Wie es zum »Großen Schneidewind« kam

Wie kann sich da einer der ›große‹ Schneidewind nennen? Bescheidenheit ist offenbar nicht seine Zier. Ganz abgesehen von der vordergründigen Großmäuligkeit, verpflichtet so ein selbstauferlegter Beiname. Ständig muss man alles besser wissen und auch auf die kniffligste Frage eine erschöpfende Antwort parat haben. Das kann doch eigentlich niemand. Nein, das kann wirklich niemand, und ich kann es auch nicht.

Mag sein, dass ich durch die Art und Weise der Aneignung meines Wissens über die Rock- und Pophistorie über die Jahrzehnte ein wenig mehr abrufbares Wissen angehäuft habe als andere. Als Ursache hierfür sehe ich zum einen meinen frühen Einstieg in die Materie mit gerade mal 12 Jahren. Das Thema Rock und Pop befeuerte mein Interesse über das Ende der Studienzeit hinaus. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass Schüler einen großen Teil ihrer Freizeit mit Popmusik verbringen. Das war ein wichtiges emotionales Feld für meine künftige pädagogische Arbeit. Ich blieb also dran im Gegensatz zu vielen Altersgefährten, die mit dem Berufseinstieg und der Gründung einer Familie andere Prioritäten setzten.

Dann kam das Radio als Job. Das Hobby wurde zur Profession. Und so ist es bis heute, ohne dass ich die Pflicht, mich auf dem Laufenden zu halten, als eine solche empfinde. Ich staune meinerseits über Kollegen und Freunde, die alle Trainer ihres Fußballvereins der Nachkriegszeit aufsagen können oder Spielergebnisse einer Saison der siebziger Jahre ohne nachzuschlagen sicher in die Diskussion werfen.

So ähnlich ist es bei mir mit der Popgeschichte. Und wenn dann der Moderator Thomas Schmidt während der SWR1-»Hitparade« den Eindruck erweckt, er würde jetzt einen gewaltigen Folianten von Nachschlagewerk auf den Tisch legen mit dem Titel »Der Große Schneidewind«, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Spitzname gebräuchlich oder gar zur Marke wird. Es entstand tatsächlich die Nachfrage zu einem Buch, das es gar nicht gab. »Mach’ das doch«, rieten die Kollegen. »Schreib’ doch auf, was du da immer im Radio erzählst, all diese Geschichten.«

Mehrere Verlage machten SWR 1 und mir ihre Angebote. Klöpfer & Meyer ist Premium, so wurde uns gesagt, und so entschieden wir uns für die Zusammenarbeit mit Hubert Klöpfer.

»Der Große Schneidewind« würde kein Rocklexikon oder Nachschlagewerk werden. Davon gibt es schon viele und so gute, dass ich es nicht besser machen könnte. Es ist eine Sammlung von Geschichten und Anekdoten aus zwanzig Jahren, die ich für den SDR und den SWR unterwegs war. Kernstücke sind die Gespräche mit den Stars, die fast jeder kennt. Aus Interviews von 20 oder 40 Minuten Länge werden aber oft nur Beiträge von wenig mehr als zwei Minuten oder eine SWR 1-»Leute«-Sendung, die mit Musik und Nachrichten zwei Stunden umfasst. Aber auch hier lernt der Hörer die Persönlichkeit des Interviewten nur sehr oberflächlich kennen. Nichts erfährt er von den Umständen der ersten Begegnung, die der Sendung vorausgeht oder den Feinheiten in Mimik und Gestik des Stars oder seiner Launen.

Gerne würde ich meine Hörer dabeihaben, wenn die Tür aufgeht und Paul McCartney tritt ein. Ich konnte auch niemanden mitnehmen in die Privatwohnung von Marianne Faithfull. Um das Stück Kuchen mit Manfred Mann in der Funk-Kantine stritt ich mich ohne weitere Zeugen, und Brian May hätte mir auch kaum verraten, dass die junge Frau, die ihn zum Interview begleitete, nicht seine Assistentin, sondern seine damalige Geliebte war, wenn ich meinerseits in Begleitung gewesen wäre. Was Joan Baez mit ihren Eltern verband und wie ihre Kinder sie sehen, habe ich bisher noch nirgendwo gelesen oder dass Suzi Quatro Weihnachten gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem Ex verbringt, der allen das Essen kocht. Diese und viele weitere Geschichten, die man in keinem anderen Buch oder Presseerzeugnis findet, sollen den »Großen Schneidewind« lesens- und hörenswert machen, denn auf der beigefügten CD kommen meine Gesprächspartner selbst zu Wort. Hier eröffnet sich eine weitere Dimension, die dem Leser nur über das gesprochene Wort und über sein Gehör vermittelt werden kann, wie das diebische Lachen Mick Jaggers, wenn er mir versichert, dass seine Bandkollegen bei den Rolling Stones bei der Auswahl der Titel für ein Stones-Konzert eigentlich kein Mitspracherecht haben oder das Donnern in der Stimme von Meat Loaf, wenn er eine Frage beantwortet, als sei er in einem Shakespeare-Drama. Da kommt die heisere Stimme von Marianne Faithfull rüber, als wären Sie mit ihr in ihrer Pariser Wohnung oder die sanfte Stimme von Donovan, als würde er uns ein Mantra vermitteln.

Begleiten Sie mich mit Led Zeppelin-Sänger Robert Plant durch den Englischen Garten in München. Kommen Sie mit mir nach Paris zur Ex-Geliebten von Mick Jagger ins Wohnzimmer, seien Sie mit dabei, wenn mir David Bowie in einer Live-Sendung aus der Patsche hilft, weil gar keine Platte auf dem Plattenspieler liegt und beinahe keine Musik aus dem Radio gekommen wäre. Oder lassen Sie sich von Paul McCartney erzählen, wie er zum letzten Mal vor dem Tode George Harrisons bei ihm zuhause im Garten dessen Lied »Something« auf der Ukulele spielte.

Günter Schneidewind, im Juli 2011