August

Leo entschied sich für ein Gymnasium in der Nähe. Anders als Teresa war er nicht bereit, durch die halbe Stadt zur Schule zu fahren. Er hatte vor, mit viel Charme und einem Mindestmaß an Anstrengung durch das Abitur zu kommen. Vielleicht auch Zeit für eine kleine Liebschaft zu haben. Obwohl seine letzte Freundin in Köln anstrengender als jede Schulstunde gewesen war. Leider hatte er eine Schwäche für Zicken.

Von Teresas Herzstichen ahnte er nichts. Sie hätten ihn verlegen gemacht. Waren seine Gefühle für Teresa nicht eher geschwisterlich?

»Ah. Da ist ja Tilda«, sagte der Schulleiter und schien erleichtert, den neuen Schüler weiterreichen zu können. »Tilda und Sie sind in derselben Profiloberstufe. Sie wird Ihnen alles zeigen.«

Tilda sah älter aus, als sie sein konnte. Es sei denn, sie hätte Ehrenrunden gedreht. Doch das bezweifelte Leo. Sie wirkte auf ihn wie die Königin der Klassenbesten. Mit allen Dünkeln einem Durchschnittsschüler gegenüber.

Ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Ihr Kleid ging ihr bis zu den Knöcheln und sah aus, als sei es aus einer geblümten Gardine genäht.

Sie zeigte ihm alles höchst gewissenhaft. Er lachte sie am Ende der Tour an. Konnte nicht schaden, schon mal die Charme-Offensive zu starten.

»Bist du eine dieser Kölner Frohnaturen?«, fragte sie und klang genervt.

»Genau«, sagte Leo, »lauter Tünnesse in Köln.«

Tilda nickte, als habe sie sich das genau so gedacht.

Er war dankbar, als sie sich zu den anderen in den Computerraum setzten.

Das Wiedersehen war weniger begeisternd, als Teresa es sich vorgestellt hatte. Die Zwillinge wirkten völlig überdreht. Sechs Wochen Kalifornien waren wohl zu viel des Guten gewesen für die beiden.

»Bob«, sagte Robert. »Ich heiße jetzt Bob.«

»Bob and Basti. Lovable lookalikes«, sagte Sebastian.

»In a lovable family. Mum and Dad and Bob and Basti.«

»Wenn wir noch acht Jahre alt wären, fände ich euch lustig«, sagte Teresa.

»Wir finden auch nicht lustig, dass du auf einmal am anderen Ende der Stadt wohnst, kaum dass man mal ein paar Tage weg ist.«

»Entspannt euch. Ich habe es mir nicht ausgesucht.«

»Du wohnst in einem Geisterhaus, sagt Beckie?«

»Wo ist sie überhaupt?«, fragte Teresa.

»Im Tatoostudio«, sagte Basti. »Name und Größe des neuen Liebhabers eintätowieren.«

»Und die Farbe der Augen«, sagte Bob.

Noch gar nicht lange her, da hätte Teresa gesagt, ihnen sei wohl ins Hirn geschissen worden. Doch die rauen Zeiten waren vorbei.

Es dauerte bis zur ersten kleinen Pause. Dann brachen die Brüder in Gelächter aus. »Okay«, sagte Bob, »lasst uns wieder dem Ernst des Lebens ins Auge blicken. Wenn der nicht bei der Einschulung begonnen hat, dann tut er es in der Oberstufe.« Er umarmte Teresa. Die Zwillinge hatten also doch nicht den Verstand verloren. Sie war erleichtert. Auch als Beckie um die Ecke kam, die ausgerechnet an diesem Morgen ihren nagelneuen Personalausweis abgeholt hatte.

Im Tre Cime würde Teresa später alles erzählen, ihrem Stammcafé.

Nein. Sie wollte keine böse Nachbarin sein. Keine Kinderfeindin. Wenn nur ihre Nerven nicht wären. Alle taten alles, um sie wahnsinnig zu machen. Krach. An allen Ecken. Seit Jahren. Kein Frieden. Nirgendwo.

Dieser grauenvolle Gus stand neben ihr und starrte sie an. Wohnte auch noch im selben Haus wie sie. Und seine Mutter und dieses andere Weib nicht besser als er. Überall Sodom und Gomorrha. Auch da drüben.

»Krrr«, sagte die Jochmann. »Krrr. Krrr. Krrr.«

Gus grinste. Die Alte gehörte in die Klapsmühle. Eindeutig.

Hanne Jochmann guckte zu den Fenstern von Frau Dau, als käme von dort Hilfe. Hörte die denn den Krach nicht, der aus der oberen Etage drang? Aus dem Schreckenshaus, in dem nun neue Leute lebten?

Die Jochmann hatte keine Ahnung, dass es Neil Diamond war, der da oben Krach machte. »Girl, You’ll Be A Woman Soon.«

Aus »Pulp Fiction«. Dem Film. Auch den kannte Hanne Jochmann nicht.

An Leo ging der Zorn von Frau Jochmann vorbei. Er nahm weder sie noch Gus wahr. Er sann über seinen ersten Schultag in Hamburg nach. Eigentlich waren sie alle nett gewesen. Nur diese Tilda war gewöhnungsbedürftig. Schade, dass der Tag mit ihr begonnen hatte.

Leo fing an, seine Umzugskartons auszupacken.

Die Musikanlage hatte er ja schon erfolgreich installiert.

»Gehörst du auch zu diesen Leuten?«, fragte Hanne Jochmann, als sich Teresa näherte. Teresa blickte zu Leos Fenster hoch, dessen Flügel offen standen. Er hätte das Zimmer neben ihr haben können, zur Gartenseite, doch dieses Eckzimmer hatte es ihm angetan gehabt.

Ein Ausguck. Beste Sicht auf beinah alles.

»Stört Sie die Musik?«, fragte sie. Erst jetzt sah sie, dass sich Gus hinter der Frau herumdrückte. »Krrr. Krrr«, sagte Gus.

Die Frau wedelte mit den Händen, als sei Gus eine Fliege.

»Und ob sie die Musik stört. Frau Jochmann stört alles. Alles, was anderen Spaß macht, schadet ihren Nerven«, sagte Gus.

Teresa schaute ihn aufmerksam an. Vielleicht war er gar nicht so dumm. Er schien jedenfalls kein schlechter Beobachter zu sein.

»Du Flegel. Du fieser Flegel.« Frau Jochmann stampfte mit dem Fuß auf und verlor ihren Schuh dabei. Gus grinste. Der grinsende Gus.

»Sorg dafür, dass dieser Krach aufhört«, fuhr sie Teresa an.

Frau Jochmann sah aus, als ob sie in Tränen ausbrechen wollte. Ihre straff gespannte Haut war weiß bis in den Ansatz ihrer rot gekräuselten Haare.

Die Musik hörte jäh auf, als Hanne Jochmann zu kreischen ansetzte. Und so war nur noch ihr Kreischen zu hören und Leo zu sehen, der ziemlich fassungslos an seinem stillen Fenster stand.

Teresa war allein zu Hause an diesem frühen Freitagabend am zweiten Augustwochenende. Thomas saß noch in der Redaktion, für die er nun arbeitete. Herlinde hatte den ersten Job seit Langem, ein Hörspiel, für das sie gerade Aufnahmen in einem Studio des NDR machte. Leo streunte in der Stadt herum, Sehenswürdigkeiten gucken. Vielleicht sah er sich gerade das Stadion von St. Pauli an oder Plattenläden.

Teresa stand auf der Terrasse, als Gerda Dau durch den Garten lief. Hin zum Kanal. Es sah aus, als ob sie sich hineinstürzen wollte. Doch dann hockte sie nur im Gras und kam nicht mehr hoch aus dieser Hocke.

Teresa hörte Frau Daus Weinen, als sie näher kam, und spürte einen tiefen Widerwillen. Irgendwas war falsch an dieser Szene.

»Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen«, sagte Gerda Dau so leise, dass Teresa kaum etwas verstand.

»Wer?«, fragte sie.

»Ich bin schuld. Alle Stimmen sagen es. Elisabeth auch.«

Elisabeth. Die Große. Nun Neunzehnjährige. Die kam, um der Kinderfrau zu sagen, dass ihre Mutter versucht habe, sich das Leben zu nehmen? Mutter von Johannes. Charlotte. Elisabeth.

»Ich bin schuld«, wiederholte Gerda Dau, »alles schuld.«

Teresa sah sich im Garten um, als sei da noch irgendwo Elisabeth, um ihre Anschuldigungen loszuwerden, ihre Vorwürfe auszusprechen.

War das gerecht? Was war Gerechtigkeit in diesem Fall?

Teresa wünschte, Leo käme und führte Frau Dau in ihre zwei Zimmer über der Garage. Spräche beruhigend zu ihr. Relativierte diese Schuldzuweisung des Mädchens, das Elisabeth hieß.

Wie traumatisiert musste diese Familie sein? Wie traumatisiert Frau Dau?

»Elisabeths Mutter wird es doch überleben. Oder?«, fragte Teresa.

Gerda Dau öffnete eine ihrer Hände, die zu Fäusten verkrampft waren. Ein herzförmiger Zettel klebte in ihrer Hand.

»Da soll ich anrufen«, sagte sie.

Teresa war dankbar, als sie Leo in den Garten kommen sah. Eine Tüte von Zardoz schwenkend, einem Plattenladen in der Sternschanze.

Leo gab die Zahlen vom Zettel ins Handy, nachdem er gehört hatte, um was es ging. Er tippte sie zweimal ein und schüttelte schließlich den Kopf.

»Die Leitung ist tot«, sagte er.

»Das ist doch das UKE«, sagte Gerda Dau.

»Universitätsklinik Eppendorf«, sagte Teresa zu Leo, der sie fragend ansah. Vielleicht war ein Dreher drin. Die Zahlen im Schock falsch notiert. Oder Frau Dau hatte etwas völlig missverstanden.

»Wo leben die jetzt?«, fragte Leo. »Keine Ahnung«, sagte Teresa.

Auch Frau Dau sagte, sie wisse es nicht. Ihr war zugebilligt worden, über der Garage zu wohnen. Doch den Kontakt verwehrte Johannes’ Familie.

Leo sah zu den Fenstern über der Garage, deren Vorhänge nun zugezogen waren. Gerda Dau hatte sich hinlegen wollen.

»Die Nummer vom UKE ist eine ganz andere«, sagte Teresa, »ich habe es überprüft, als du bei ihr oben warst.«

»Ich weiß. Die Nummer habe ich eben auf mein Handy geholt und es ihr gegeben. Als sich die Klinik meldete, hat sie das Handy fallen lassen. Weißt du, was ich glaube? Sie hat Wahnvorstellungen. Vor lauter Schuldgefühl.«

»Und dann erscheint ihr diese Elisabeth und flüstert ihr ein, die Mutter habe versucht, sich das Leben zu nehmen?«

»Auf der Kommode lag ein Block mit genau diesen Klebezetteln. Und daneben eine leere Tablettenfolie.«

»Du denkst, Frau Dau hat das alles inszeniert? Zahlen hingekritzelt, um dann in den Garten zu laufen und einen auf große Oper zu machen?«

»Ich denke schon, dass sich in ihrem Kopf alles so abgespielt hat, wie sie es dir wiedergegeben hat. Und dass sie das für Realität hält.«

»Du schließt aus, dass diese Elisabeth hier aufgekreuzt ist?«

Leo hob die Schultern. »Was heißt ausschließen? Sagen wir mal, ich halte es nicht für wahrscheinlich. Vielleicht nimmt sie diese Stimmungsaufheller. Die können zu Halluzinationen führen, wenn du sie überdosierst.«

Teresa holte das Bild vor Augen. Gerda Dau unten am Kanal. Den Zettel in der hohlen Hand. »Weißt du, was sie gesagt hat? Alle Stimmen sagten, dass sie schuld sei.«

Leo seufzte. Das bestätigte doch seine Theorie.

Die Zwillinge liefen vom Keller zu den Dachkammern und ihre Begeisterung über dieses Haus erreichte leicht die Dezibelzahl von Kindergeburtstagen. Konnte nicht lange dauern, bis die Nachbarin von gegenüber kam, um sich zu erzürnen. Die Zimmerlautstärke war längst überschritten.

Krrr. Krrr. Teresa war noch nicht klar, ob die Jochmann sich vor lauter unbändigem Zorn an den zwei ersten Konsonanten des Wortes »Krach« verhakte oder ob sie tierische Laute von sich gab, um die Menschen auf Distanz zu halten. Krähen näherten sich ihr jedenfalls schon interessiert.

»Dieses Zimmer wäre meines«, sagte Bob und sprang auf Leos Bett.

Gut, dass der in Berlin war, um mit seinem Tutor und den Teilnehmern des Geschichtskursus das Jüdische Museum zu besuchen.

»Geile Aussicht«, sagte Basti, »kannst alles überblicken.« Er winkte und Teresa sah gerade noch, wie Gerda Dau aus ihrem Fenster verschwand.

Sie hatte sich zurückgezogen seit dem Vorfall im Garten und kein einziges Wort mehr verloren über Elisabeth und ihre Mutter.

»Amerika hat euch verjüngt«, sagte sie zum hopsenden Bob.

»Soll heißen, dass wir total kindisch drauf sind?« Bob stieg vom Bett und betrachtete den giftgrünen Sitzsack mit Sympathie.

»Guck dir die an«, sagte Basti. »Da drüben auf der anderen Straßenseite. Sieht aus wie ein Huhn mit Kräusellocken.«

Die Jochmann warf einen Blick nach oben und eilte davon. Sie wirkte gehetzt, als sei jemand hinter ihr her. Gus war jedenfalls nicht zu sehen.

»Kannst du uns mal das Zimmer von dem Kleinen zeigen?«

»Ich habe keine Ahnung, wer welches Zimmer hatte«, sagte Teresa.

»Dann lass uns in die Küche gehen. Aus der ist er doch verschwunden.«

»Ihr seid gut informiert.«

»Google.« Die Zwillinge grinsten. »Ich hätte echt Lust, auf Spurensuche zu gehen«, sagte Basti. Sein Bruder nickte. »Der Nachname wird in den Zeitungen immer mit z. W. abgekürzt.«

»Zur Weide«, sagte Teresa. Thomas hatte gesagt, dieser Name stehe im Mietvertrag. Im Internet fanden sich nur Gasthöfe und ein Gnadenhof, die zur Weide hießen.

»Komischer Name«, sagte Basti, »zur Weide. Klingt nach Kühen.«

Sie gingen in die Küche hinunter. Die Brüder setzten sich an den Tisch und ließen die Blicke schweifen. Teresa stellte Gläser hin und holte die Cola aus dem Kühlschrank. Sie spürte auf einmal eine große Unlust, mit ihren Kindheitsfreunden Detektiv zu spielen.

»Tut mir leid«, hatte Beckie gestern gesagt. »Diese Kindsköppe gehen mir nur noch auf die Nerven. Warum wollen die nicht erwachsen werden?«

»Er hat nie erwachsen werden wollen«, hatte Herlinde gesagt, als Teresas Vater Frau und Tochter verließ. Waren Männer so? Thomas und Leo schienen ihr anders zu sein. Leo. Da war schon wieder ein Herzstich.

»Früher haben wir Listen mit Verdächtigen erstellt«, sagte Basti.

Teresa setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Heute sind wir schon groß«, sagte sie, »und nicht alle können Hansen heißen.«

»Wohin würdest du gehen, wenn du abhauen wolltest?«, fragte Bob und sah seinen Bruder an, als sei es ihm ernst.

»Irgendeine einsame Hütte ließe sich schon finden«, sagte Basti, »um der family ein bisschen Angst einzujagen.«

»Ich glaube kaum, dass ein Vierjähriger der Familie Angst einjagen will«, sagte Teresa. Was für ein schwachsinniger Gedanke von den beiden.

Die Brüder nickten einander zu.

Leo hatte Woody gefragt, den Jungen, mit dem er sich am besten verstand. Ob die Töchter der zur Weides auf dieses Gymnasium gegangen waren. Woody wusste es nicht, doch er war auch erst im vergangenen Jahr aus einem Internat an der Nordsee hergekommen.

»Elisabeth und Charlotte sind beide von der Schule genommen worden«, sagte die Schulsekretärin. »Schon wenige Wochen nachdem ihr Bruder verschwunden war. Warum wollen Sie das wissen?«

Warum wollte er das wissen? Weil Teresa so insistierte? Frau Dau sich seltsam benahm? Das Haus an der Tragödie trug?

Ein gutes Leben hatten sie miteinander. Herlinde. Thomas. Teresa. Er. Alle vier hatten sich eine Familie gewünscht, die um große Tische saß. Weder Herlinde noch Thomas hatten es genossen, allein mit ihrem Kind zu leben. Doch etwas trübte ihr Glück, legte sich auf die Heiterkeit im Haus. Nicht zu wissen, was geschehen war an jenem Tag im November.

Heißer Sommer, der sie in diesen Tagen umgab und doch schon eine Ahnung von Herbst in sich trug. Dann kam die dunkle Jahreszeit und mit ihr die Geister. Hätten Herlinde und Thomas kein unbelastetes Haus mieten können? Kaum für diese Miete. Die war ein Klacks für das, was das Haus bot. Geister inbegriffen. Die normative Kraft des Faktischen.

»Du hast nach den zur Weides gefragt?«

Leo drehte sich um. Tilda stand hinter ihm. Die Strahlen der Augustsonne fielen auf ihr Haar und ließen es kupferrot leuchten. Beinah schön.

»Kennst du sie?«, fragte er.

»Ich war im Haus, als der Kleine verschwand.«

Leo wurde es kalt in der Sonne dieses Nachmittags.

»Die Schwester hatte bei mir Nachhilfeunterricht.«

»Hast du Zeit?«, fragte Leo.

»Da ist nichts zu erzählen. Nur das.«

»Ich wohne in dem Haus.«

»Ich weiß«, sagte Tilda.

»Lass uns an die Alster gehen«, hatte Leo gesagt und sich den alten Eastpak über die Schulter geworfen, »es ist ein so schöner Tag.«

Eine Stunde lang waren sie um den glitzernden See der Außenalster gegangen und hatten die längste Zeit geschwiegen.

»Woher weißt du, dass ich dort wohne?«

»Ich habe am Kanal gestanden und dich im Garten gesehen.«

»Stehst du dort öfter?«, hatte er gefragt. Gereizter Klang in seiner Stimme.

»Ich stehe auf der öffentlichen Straße und lehne am öffentlichen Geländer.«

»Mir war nicht klar, dass der Garten so einsehbar ist.«

»Hast du noch nie da gestanden?«

Die einzigen Sätze, die gesagt worden waren.

Kein Wort über den unglückseligen Novembertag.

Leo bog in die Straße ein, in der er nun schon seit sechs Wochen lebte.

Vor dem Haus stand ein blau-silberner Streifenwagen der Polizei.

An der Tür stieß Leo mit einer jungen Polizistin zusammen, die dabei war, mit ihrem Kollegen das Haus zu verlassen.

»Hoppla«, sagte der Mann. »Wer hat es denn da eilig?«

»Frau Dau ist überfallen worden«, hörte er Herlinde sagen, die hinter den Polizisten aus dem Haus kam. »Und das ist Leo. Unser Sohn.«

Es freute ihn, dass sie unser Sohn sagte.

»Sie haben sich heute Nachmittag nicht im Haus aufgehalten?«

»Nein«, sagte Leo. »Ich war in der Schule und danach bin ich mit einer Mitschülerin spazieren gegangen, um die Außenalster.«

»Da kommen Sie her?«

»Da komme ich her«, sagte Leo. »Was ist passiert? Wo ist Frau Dau?«

»Teresa hat sie zur Notaufnahme des UKE begleitet. Eine Platzwunde an der Stirn. Thomas wird die beiden abholen«, sagte Herlinde.

Nein. Keiner wusste, wer da in ihre Zimmer über der Garage eingedrungen war. Nur einen Schrei hatten Teresa und Herlinde gehört. Anders als jener, der damals aus der Küche gekommen war. Kein Schmerz. Keine Trauer. Die Tür zu der Wohnung hatte weit aufgestanden. Frau Dau hatte vor der Kommode gelegen und am Kopf geblutet. Die Fotografie von Johannes war umgestürzt. Auch die kleine Vase. Das Wasser lief aus, rostrote Astern lagen neben der Vase. Der Engel stand in einer Lache.

Der Schrei habe zornig geklungen, sagte Herlinde, nachdem die Polizisten gegangen waren. Als hätte sie den Eindringling erkannt und angeschrien. »Die Polizisten scheinen nicht an einen Überfall zu glauben. Eher, dass sie gestürzt sei. Und verwirrt.«

»Glaubst du das auch?«

Herlinde hob die Schultern. Sie sah erschöpft aus. »Ich habe eigentlich nur ein Haus mieten wollen«, sagte sie.

»Vielleicht das falsche«, sagte Leo.

Aus einem Fenster kamen die ersten Klänge der Tagesschau. Leo lehnte am Geländer, das den Kanal von der Straße abgrenzte, und sah zum Haus. Dämmerung. Die Tage wurden deutlich kürzer.

Frau Daus Vorhänge waren zugezogen. Sie hatte ein Beruhigungsmittel genommen. Vielleicht schlief sie schon.

In Teresas Zimmer ging das Licht an. In den zwei Fenstern waren die Pflaumenwände zu sehen und davor Teresa, deren helles Haar vor dem dunklen Lila leuchtete. Sie zog ihr T-Shirt über den Kopf und trug nur noch den BH mit den Punkten, und Leo war erleichtert, dass Teresa das Zimmer verließ, bevor sie sich weiter auszog.

Vorhänge, dachte Leo. Auch im Zimmer nebenan. Selbst wenn da nur die Bücherwände zu sehen waren. Und hohe Hecken sollten sie pflanzen.

Bei einem verspäteten Abendbrot am Küchentisch plädierte er für beides. Er erzählte nichts von Tilda. Noch nicht. Nur von seinem Blick über den Kanal und die Bühne, die sich ihm geboten hatte.

»Erst einmal Vorhänge«, sagte Thomas. »Und ich schlage vor, den Makler zu bitten, die zur Weides zu kontaktieren und über die Zukunft von Frau Dau zu sprechen. Sie kann da oben nicht bleiben.«

Doch da stimmte ihm keiner zu. Nicht einmal Herlinde.

Am letzten Augusttag bemerkte Teresa das Mädchen mit dem kupferroten Zopf zum ersten Mal. Es stand vorm Haus und sprach mit Gus.

Teresa sah aus einem der Eckfenster in Leos Zimmer, in das sie gegangen war, um sich das englische Wörterbuch zurückzuholen. Leo streifte irgendwo herum, wie er es gerne an Freitagnachmittagen tat, wenn er schon um zwei Uhr am Mittag aus der Schule kam. Teresa wich vom Fenster zurück, als Gus’ Finger zu ihr nach oben zeigte. Dieser Idiot. Was verriet er da dem rothaarigen Mädchen in dem knöchellangen Kleid?

Er schien sie auf jeden Fall wichtig zu finden, sprach auf sie ein, zeigte da- und dorthin. Fast wirkten sie vertraut.

Teresa hatte das Wörterbuch noch in der Hand, als sie zur Haustür hinauslief, um das an Ort und Stelle zu klären. Doch nur Gus war noch da.

»Wer war das?«, fragte sie.

Gus sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben. »Wer?«, fragte er.

»Das Mädchen mit dem roten Zopf, das noch eben hier mit dir stand.«

»Waren wir schon so weit gekommen, uns gegenseitig Fragen zu beantworten?« Gus grinste. Er hatte durchaus Charme, wenn er grinste.

Teresa ärgerte sich sofort über diesen Gedanken.

»Okay«, sagte sie, »Friede. Ich bin Teresa.«

Gus nickte, als sei ihm das keine Neuigkeit. »Und das war Tilda.«

»Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Gus.«

»Sie kannte die Geschwister, die hier vor euch wohnten.«

»Alle drei?«

Gus nickte. »Charlotte hatte bei ihr Nachhilfe. Tilda ist eine Oberschlaue.«

»Und wie kamst du in diesen erlauchten Kreis?«

»Weil die beiden nicht so beschränkt sind, einen gleich in die Schublade für die Honks zu legen.«

Teresa schluckte. Gus lag richtig. Sie hatte von Anfang an Vorurteile gegen ihn gehegt. Seit sie sein Gesicht im Kellerfenster entdeckte, war er für sie ein Honk gewesen.

»Du hast recht, und ich entschuldige mich dafür. Ich hab gedacht, du könntest nicht bis drei zählen und wärest darum frech für zwölf Personen.«

»Ich komme aus einem bildungsfernen Elternhaus, doch ansonsten bin ich total clever«, sagte Gus. Er rieb sich die Hände. Ihm ging auf, dass er gerade dabei war, Teresa für sich zu gewinnen.

»Wie alt bist du?«

»Demnächst sechzehn.«

»Und? Hast du den kleinen Johannes zum Heulen gebracht?«

Gus wand sich. »Über Tote soll man nichts Schlechtes sagen.«

»Du glaubst, dass er tot ist?«

»Ich sag mal so«, sagte Gus. »Wo soll er sein, wenn er lebt? Er war ein verwöhntes Biest. Genau wie die Elisabeth. Der überlebt nicht in der Wildnis. Nur Charlotte war anders. Die bei Tilda Nachhilfe hatte.«

»Und womit hast du ihn gepiesackt?«

»Gar nicht gepiesackt«, sagte Gus. Er sah zu den Fenstern des Klinkerhauses hoch, in dem er wohnte. Teresa blickte ebenfalls hoch. Doch ihr fiel nichts auf.

»Vergiss es«, sagte er. Auf einmal hatte Gus zugemacht.

Er hatte Tilda nach Elisabeth gefragt auf ihrem Gang um die Alster. Kaum anzunehmen, dass die beiden sich nicht gut kannten. Sie waren etwa gleich alt und hatten dasselbe Gymnasium besucht. Dass Tilda achtzehn war, wusste er von Woody. Sie war tatsächlich nur wenige Monate älter als Leo, der Ende September Geburtstag hatte.

Tilda hatte die Frage nach Elisabeth unbeantwortet gelassen.

Ein seltsamer Spaziergang, über den er seit Tagen nachdachte.

Leo war an diesem Freitagabend an der Sternschanze in die Hochbahn gestiegen. Er liebte die Strecke über St. Pauli und den Landungsbrücken, dort, wo die großen Schiffe in früheren Zeiten von der Überseebrücke in See gestochen oder an den Landungsbrücken angekommen waren, nachdem sie die Weltmeere durchquert hatten.

Der Hafen lag im weichen Licht einer tief stehenden Sonne, als die Hochbahn in die Station Baumwall einfuhr, der nächsten nach den Landungsbrücken. Drüben funkelte die Elbphilharmonie, leuchteten die roten Backsteine der alten Speicher.

Schon kurz vor neunzehn Uhr. Es wurde Zeit, nach Hause zu kommen.

Thomas legte großen Wert darauf, das abendliche Essen gemeinsam einzunehmen. Am Küchentisch sitzen. Essen. Trinken. Reden.

Er nannte es eine Säule glücklichen Familienlebens. Vermutlich hatte Thomas die Sehnsucht danach all die Jahre in sich getragen.

Die Erinnerungen, die Leo an seine Mutter hatte, waren die Erinnerungen seines Vaters. Leo war ein Winzling gewesen, als sie starb. Er fühlte keine Trauer, nur ein großes Bedauern, sie nicht gekannt zu haben, wenn er Fotografien von ihr in die Hand nahm.

Die junge Frau, die am Baumwall einstieg und sich ihm gegenübersetzte, kam ihm vertraut vor. Doch nichts klickte in Leos Gedächtnis, als er das Gesicht betrachtete, dessen Züge ein wenig disharmonisch waren und das ihn dennoch geradezu magisch anzog.

Er tat so, als nähme er nur das Bild da draußen wahr, den Hafen und das Licht des späten Sommers, dabei sah er sie an. Tatsächlich unbemerkt von ihr, die aus dem Fenster guckte, auch als die Bahn in den Tunnel fuhr?

Vier Stationen später zögerte er, am Bahnhof auszusteigen, dachte einen Augenblick lang daran, mit ihr zu fahren, wohin auch immer. Doch Leo stand auf und verließ die Bahn und stieg in den Bus.

War es die Nennung von Tildas Namen, die Leo nachdenklich wirken ließ?

Teresa beobachtete ihn, wie er sich nur eine kleine Portion Nudelauflauf auf den Teller tat und auch diese nicht gerade gierig aß. Völlig untypisch für ihn bei Nudelauflauf. Teresas Herzstiche gingen in eifersüchtiges Piksen über.

Auch das konnte sie nicht erklären, es pikste einfach, und zwar heftig.

Weibliche Antennen, hätte Herlinde gesagt, wäre sie gefragt worden.

Leo stach die Gabel in die Tagliatelle hinein.

»Wer sagt, dass sie Tilda heißt?«, fragte er.

»Gus«, sagte Teresa, »der Junge, der gegenüber wohnt. Tilda kannte Johannes und seine Schwestern.«

Leo guckte auf und schien endlich interessiert.

»Auch diese Elisabeth?«, fragte er.

»Ich hoffe nicht, dass ihr beiden auf Spurensuche seid«, sagte Thomas.

»Auch Elisabeth«, sagte Teresa und sah Leo noch aufmerksamer an.

»Leo, nimm dir Salat«, sagte Thomas, »und bitte haltet euch beide aus dieser traurigen Geschichte raus.«

»Sie drängt sich uns doch auf, die Geschichte«, sagte Teresa. »Habt ihr eigentlich mit Frau Dau noch mal über den Überfall gesprochen?«

»Sie kann sich angeblich an nichts erinnern«, sagte Thomas, »doch es hat sie gekränkt, dass jemand glauben könnte, sie sei lediglich gestürzt und nach dem Sturz verwirrt gewesen.«

Herlinde stand auf. »Ich möchte euch noch den Stoff für die Vorhänge zeigen«, sagte sie. »Räumt doch mal den Tisch ab.«

Da hatte Herlinde das Gespräch wieder bestens abgewürgt, dachte Teresa, als ihre Mutter den dicken Stoffballen mit der weißen Baumwolle auf den sauber gewischten Küchentisch legte. Was gab es denn daran zu sehen? Weiße Vorhänge vor weiß gestrichenen Wänden. Genial. Wenigstens vor ihrem Pflaumenlila würde das gut aussehen.

»Ist das viele Weiß nicht ein wenig langweilig?«, fragte Thomas vorsichtig.

Herlinde legte einen Prospekt mit einer Farbskala neben den Ballen.

»Jeder kann sich eine Farbe für seine Vorhänge aussuchen.«

Leo tippte auf ein Lila. »Ich will das«, sagte er und sah zu Teresa. »Ist doch witzig, wenn wir die Farben umkehren.«

Teresa wurde warm ums Herz. Sie hätte Leo allzu gerne umarmt.

»Vor der ganzen Näherei willst du den Stoff auch noch färben?«, fragte Thomas. »Und das nach individuellen Wünschen? Das ist doch viel zu viel Arbeit.« Er hätte beinah Gedöns gesagt. Doch das gehörte nach Köln.

»Nach der ganzen Näherei«, sagte Herlinde. »Das färbe ich in der Maschine, ist nicht viel Aufwand. Leider rennt mir keiner die Türe ein, um mir eine Rolle zu geben und mich von meiner Waschmaschine wegzuziehen.«

Thomas gab ihr einen Kuss und legte einen Arm um ihre Schultern. »Dann bin ich für Rot«, sagte er und beugte sich mit Herlinde über die Farbskala. Leo gab Teresa ein Zeichen.

»Zu dir oder zu mir«, sagte Leo, als sie die Treppe in den ersten Stock hochstiegen. Klang beinah schon anzüglich. Teresas Gesicht schien auch eine Spur röter geworden zu sein. Leo ging der Gedanke durch den Kopf, ob sie noch Jungfrau war. Sie konnte sehr kindlich wirken, und im nächsten Augenblick war sie eine junge Frau wie die Schöne in der Hochbahn.

»Zu mir«, sagte Teresa und zog ihn in ihr Zimmer.

»Erzähl mir alles, was du von diesem Gus gehört hast«, sagte Leo.

»Du kennst Tilda, nicht wahr?« Klang Teresa enttäuscht?

»Sie ist in meiner Profilstufe. Und sie kennt die zur Weides. Tilda hat der jüngeren Tochter Nachhilfestunden gegeben.«

»Das hat mir Gus auch erzählt. Warum wusste ich das nicht schon von dir?«

»Ich hab es an dem Tag erfahren, als die Polizisten hier waren. Da war so viel Aufregung, dass ich es wohl vergessen habe.«

Teresa sah ihn prüfend an. Zu dir oder zu mir hatte so vielversprechend geklungen. Nahm Leo sie eigentlich auf irgendeinem Gebiet für voll?

»Hat Gus dir auch erzählt, dass Tilda hier im Haus war, als der Kleine verschwand?«, fragte Leo. »Vielleicht saß sie in diesem Zimmer.«

Teresa trat ans Fenster. Der Garten war dunkel. Keiner, der auf der Terrasse saß, um einen der selten werdenden Sommerabende zu genießen. Thomas und Herlinde hatten sich wohl am Küchentisch festgequatscht.

»Nein«, sagte sie, »das hat er nicht erzählt. Tilda könnte also theoretisch mit dem Verschwinden des Jungen zu tun haben.«

»Nicht nur theoretisch«, sagte Leo.

»Wäre wirklich interessant zu wissen, wer welches Zimmer gehabt hat«, sagte Teresa und dachte an die Zwillinge, die heute nicht in der Schule gewesen waren.

»Elisabeth als das älteste Kind bewohnte sicher dieses Schloss hier.«

»Dein Eckzimmer ist auch nicht zu verachten.«

»Vielleicht spreche ich Frau Dau doch noch mal darauf an«, sagte Leo.

»Schalt mal das Licht aus.«

»Was ist los?«

»Und komm her«, sagte Teresa. »Drüben steht Tilda.«