David Bowie – der Mann, der vom Himmel fiel

Stuttgart 1991

In der Nachmittagssendung »Treff« waren bei SDR 3 oft Künstler live zu Gast, auch aus der internationalen Rock-Szene. Es ergab sich, dass der Musikchef Matthias Holtmann kurzfristig eine seiner Sendungen abgeben musste. Diese sollte um 14 Uhr beginnen. Ich war für die 13-Uhr-Sendung (»Espresso«) eingeteilt und unterhielt mich gerade mit meinen Gästen, einer Gruppe von Azubis, um sie auf die Livesituation einzustimmen.

Es war etwa 12.30 Uhr. Da kam Matthias dazu und erklärte mir kurz die Situation: »Ich muss dringend weg. Du musst den ›Treff‹ übernehmen. Ach ja, da kommt so eine Nachwuchsband aus England, da ist auch David Bowie dabei. Du machst das schon.« Sprach’s und verschwand.

Er hatte wirklich David Bowie gesagt. Ziggy Stardust und Major Tom sind Figuren, die jeder Rockmusik-Fan kennt. Bowie hat sie erschaffen mit Songs wie »Space Oddity«, Alben wie »The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars«. Der Erfinder des Glamrock, der Sänger von »Heroes«, »Let’s Dance«, »Starman«, »China Girl« oder »Absolute Beginners«, der Schauspieler aus dem Film »Der Mann, der vom Himmel fiel«. Gleich würde er da sein mit seiner neuen Band Tin Machine, von der ich so gut wie nichts wusste oder kannte und mit denen ich live ein Gespräch in englischer Sprache im Radio führen sollte. Lange konnte ich darüber nicht nachdenken, denn schon kam die Promoterin der Plattenfirma, die mir noch schnell das neue Album in die Hand drückte. Dazu eine Mappe mit den wichtigsten Daten zur Band. Wir schrieben das Jahr 1991 und das Internet als Quelle allen Wissens war noch kein Standard.

Es gab ein Archiv mit prall gefüllten Aktenordnern über Leben und Wirken der großen und der längst vergessenen Stars der Rock- und Popszene. Doch jetzt war kaum Zeit, das Material herauszusuchen und zu sichten. Also schnell die eigene Datenbank im Kopf abfragen. Bowie würde kaum über seine Zeit als Superstar in den Neunzigern reden wollen, wenn er mit einer neuen Band antrat. Oder sollte ich ihn nach den Jahren fragen, als er in Berlin wohnte, 1976 bis 1978, nur ein paar Kilometer Luftlinie von meiner damaligen Junggesellenbude entfernt, lediglich durch eine Mauer von seiner Welt getrennt? Es hieß, er habe sich für Diktaturen interessiert und wollte die Stadt kennenlernen, in der Hitler geherrscht hatte. Dass Bowie Hitler als ersten Popstar bezeichnet hatte, mag aus dem Zusammenhang gerissen sein, taugt aber weder im Ost- noch im Westradio als Zitat im Interview mit dem Künstler. (Oder vielleicht doch?)

Bowie war damals schwer auf Heroin und musste seine Scheidung von Angie Bowie verwinden. War das die Angie, von der Mick Jagger in einem der größten Stones-Songs sang, der ja auch kurz vor der Scheidung entstanden war? Und hatte selbige Angie nicht Jagger und Bowie im Bett erwischt, als die ihre sexuellen Grenzen austesten und überschreiten wollten?

Der Rolling Stones-Song vom 1973er-Album »Goats Head Soup« stammt in seiner Urform von Keith Richards. Er fand die Melodie als Patient auf Drogenentzug in einer schweizerischen Klinik in Vevey, während seine Frau Anita Pallenberg ein paar Häuser weiter Tochter Angela zur Welt brachte. Keith sang immer den Namen »Angie« zu den ersten improvisierten Akkorden, obwohl ihm das Geschlecht und der Name des Kindes zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt waren. Den Rest des Liedes besorgte Mick Jagger, der ebenfalls darauf besteht, dass das Lied Keiths Tochter Angela gewidmet sei, wenngleich Zeilen wie »Baby dry your eyes … ain’t it good to be alive they can’t say we never tried« einen Rückschluss auf die Liebe Mick Jaggers zu Marianne Faithfull zulässt, die nur wenige Jahre zuvor im Drogenkollaps und Selbstmordversuch von Marianne zerronnen war.

Das wären spannende Fragen. Aber Bowie war hier, um ein neues Produkt zu bewerben, und ich wollte nicht gleich mein erstes Live-Interview mit einem der ganz Großen fahrlässig in den Sand setzen.

Tin Machine gab es seit 1989. Bowie hatte genug vom Leben als Superstar und wollte einfach wieder in einer Band aufgehen. Mit ihrem Debütalbum waren sie auch recht erfolgreich, immerhin Platz 3 in England. Nun wollten sie den Nachfolger bewerben, durch ein Interview im Radio und am Abend mit einem Konzert in einem Club in Ludwigsburg.

Beim Durchhören des Albums »Tin Machine II« fragte ich mich, wohin David Bowie mit dieser Musik eigentlich wollte. Für die Hitparaden war das kein Material. Gutes solides Handwerk einer zweifellos professionellen Rockband, nicht mehr und nicht weniger. Wir standen ja noch am Beginn des Jahrzehnts. Wie das klingen würde, wusste da noch keiner. Vielleicht wie Tin Machine?

Die Sendung begann um 14 Uhr, die Band sollte kurz nach 14.30 Uhr das Studio betreten. Kein Vorgespräch, kein Beschnuppern, der berühmte Sprung ins kalte Wasser.

Kurz nach halb drei ging dann tatsächlich die Tür auf, und die vier Musiker kamen herein. David Bowie betrat als Dritter den Raum, trug eine Leinenhose, Turnschuhe, ein Muskelshirt, lächelte freundlich, streckte die Hand aus und sagte: »Hello, I’m David«.

Auf dem Plattenteller drehte sich noch eine Single aus dem Hitprogramm, die neue von Tin Machine hatte ich schon bereitgelegt. Wir arbeiteten damals mit Plattenspielern, Bandgeräten und CD-Playern. Die Singles wurden vom Moderator selbst aufgelegt und sorgfältig eingerichtet, damit sie beim Reglerstart nicht ›jaulten‹. Automatisiertes Prozedere wie beim Autofahren mit Getriebeschaltung. Jeder Handgriff sitzt und ist abgespeichert im Unterbewusstsein. Irgendwie war ich angesichts des lächelnden Pophelden dann aber aus dem Tritt gekommen. Mit der Ankündigung, dass wir nun die neue Single von Tin Machine hören würden, schob ich den Regler hoch, der Plattenteller begann sich zu drehen, aber es lag keine Platte darauf. Ich hatte in der Aufregung einfach vergessen, die schwarze Scheibe aus der Hülle zu nehmen und sie aufzulegen. David Bowie erkannte die Brisanz der Situation sofort, begann über das neue Album zu reden und bedeutete mir durch Gesten, dass er dies so lange tun würde, bis ich die Platte aufgelegt hätte.

Bei meinem ersten Live-Interview mit einem wirklich großen Popstar half mir dieser aus der Klemme, in die ich durch einen Anfängerfehler geraten war. Dieser Vorfall war die Blaupause für viele künftige Begegnungen mit den Großen und nicht so Großen des Musikbusiness. Die wahren Profis geben sich meist natürlich, sind kooperativ, freundlich und professionell. Dazu gehört auch, dass sie gar nicht erst erscheinen, wenn sie keine Lust auf ein Interview haben. Schlimm sind jene, die keine Lust haben, trotzdem erscheinen und dem Interviewer das Leben schwer machen. Diese Erlebnisse verblassen meist wieder, aber einige sind so nachhaltig wie meine Begegnung mit dem Zickentrio Tic Tac Toe, dass sich die Erinnerung nicht ganz löschen lässt.

Im Laufe des Interviews mit Tin Machine, bei dem sich Bowie zunächst zurückhielt und seinen Bandkollegen das Reden überließ, verstiegen wir uns zu der These, dass die Zeit der Superstars, wie wir sie in den achtziger Jahren mit Madonna, Prince oder Michael Jackson erlebt hätten, nun vorbei sei und die Rückkehr zu ehrlicher handgemachter Musik ohne Starallüren heraufdämmere. Da hielt es Bowie nicht mehr ruhig auf seinem Stuhl, er meldete seine Bedenken an, dass gerade Michael Jackson in den Neunzigern trotz nachlassender Popularität weiter wie ein Idol gefeiert würde wie auch Sternchen von offenbar begrenzter Haltbarkeitsdauer. Hier nannte er Paula Abdul, Marky Mark oder Mariah Carey, die ihre Charts-Erfolge vor allem einem entsprechenden Hype der Medien verdankten. Dies sei aber Teil des Pop-Business, ergänzte Bowie. So war es immer, und so werde es auch künftig immer bleiben. Wer wollte dem widersprechen.

Er sei nur Sänger und Gitarrist einer Band, betonte Bowie immer wieder, und versuche sich gelegentlich im Saxophonspiel. Eigentlich hatte er im Interview anonym bleiben wollen, aber aus Ludwigsburg war durchgesickert, dass bisher nur wenige Karten für den Auftritt von Tin Machine verkauft worden waren. Ich gab David Bowie zu verstehen, dass die Band zu gut für einen halb leeren Saal sei und eine solche Pleite nicht verdient hätte. Er murrte zunächst nur und mischte sich dann wie eben beschrieben vehement ins Gespräch, und ich ließ, wie aus Versehen, den Namen David Bowie fallen. Es gab keinen Protest seitens des Meisters.

Leider konnte ich an diesem Abend nicht zu Tin Machine gehen, weil ich in die ausverkaufte Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle musste, um einen Bericht vom Auftritt der Gypsy Kings zu machen, die ich in der Konzertpause auch kurz kennenlernte.

Ein Freund, der Tin Machine in Ludwigsburg gesehen hatte, sagte mir später, es wäre ein Konzert einer Rockband gewesen, deren Identität eigentlich egal gewesen sei. Aber er habe in der zweiten Reihe vor der Bühne gestanden mit dem Bewusstsein, da oben, der Typ, nur drei Meter weg von mir, das ist der Bowie. Und deshalb sei es doch ein ganz besonderer Abend gewesen.

Ich habe David Bowie in den folgenden Jahren noch öfter getroffen, zuletzt in Paris bei einem Round-Table-Gespräch, bei dem jeweils vier bis sechs Journalisten in einer Gesprächsrunde zum Zuge kommen. Er war genauso freundlich und aufgeräumt wie bei unserem ersten Zusammentreffen in Stuttgart, obwohl es diesmal um ihn als Rockstar mit einem neuen Album ging, den großen David Bowie eben. Ein absoluter Profi, der mit einem geschätzten Vermögen von 900 Millionen Euro zu den reichsten Künstlern der Welt gehört.