einfache Aufgabe für sie. Sie schnitt zu und nähte und hatte das Kleidungsstück nach einem halben Tag fertig. Die Stickerei brauchte viel länger. Sie hatte sich für den Blitz in Silber und den Goldhammer Mjollnir in Gold entschieden. Es würde ein herrlicher Mantel werden. Ruby rechnete damit, ihn am nächsten Abend fertig zu haben.
Ruby war überrascht, als Thork sie nach dem Essen ansprach. »Hast du noch einen Trick in deinem Zauberkessel? Pfirsiche oder Spielsachen? Noch ein besonderes Essen?«
»Ich habe beschlossen, dir heute eine Erholung zu gönnen«, gab Ruby rätselhaft zurück.
»Ich habe dich doch gewarnt, dass du es nicht zu weit treiben sollst.«
»Ich habe keine Angst vor dir. Vor dem Althing, vor Sigtrygg und den anderen bösartigen Wikingern, ja, aber nicht vor dir.«
Thork knirschte mit den Zähnen, und sein Gesicht wurde ausdruckslos.
»Willst du meine Männlichkeit anzweifeln?«
»Machst du Witze? Das ist das Letzte, was ich anzweifeln würde. Nein, ich denke, dass ich dir mehr bedeute, als du zugeben willst. Deshalb tust du mir nichts.«
»Du überschätzt dich, Mädchen. Wenn ich auch nur eine Sekunde lang geglaubt hätte, dass du für Ivar spionierst oder meine Familie bedrohst, hätte ich dich ohne Wimpernzucken getötet.«
»Aber das ist es. Ich tue nichts davon.«
»Aber eine Lügnerin bist du bestimmt. Das ist bewiesen, als ich deine Jungfernschaft entdeckt habe.«
»Ach, Thork!« Sie seufzte. »Warum gibst du nicht auf und heiratest mich?«
Thork lachte ob ihrer Beharrlichkeit. »Nein.«
»Wirst du beim Althing für mich eintreten?«
»Warum sollte ich?«
»Um mir das Leben zu retten.«
»Spar dir den Atem, Mädchen. Ich werde die anderen Wikinger nicht verraten, nur um deine Haut zu retten. Und denk bloß nicht, dass du mehr für mich wärest als ein hübsches Stück Fleisch. Diesen Kampf gewinnst du nie.«
»Man soll nie nie sagen, Süßer«, forderte Ruby ihn heraus und ging davon, wobei sie übertrieben mit den Hüften wackelte.
Am nächsten Tag nähte sie den Mantel fertig und ging dann ins Dorf, um ihre hochhackigen Schuhe abzuholen. Sie waren nicht ganz so wie geplant. Der Tischler hatte einen Absatz etwas niedriger gemacht, sodass sie humpeln musste. Doch es war keine Zeit mehr, um das zu ändern, denn am nächsten Tag würden sie nach Jorvik reisen.
»Willst du Thorks Mitleid erregen, indem du ihn glauben lässt, du wärest ein Krüppel?«, fragte Ella.
»Nein. Die Männer in meinem Land sehen Frauen gerne in hohen Absätzen. Sie denken, dass eine Frau dann sexy aussieht.«
Ella betrachtete sie skeptisch. »Auch wenn sie so humpeln?«
»Nein.« Ruby lachte. »Frauen können gut darin gehen. Es bringt sie dazu, die Hüften sexy zu schwingen.«
Ella verdrehte die Augen.
»Vielleicht stehe ich nur darin. Gehen in diesen primitiven Dingern ist vielleicht doch keine so gute Idee.«
»Vielleicht bist du jetzt endgültig verrückt geworden.«
Am nächsten Abend beschloss Thork, gleich nach dem Essen schlafen zu gehen. Er wollte nach dem Althing nicht hierher zurück, deshalb hatte er den ganzen Tag über Waren für sein Schiff auf die Wagen gepackt.
Ihm fiel auf, dass Ruby nicht beim Abendessen war.
»Vielleicht hat sie Bauchschmerzen«, erklärte die Sklavin Ella, als er nach Ruby fragte.
Gähnend öffnete Thork die Tür zu seinem Zimmer. Er legte das Schwert ab, zündete zwei Kerzen an und gähnte erneut. Morgen würde ein langer Tag werden. Er würde früh aufstehen. Er drehte sich um und zuckte erschrocken zusammen.
»Beim Thor, Frau, was tust du hier? Willst du mich zu Tode erschrecken?«
Ruby stand auf der anderen Seite des Zimmers und trug einen herrlichen blauen Mantel mit Stickerei an den Säumen. Seltsam war nur, dass der Mantel viel zu groß für sie war, und der Saum schleppte auf dem Boden.
Misstrauisch kniff Thork die Augen zusammen und wich zur Tür zurück, um das Schicksal nicht herauszufordern, indem er mit dem Mädchen im selben Zimmer war – Jungfrau oder nicht. Und wo steckte der verwünschte Vigi? Er sollte Ruby doch lückenlos bewachen und von ihm fernhalten.
»Nein, ich gehe nicht«, erklärte Ruby und stolperte auf ihn zu, offenbar durch den Mantel behindert. »Ich will dir ein Abschiedsgeschenk geben, diesen Mantel hier. Ich habe ihn für dich genäht und eigenhändig bestickt. Gefällt er dir?« Ihre Stimme zitterte nervös.
»Das ist ein schöner Mantel, aber warum machst du mir ein Geschenk?« Der Mantel war ein Kunstwerk, wie er es auf seinen Reisen nicht schöner gesehen hatte. Misstrauisch sah Thork sie an. »Willst du mich bestechen?«
»Nein, mit dem Geschenk sind keinerlei Verpflichtungen verbunden. Es soll eine Art Entschuldigung für die Mühe sein, die ich dir gemacht habe.«
Wie alle Wikinger liebte Thork Geschenke. Es wäre unhöflich gewesen, es abzulehnen, und so nahm er dankend an. Außerdem hatte sie ihm wirklich viel Mühe gemacht.
»Dreh dich um, damit ich ihn dir um die Schultern legen kann. Ich will sehen, ob er passt.«
Thork gehorchte, und sie legte ihm den Mantel um die Schultern. Er war froh, dass sie ihm den Abschied so leicht machte, so blieben keine schlechten Gefühle zurück. Er wandte sich um, um ihr das zu sagen, und keuchte erstaunt auf. »Himmel!«
Ruby stand neben dem Bett und stützte sich wie haltsuchend an den Bettpfosten. Sie trug ein … ein Ding, das ihre Brüste hochschob und ihre Beine von der Hüfte an entblößte bis zu … Himmel!
»Was zum Teufel hast du da an den Füßen?« Das Mädchen stand wackelig da. Kein Wunder. Ihre Füße steckten in Lederslippern mit hohen Absätzen.
»Hohe Absätze. Gefallen sie dir?«
»Wozu sind die da? Kannst du damit gehen?«
»Ja … nein. Normalerweise schon, aber euer Tischler hat einen höher als den anderen gemacht. In meinem Land lässt das die Beine einer Frau sexy aussehen.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Komm mal näher.« Thorks Lippen zuckten.
Ruby kam näher und versuchte, nicht zu humpeln. Dadurch konnte er ihren Body besser sehen. Die seidige Spitze bedeckte sie kaum. Er konnte ihre Brustspitzen und das Dreieck unter dem Stoff ahnen, wo sich ihre Schenkel trafen. Noch nie hatte er etwas so Schönes gesehen – nicht einmal in den Harems des Orients.
»Dreh dich um.« Seine Kehle war trocken.
Der Gedanke, dass Ruby sich für ihn so viel Mühe machte, ließ seine Kehle eng werden. Noch nie war er jemandem so wichtig gewesen.
»Gefällt es dir?«, fragte Ruby unsicher und sah ihn wieder an.
»Sehr!« Heiliger Thor! War das Mädchen blind? Sah sie denn nicht, wie sehr sie ihm gefiel?
»Nur sehr?« Sie sah enttäuscht aus.
»Was willst du von mir, Mädchen?«, stieß Thork zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er wusste nicht, wie lange er noch widerstehen konnte.
»Ich glaube, das weißt du.« Unter gesenkten Wimpern sah sie hoffnungsvoll zu ihm auf.
»Ich kann nicht«, stöhnte er.
»Warum?«, fragte sie leise, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Weil du mehr willst als ich geben kann.«
Ruby schüttelte den Kopf. »Heute Nacht rufe ich einen Waffenstillstand aus. Ich will nicht mehr als du zu geben bereit bist.«
Beim Thor! Die Frau war eine Sirene. »Und morgen?«
Sie lächelte und zuckte die Achseln. »Über heute hinaus kann ich keine Versprechungen machen.«
»Das ist ein Trick.«
»Nein, nur ein Mann und eine Frau, die … Erinnerungen wecken.«
Thorks Herz machte einen Satz, und er stöhnte ergeben. Dann ging er auf sie zu, blieb aber stehen, als es laut an der Tür klopfte.
»Thork! Komm schnell!«, rief Olaf.
»Geh weg!«, brüllte Thork ungeduldig.
»Nein, es ist wichtig. Jemand hat einen der Wagen angezündet. Man hat Krieger wegreiten sehen.«
Thork fluchte und öffnete die Tür, aber nur soweit, dass Olaf Ruby in ihrer Aufmachung nicht sehen konnte. »Wo waren denn die Wachen?«
»Es ging alles so schnell. Es ist nicht viel passiert, aber die Angreifer sind entwischt, vielleicht zurück zu Ivar. So eine feige Taktik wäre ihm zuzutrauen.«
»Ich komme sofort nach unten. Schickt noch keine Boten los, aber stellt zusätzliche Wachen auf.«
Als Thork die Tür schloss und sich wieder zu Ruby umdrehte, saß sie auf einem Stuhl am Feuer und weinte. Der Anblick zerriss ihm das Herz.
»Warum weinst du, Süßes?« Er kniete sich vor sie hin.
Jetzt schluchzte sie laut und stieß hervor: »Ich wollte, dass wir vor dem Althing zusammen sein können. Heute war unsere letzte Chance.«
Rubys Tränen berührten ihn tiefer als ihre sexuelle Anziehungskraft. »Vielleicht komme ich nachher wieder in mein Zimmer zurück … falls du wartest.«
»Nein«, schniefte sie traurig, »sobald du aus dem Zimmer bist, wirst du dir das Ganze überlegen und vielleicht zu dem Schluss kommen, dass ich etwas mit dem Angriff auf die Wagen zu tun habe.« Sie wischte sich die Tränen an seinem neuen Mantel ab.
Thork nickte unglücklich und gab zu, dass sie Recht hatte. Dennoch küsste er ihr die Tränen vom Gesicht. Er wollte diesen bittersüßen Moment mit ihr so lange wie möglich auskosten, weil er ahnte, dass es nie wieder dazu kommen würde. Schließlich riss er sich los, aber das Bild dieser Frau in dieser Wäsche ließ ihn die ganze Nacht nicht los, als er Wache stand, Gefangener seiner Gefühle. Als er im Morgengrauen zurückkam, lag der blaue Mantel sauber zusammengefaltet auf seiner Truhe.
Ruby war weg.