Es passiert im Hörfunk immer mal wieder, dass man seinem Interviewpartner nicht persönlich gegenübersitzt. Vielleicht unterscheidet man im englischsprachigen Raum ausdrücklich interviews face to face von anderen Situationen, z.B. Telefonaten. Es hat sich ergeben, dass ich mit Bob Geldof zweimal ein längeres Gespräch führte und zwar beide Male über eine Funkleitung von Studio zu Studio. Ich bin ihm auch persönlich begegnet, auf der Bühne, unmittelbar vor Beginn eines Konzertes von ihm und seiner Band, das ich anzusagen hatte. Aber die intensivste Form des Dialogs ließ mich nicht in die Augen meines Gegenübers blicken. Da fehlt wirklich eine Dimension, wenngleich der Radiohörer nichts davon bemerkt. Selbst im Fernsehen spürt man die Entfernung von tausenden Kilometern zwischen den Gesprächspartnern nicht wirklich. Aber dort können sie einander wenigstens sehen.
Wie dem auch sei, es ergab sich im Vorfeld eines Konzerts von Bob Geldof und seiner Band die Voraufnahme einer SWR-»Leute«-Sendung via Hörfunkleitung vom NDR-Studio in Hamburg, wo Sir Bob Platz genommen hatte, zu meiner Heimatbasis, einem SWR-Studio in Stuttgart. Bob Geldof muss der Allgemeinheit nicht vorgestellt werden. Mit seiner Band, den Boomtown Rats, hatte er 1979 einen weltweiten Hit: »I Don’t Like Mondays«. Vor allem ist Bob aber als der Initiator des gewaltigen Live Aid-Spektakels von 1985 in die Popgeschichte eingegangen. 1,5 Milliarden Menschen hatten an diesem 13. Juli einen Konzertmarathon verfolgt, der über 16 Stunden dauerte und der etwa zeitgleich in London und Philadelphia stattfand. Alles, was damals in der Rock- und Popszene Rang und Namen hatte, war dabei: Queen, U2, Bob Dylan, Sting oder Phil Collins, der sogar an beiden Austragungsorten auftrat. Mit der Überschallmaschine Concorde flog er von London nach Philadelphia. Led Zeppelin und The Who vereinigten sich wieder, Madonna war da und die Rolling Stones, Paul McCartney und die Beach Boys, Sade und die Simple Minds, Bryan Adams, Eric Clapton, Elton John, Stevie Wonder und natürlich Bob Geldof.
»Nein, über diese Sachen wird Bob nicht sprechen«, ließ das Management mitteilen. »Nur über die anstehende Tour und das neue Album.« Ach ja, diese Nummer wieder. Aber versuchen sollte man es doch wenigstens. Schade, dass er nicht hier bei mir im Studio saß, da ließe sich über die emotionale Schiene mehr machen, außerdem ist es bei einer ›Schalte‹ leichter, einfach aufzustehen und zu gehen, wenn einem keiner hinterherlaufen kann. Ich sagte also nach einer kurzen Begrüßung meinen einführenden Spruch auf und erklärte Bob, dass wir hier schon gerne das Gesamtkunstwerk Geldof vorstellen würden. »Na fein, dann sind wir ja in 10 Minuten fertig«, hörte ich ihn sagen. Oh Mann, der schien es wirklich ernst zu meinen und nur über seine gegenwärtigen Projekte reden zu wollen. Ich befragte ihn denn auch nach seiner aktuellen Band und dem letzten Album »Sex, Age & Death«. Ein düsteres Werk, das ganz im Zeichen der damals aktuellen tragischen Ereignisse in Bobs Leben entstanden war. 1995 hatte sich seine Frau, Paula Yates, von Bob getrennt und war mit den Kindern und dem Sänger der australischen Band INXS, Michael Hutchence, in dessen australische Heimat gegangen. Hutchence nahm sich zwei Jahre später das Leben. Nur drei Jahre später starb auch Paula Yates an einer Überdosis Heroin. Auf diese Weise bekam Bob Geldof seine eigenen Töchter zurück und das gemeinsame Kind der Ex-Frau und ihres Lovers dazu. Er adoptierte die zur Vollwaise gewordene Tochter Tiger Lily. Nicht wirklich ein Triumph.
»Deshalb ist meine Band auch ganz gewiss nicht der Happy Club«, erläuterte mir Bob seine jetzige Gruppe unter Anspielung auf seine frühere Band, die tatsächlich The Happy Club geheißen hatte. Obwohl mir bedeutet worden war, dieses Thema nicht anzusprechen, schilderte mir Bob ganz selbstverständlich, wie er mit dieser Situation umgegangen war. Da war so viel Schmerz gewesen, durch die Umstände, wie diese Beziehung zerbrochen war. Die geliebte Frau weg, mit einem Musiker, den Bob auch schätzte. Auch die Kinder weg. Nun waren sie wieder da, aber die Frau und der Nebenbuhler tot.
»Da sitzt du nur stumm da und fasst es nicht. Aber mit mir saßen meine Freunde in einer Runde, und gemeinsam schweigen über das Unfassbare ist ungleich besser, als allein zu sein«, gab mir Bob Geldof zu verstehen. Es folgte eine längere Pause, denn so eine Geschichte hatte ich noch von keinem Menschen aus eigenem Erleben erzählt bekommen.
Wir kamen auf die Anfänge von Bob Geldof als Musiker zurück und wie er mit seinen 1975 gegründeten Boomtown Rats durch die Clubs seiner irischen Heimat zog. (Bob Geldof wurde 1951 in Dublin geboren.) »Bei einem dieser ersten Konzerte, vor allenfalls bis zu 30 Leuten, in kleinen Clubs, kam eines Abends ein Mädchen hinter die Bühne und erklärte, dass sie mit mir schlafen wolle. Da wusste ich, dass dies der richtige Job für mich war«, lachte Bob. Später zogen er und die Rats nach London und schafften auch den Sprung nach Amerika.
»Da passierte es eines Tages, Ende der siebziger Jahre. Wir waren bei einem lokalen US-Sender zu einem Interview geladen, wie wir es hier auch führen«, erzählte Bob. »Ich war das erste Mal in meinem Leben in Kalifornien. Im Radio lief gerade ein Song von uns, da kam ein Telex, dass nur ein paar Blöcke weiter von dort, wo wir uns befanden, ein Schulmädchen seine Kameraden tötete. Sie schoss aus dem Fenster ihres Zimmers, von wo sie gute Sicht auf den Schulhof hatte, mit einem Gewehr, das sie von ihrem Vater zu Weihnachten bekommen hatte. Es war das erste Mal, dass ich von einem solchen Vorfall hörte, der ja inzwischen leider zum Alltag dieser Welt gehört, weil es immer wieder passiert. Ein Reporter rief sie daheim an und fragte, warum tust du das? Und sie sagte nur, ›ich mag eben keine Montage‹.«
Der Song »I Don’t Like Mondays« wird bis auf den heutigen Tag immer wieder von Leuten im Radio als Wunsch aufgegeben, weil viele glauben, es sei ein Lied über den ungeliebten Montag, der den Anfang der Arbeitswoche symbolisiert und ein Gefühl vermittelt, wie weit das nächste Wochenende noch entfernt ist.
Es war an der Zeit, die Geschichte zum Musikereignis Live Aid zu erzählen, was aber nicht möglich ist ohne die Vorgeschichte von Band Aid, aus der sich die Idee zum großen Festival entwickelte. Band Aid war eine All Star Band der britischen Pop-Szene der achtziger Jahre mit Leuten wie George Michael, Sting, Phil Collins, David Bowie, Bananarama, Midge Ure, Paul Young, Bob Geldof u.v.a., die gemeinsam das Weihnachtslied »Do They Know It’s Christmas« für einen guten Zweck sangen. Die Idee kam Bob Geldof an einem Oktoberabend des Jahres 1984, als er im Fernsehen einen Bericht der BBC über die Hungersnot in Äthiopien sah. »Der Bericht war mit zehn Minuten außergewöhnlich lang für die 6 Uhr-Nachrichten«, erinnerte sich Bob Geldof. »Meine Tochter war damals gerade ein Jahr alt. Vielleicht war ich deshalb für dieses Thema so empfänglich. Dieser Beitrag hat später diverse Preise gewonnen. Die Kamera zeigte die Not der Menschen in sehr emotionaler Weise. Der Ton des Reporters war aufwühlend, fast zornig. Denn der Anblick der hungernden Menschen wirkte grotesk in einer Welt, die im Überfluss lebt. Ich empfand Wut und Scham, zwei gute Motoren, wenn man etwas bewegen möchte. Ich wollte spontan Geld geben, aber das erschien mir nicht genug. Alles, was ich konnte, war Songs zu schreiben. Also nutzte ich die zehn Jahre Erfahrung im Pop-Business und rief alle meine Bekannten und Kollegen an. Viele von denen waren ganz oben und würden mühelos das Geld einspielen können. Wir dachten, dass eine Platte, kurz vor Weihnachten, genau das Richtige wäre. Einige Monate später war ich als Berater bei dem Projekt USA For Africa dabei, die mit dem Song ›We Are The World‹ ebenfalls eine sehr erfolgreiche Benefizplatte gemacht hatten.«
Ich wusste, dass die amerikanische Auflage dieser Idee solche Weltstars wie Ray Charles, Paul Simon, Bob Dylan, Bruce Springsteen, Michael Jackson, Harry Belafonte, Cyndi Lauper, Diana Ross oder Lionel Richie im Aufnahmestudio versammelt hatte. Und da war auch Bob Geldof dabei.
»Quincy Jones rief mich an, teilte mir mit, welche Künstler er schon hatte und fragte, ob ich rüberkommen und bei den Aufnahmen dabei sein wollte«, erzählte Bob. Quincy Jones galt als Übervater unter den Musikproduzenten, auf den die Elite der Stars auch hören würde. Denn es musste einen geben, der den Respekt aller Künstler genoss und dieser Mann war Quincy Jones. Er empfing jeden Einzelnen mit persönlichen Worten und appellierte dann an alle, ihr Ego mit der Garderobe abzugeben. »Die beste Erinnerung für mich an USA For Africa ist Bob Dylan«, fuhr Bob Geldof fort. »Der war etwas irritiert oder ratlos, weil er nicht wusste, wie er seinen Part singen sollte. Er ging zum Flügel, an dem Stevie Wonder saß und bat diesen um Rat. Ich habe sogar ein Foto von dieser Situation gemacht. Stevie Wonder sagte, das sei doch ganz einfach, er solle einfach singen wie Bob Dylan, weil das doch jeder könnte. Stevie brachte sich hinter seinem Klavier in Stellung und lieferte eine Kopie oder besser Parodie von dem ab, wie er sich Bob Dylan vorstellte, wenn der sang: ›We are the world, we are the people …‹. Und dann sang Dylan bei der Aufnahme genau so, wie es ihm Stevie Wonder gezeigt hatte. Er kopierte Stevie Wonders Kopie von Bob Dylan.«
»We Are The World« von USA For Africa wurde ein gewaltiger Erfolg und gilt bis heute als einer der größten Hits aller Zeiten. Wenn ich das Lied allerdings heute höre und Bob Dylan ist dran, muss ich unweigerlich an Bob Geldofs Schilderung mit Stevie Wonder denken. Beide Songs »Do They Know It’s Christmas« von Band Aid und »We Are The World« von USA For Africa waren so etwas wie die Ankündigung für das, was im Sommer 1985 folgen sollte: Live Aid.
Ich fragte Bob Geldof also, wie er dieses gewaltige Projekt angepackt hatte und ob er nicht gewisse Zweifel gehegt habe, dass ein Konzertevent dieser Größenordnung überhaupt zu realisieren wäre.
»Wegen der Konzerte hatte ich keine Zweifel. Live Aid kam zustande, nachdem ich im Sudan gewesen war und erkannte, dass wir noch viel mehr Geld brauchen würden. Vom Geld der verkauften Eintrittskarten konnten wir eine LKW-Flotte finanzieren, die benötigte Lebensmittel in den Westen des Sudan brachte, wo die Not am schlimmsten war. Live Aid sollte die Idee von Band Aid und USA For Africa fortsetzen. Die Besten der Rock-Szene sollten auf der Bühne stehen. Ein Konzert auf zwei Kontinenten zur gleichen Zeit. Mit der Satellitentechnik musste es möglich sein, jeden Fernseher auf diesem Planeten zu erreichen. Die Beatles hatten das doch schon 1967 vermocht mit ›All You Need Is Love‹.«
Bob Geldof spielte hier auf die Fernsehsendung »Our World« vom 25. Juni 1967 an. Es war die erste weltweit ausgestrahlte Sendung, an der unter Federführung der BBC 19 Länder teilnahmen. Das Programm konnte in 31 Ländern gesehen werden und hatte damals geschätzte 400 bis 500 Millionen Zuschauer. Jedes Land war mit einem eigenen Beitrag dabei. Für Großbritannien sangen die Beatles live aus den Londoner Abbey Road Studios die für diesen Zweck produzierte aktuelle Single »All You Need Is Love«.
Bob hatte damals die Sendung als junger Bursche verfolgt und fand das sehr romantisch. Er erinnerte sich auch an die Bilder von der ersten Mondlandung und wie sein Vater ihm 1957 die Signale von Sputnik 1 aus dem Radio vorspielte. Der erste künstliche Satellit der Menschheit machte »beep, beep«.
»Ich wollte aber, dass die Satelliten mehr für uns taten, als beep, beep zu machen«, nahm Bob seine Erinnerungen an Live Aid wieder auf. »Es war nicht immer leicht, die Künstler zu kriegen. Einige waren sofort bereit, wie Led Zeppelin und The Who, die sich extra für Live Aid wieder zusammenfanden, oder Eric Clapton, der sagte Las Vegas ab und kam nach Philadelphia. Mick Jagger und David Bowie nahmen den Motown Klassiker ›Dancing In The Street‹ auf und machten dazu ein tolles Video. Ich versuchte, Queen zu kriegen, die gerade von einer Australien-Tour zurückkamen. Die wollten erst nicht. Ich sagte Freddie, dass sie Queen Of the World für eine Nacht wären, und da konnte er nicht widerstehen. Zwei Milliarden Fernsehzuschauer, und Queen waren wirklich gut an dem Tag. Viele andere natürlich auch und nicht nur die Künstler. Als Organisator musste ich an so viele Dinge denken. Das war wirklich sehr anstrengend.«
Benefizkonzerte von Rockmusikern hatte es auch schon lange vor Live Aid gegeben. George Harrisons »Concert For Bangladesh« fand am 1. August 1971 im New Yorker Madison Square Garden statt. Zu beiden Konzerten am Nachmittag und am Abend kamen insgesamt 40 000 Besucher. Neben Harrison war auch Ringo Starr auf der Bühne, Eric Clapton, Bob Dylan, Billy Preston u.v.a. Das eingespielte Geld, hieß es, sei vor allem der Musikindustrie zugutegekommen, die dieses Ereignis auf diversen Ton- und Bildträgern massenhaft vermarktete. Ich sprach Bob Geldof auf dieses Thema an und fragte, ob er die Kontrolle über die Gelder behalten hatte.
»Wir waren durch die Erfahrungen der Vergangenheit vorgewarnt. Man darf nicht vergessen, dass die Beatles die Musikindustrie mit erfunden haben. Als ich mit meiner Band anfing, gab es schon keine Gruppe mehr ohne ihren Anwalt. Ich habe mit George Harrison über das Bangladesh Konzert gesprochen. Zur Geschichte der Beatles und der Stones gehören auch ihre Knebelverträge.«
Beide Bands erhielten von den verkauften Platten und Konzerteinnahmen nur einen lächerlichen Prozentsatz im Vergleich zum Management, das zeitweise bis zu 40 Prozent und mehr für sich beanspruchte. Dazu kamen Steuern bis zu 90 Prozent der Einnahmen.
»Die wurden ganz schön ausgenommen und hatten sich nie um Steuergesetze im Ausland gekümmert. Meine Generation war da schon sensibilisierter und achtete auf bestimmte Klauseln in den Verträgen. Der Band Aid Trust bestand aus Anwälten, Managern und Machern aus dem Rock-Business. Und das sind die härtesten Manager, die man sich vorstellen kann, denn im Musikgeschäft geht es immer ans Limit, was Soll und Haben betrifft. Von den Künstlern bekam übrigens niemand Geld für Live Aid, auch niemand vom Band Aid Trust. Und wir hatten große Büros in den USA und England sowie in weiteren sieben Ländern. Niemand bekam Geld für seine Arbeit, kein Geld für Mitarbeiter, Telefon oder Computer, denn hundert Prozent des eingespielten Geldes sollte den Bedürftigen zugutekommen. Und so geschah es. Das Geld ging auf extra eingerichtete Konten und stand ausschließlich Projekten in Afrika zur Verfügung, die zuvor von Experten geprüft wurden. Das war das genaue Gegenteil von dem, was George Harrison erlebt hatte. Das Geld ging an die afrikanische Bevölkerung und nicht an die Regierungen.«
Durch Live Aid waren insgesamt etwa 100 Millionen Euro an Spendengeldern geflossen, auch durch den Verkauf eines DVD-Paketes, das erst im Jahre 2004 zustandekam. Im Juli 2005, also fast genau 20 Jahre später, veranstaltete Bob Geldof anlässlich des G8-Gipfels in Edinburgh eine Fortsetzung der Live Aid-Konzerte unter dem Namen Live 8. Statt Spenden wurden diesmal Unterschriften gesammelt, die Druck auf die Regierungen der wichtigsten Industriestaaten ausüben sollten, die Entwicklungshilfe für die afrikanischen Länder zu erhöhen und einen Schuldenerlass zu realisieren.
Zurück zum Musiker Bob Geldof, dessen Songs immer etwas mehr Tiefgang haben, als man angesichts ihres scheinbar harmlosen Titels (»I Don’t Like Mondays«) oder ihres leichten poppigen Arrangements (»Room 19«) vermuten würde. »Room 19« von seinem 1992er-Album »Happy Club« könnte auch ein Schlager von Tony Christie sein. Das habe ich ihm auch so gesagt, worüber Bob laut lachen musste. Dennoch erklärte er mir geduldig, was für eine Geschichte er hier in einem lockeren Popsong abgebildet hatte.
»Na ja, der Song ist okay, aber nichts Besonderes. Der Text ist ganz lustig«, begann Bob zu erzählen. »Nachdem die Sowjetunion untergegangen war, fand man in einem Wissenschaftsministerium einen seltsamen Raum mit der Nummer 19. In diesem Raum befanden sich die konservierten Gehirne großer Männer der russischen Geschichte wie Tschaikowski, Pasternak, Stalin oder Lenin. Wissenschaftler hatten Proben dieser Hirne entnommen, um herauszufinden, warum beispielsweise Stalin so ein Genie war. Eigentlich hätten sie dabei entdecken müssen, warum er ein solcher Verbrecher (Geldof original: ›Fucking idiot‹) war. Natürlich hatten sie nichts gefunden. Eine typische Idee der Sowjets. Ich hatte mir nun gedacht, wie es sein würde, wenn mein Gehirn in diesem Raum aufbewahrt würde und zum Leben erwachte, neben sich die Hirne von Stalin, Lenin und Sacharow. Und sie diskutieren mit mir bis in alle Ewigkeit.«
Room 19
When I woke up I was freezing
Shaking like a leaf
I was stuck up on a shelf
With the other guys in Room 19
Then the brain here right beside me
Speaking telepathically
Said »Hi, my name is Stalin
Glad to see you here in Room 19«
Yeah Tchaikovsky played the music
While Pasternak wrote poetry
As they sliced our brains to study
Why we ended up in Room 19
Well ’ol Sakharov was outraged
And said »Exactly what you mean?«
And Lenin said »There is no Heaven
So I can’t believe in Room 19«
Set me free, free, free, etc.
(Room 19 von Bob Geldof, Album »Happy Club«, 1992, Label Vertigo, Vertrieb Phonogram)
Als ich erwachte war mir kalt,
und ich zitterte wie Espenlaub.
Ich war in ein Regal gestellt
mit anderen Typen in Zimmer 19.
Das Hirn gleich rechts von mir
sprach mich telepathisch an:
»Hi, mein Name ist Stalin,
schön dich hier zu sehn in Zimmer 19.«
Ja, und Tschaikowski machte die Musik dazu
und Pasternak die Poesie,
als sie unsere Hirne zwecks Studium in Scheiben schnitten.
Warum nur landeten wir in Zimmer 19?
Der alte Sacharow rief wütend:
»Es ist genau das, was du denkst.«
Und Lenin sprach: »Es gibt keinen Himmel,
also kann ich auch nicht an Zimmer 19 glauben.«
Lasst mich raus, lasst mich raus …
freie deutsche Übersetzung, G. Schneidewind
Einen Abend später lernte ich Bob Geldof persönlich kennen, bei seinem SWR 1-Konzert in der Stuttgarter Villa Berg, die damals noch dem SWR gehörte. Die Band und einige Roadies waren noch mit dem Aufbau und dem Soundcheck beschäftigt. Bob saß in einem der Hinterzimmer, das als Garderobe für alle Musiker diente, gemütlich in einem Sessel. Als ich auf ihn zuging, streckte er seine Hand aus und sagte: »Du musst der sein, mit dem ich gestern das Interview gemacht habe.« Ich tat verwundert, woher er das wissen wollte. Aber er verriet nicht, wie er zu dieser erstaunlichen Annahme kam. Zwar hatte nicht jeder Zugang zur Band und Bob Geldof, aber ich war bei weitem nicht der einzige Fremde, der hier ein- und ausging. Bob war neugierig und ließ sich von mir einiges über den schönen Spielort, die Villa Berg, erzählen. So etwas sah auch er nicht alle Tage. Ein holzgetäfelter Konzertsaal mit toller Akustik und angeschlossenem Aufnahmestudio. Ich erzählte ihm von unseren Konzerten hier mit Andreas Vollenweider oder Bruce Hornsby.
Nach dem Architekten gefragt, konnte ich ihm sagen, dass die Villa Berg in den Jahren 1845 bis 1853 für den württembergischen Kronprinzen Karl und seine Gattin Olga nach Plänen von Christian Friedrich Leins gebaut wurde. Im Krieg brannte die Villa fast vollständig aus. 1951 ging sie von der Stadt Stuttgart an den damaligen Süddeutschen Rundfunk. Der richtete den von Bob Geldof bewunderten Sendesaal ein.
Die schönsten SWR 1-Konzerte, an die ich mich erinnere, waren neben Bob Geldofs Auftritt die von BAP, Steve Hackett (früher Genesis), Dave Davies (früher Kinks), Mother’s Finest, die schon genannten von Bruce Hornsby und Andreas Vollenweider und ganz besonders Procol Harum. Das war im Sommer 2003. Leider nur kurzzeitig war der Original-Keyboarder und Gegenspieler von Bandchef Gary Brooker wieder mit dabei: Matthew Fisher. Er spielt das einer Bachkantate nachempfundene Thema bei »A Whiter Shade Of Pale« auf seiner Hammond-Orgel. Mir wurde einmal mehr die Ehre zuteil, diese tolle Band, die nicht nur meine Jugendjahre mit ihren Hits und Alben begleitet hatte, auf der Bühne der Villa Berg anzusagen. Diesem 20. Juli 2003 war eine rauschende Partynacht in und um die Villa vorausgegangen. Elf Damen und Herren unseres SWR 1-Teams, mich mit eingeschlossen, sind vom Jahrgang 1953. In der Mitte des Jahres 2003 begingen wir gemeinsam unser halbes Jahrhundert bis in die frühen Morgenstunden des 20. Juli. Es folgten die Aufräumarbeiten und zugleich die Vorbereitungen des abendlichen Konzerts. Wir alle waren voller Vorfreude auf diese Band, die ihre große Zeit hatte, als wir im Teenageralter waren. Es war ein Gefühl wie vor einem Kindergeburtstag. Wir waren zwar 50 geworden, begegneten aber nun mit Procol Harum unserer Jugendzeit. Waren wir doch alle im Jahre von »A Whiter Shade Of Pale« (1967) etwa 14 Jahre alt gewesen. Ein würdiger Abschluss dieses Wochenendes für uns, ein großartiges Konzert für alle Gäste. Von der Senderegie aus, die rechts über der Bühne untergebracht war, konnte ich durch das große Fenster Matthew Fisher über die Schulter und direkt auf die Finger sehen, als er die Akkorde zu »A Whiter Shade Of Pale« anschlug. In seiner unglaublich minimalistischen Spielweise zauberte er den Teppich für diesen Jahrhunderthit. Mir und dem Techniker Wolle, gleichfalls ein glühender Procol Harum-Fan, lief ein Schauer über den Rücken. Das Wunderbare für uns: es war unsere Arbeit, die wir hier machten. Was für ein schöner Job das doch zuweilen ist …