Sie warf einen Blick auf den kleinen Jungen, der am Küchentisch saß. Nichts schien ihr dagegenzusprechen, für eine halbe Stunde das Haus zu verlassen, um ein paar Einkäufe zu erledigen.
Johannes war vertieft in die Bastelei. Er hatte das Kinn auf die Brust gedrückt und die Lippen aufeinandergepresst, voll konzentriert und bemüht, mit der plumpen Schere durch die dicke Pappe zu schneiden. Sie hätte ihm das Glanzpapier kaufen sollen, um das er gebettelt hatte, da glitt die Bastelschere leicht hindurch. Doch dann ließe sich der Stall von Bethlehem umpusten. Zuallererst brauchte er Standfestigkeit.
»Ich geh dann mal, Johannes«, sagte Gerda Dau.
Der Junge brummelte sein Einverständnis und schnitt ein großes Tor in den Stall von Bethlehem. Maria und Josef, Ochs und Esel könnten bequem Schulter an Schulter durch das Tor gehen. Die Fenster des Stalls waren ihm auch zu groß geraten. Mit dieser Schere gelangen keine Feinheiten. Doch für eine schärfere war er noch zu klein.
Johannes würde nicht allein im Haus sein. Im oberen Stock war seine Schwester und hatte Nachhilfeunterricht. Gerda Dau lächelte, als sie die Blockflöte hörte. Wohl kaum die zehnjährige Charlotte, die da spielte. Die war vorhin ganz ungeübt durch das alte Lied gestolpert. Es musste die ältere Schülerin sein, die ihr heute wieder Nachhilfe gab.
In Mathematik, nicht im Flötenspiel.
Macht hoch die Tür, spielte die Flöte.
Auf dem Küchentresen stand die schiefe Laterne, die Johannes im Kindergarten geklebt hatte. Der Junge war ein großer Bastler, wenn auch noch nicht sehr geschickt. Auf seine Bitte hatte sie eine neue Kerze in die Laterne gestellt. Gerda Dau nahm die Streichhölzer, die neben der Laterne lagen. Nicht, dass der Junge die Kerze anzündete. Die Schachtel, die sie in die Tasche ihrer Strickjacke steckte, war die einzige im Haus. Dessen war sie sicher. Streichhölzer hatte sie eben auf den Einkaufszettel geschrieben.
Sie zögerte, ob die beiden da oben wissen sollten, dass der Kleine allein in der Küche war. Doch gleich müsste ja auch die Große aus der Schule kommen. Sie sah auf die Küchenuhr, die über dem Tresen hing. Elisabeth hatte schon vor einer Viertelstunde hier sein sollen.
»Wir lassen die Laterne leuchten, wenn ich wieder da bin. Und dann helfe ich dir auch mit dem Stall«, sagte sie.
Der Junge hob den Kopf. »Da soll noch ein Stern obendrauf«, sagte er, »den kann ich nicht alleine. Bringst du diesmal Glanzpapier mit? Gold und silbern?« Johannes’ Stimme klang vorwurfsvoll.
»Ich guck mal«, sagte Gerda Dau. Vielleicht ließen sich doch noch echte Strohhalme für das Stalldach finden. In ihrer Vorstellung war Bethlehems Stall deutlich schlichter als in der von Johannes. Sie ging in den Flur und zog den Mantel an. Eigentlich hatte sie keine Lust auf die kalte Nässe da draußen. Stockdunkel. Dabei war es noch Nachmittag.
»Morgen kaufe ich dir ein Glanzpapierheft. Da sind dann ganz viele Farben drin«, sagte sie in die Küche hinein. Nicht auch noch bis zum Schreibwarengeschäft laufen bei dem Wetter.
Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit, wiederholte die Flöte, als Gerda Dau das Haus verließ und noch mal zu den Fenstern sah, aus denen ein warmes gelbes Licht fiel. Sie glaubte alle geborgen.