Nur vier Wochen nach meinen Zusammentreffen mit David Bowie (s.S. 70ff ) begegnete ich unter ähnlichen Bedingungen Ian Gillan. Der englische Rocksänger war vor allem als Frontmann der Hardrock-Band Deep Purple international bekannt geworden. Seine kraftvolle Stimme machte Rocksongs wie »Child In Time«, »Smoke On the Water«, »Black Night« oder »Strange Kind Of Woman« zu bleibenden Monumenten ihres Genres. Gillan vermochte das, was seine Gesangsleistung im Studio für die Platte versprach, auch auf der Konzertbühne zu halten bzw. noch zu übertreffen. Er hatte schon vor Deep Purple als Sänger in der Titelrolle von Andrew Lloyd Webbers »Jesus Christ Superstar« überzeugt.
Als sich Ian Gillan für unsere Nachmittagssendung »Treff« ankündigte, geschah das im Zuge der Bewerbung seines aktuellen Soloalbums »Toolbox«. Die Rolle des Sängers bei Deep Purple versuchte zu dieser Zeit gerade ein gewisser Joe Lynn Turner auszufüllen.
Allgemein gilt die Regel, dass der charismatische Frontmann einer Band von Weltruhm als Solist leichter zum Interview zu bekommen ist, als wenn er mit seiner angestammten Band tourt. Diese Erfahrung hatte ich schon mit Robert Plant von Led Zeppelin oder Brian May von Queen gemacht. Ian Gillan sollte ich jedoch später noch öfter in seiner Eigenschaft als Deep Purple-Sänger treffen, wie überhaupt die ganze Sippe von Deep Purple immer einen guten Eindruck hinterließ, ganz besonders der Gentleman an der Orgel, Jon Lord.
Ist also ein Künstler mit seinem neuesten Produkt, wie die Branche sagt, unterwegs, bietet seine Agentur oder seine Plattenfirma Interviewtermine an. Die Künstler reisen dann mit mehr oder weniger großem Tross von einer Rundfunk- oder Fernsehstation zur nächsten und beantworten geduldig die immer gleichen Fragen. Heute werden solche Gespräche allgemein vorher aufgezeichnet, um ungewünschte Längen in Live-Sendungen zu vermeiden oder ›Leerläufe‹ herausschneiden zu können. Zuweilen empfangen die Künstler auch mehrere Reporter nacheinander in Konferenzräumen ihrer Hotels zu Einzel- oder Gruppengesprächen. Es war damals bei SDR 3 üblich, dass im »Treff« zwischen 14 und 16 Uhr die Stars live auftraten, gerne auch mit Gitarre oder Keyboard. Das hatte den Nachteil, dass der Moderator ohne ein Vorgespräch einen kalten Start mit seinem Gesprächspartner hinlegen musste. Da waren die ersten Momente ganz wichtig für den weiteren Verlauf des Interviews. Trat man seinem Gast gleich zu Beginn verbal auf die Füße, war das nur schwer wieder auszubügeln. Eine gute Vorbereitung auf den Gesprächspartner sollte selbstverständlich sein. Man kennt die neue Platte sowie die nächsten Konzertdaten und weiß auch allgemein, wen man vor sich hat und in welcher Situation der Gast zurzeit steckt, privat wie geschäftlich. Über altgediente Kollegen hört man dann schon mal, ob er oder sie schwierig oder zugänglich, launisch, wortkarg oder mitteilsam ist. Welche ›Don’ts‹ es gibt, und womit man den Interviewpartner bei Laune halten kann.
Von Ian Gillan waren mir keine ›Macken‹ bekannt: Ein Profi, auf den Verlass ist und der dem Interviewer nicht wissentlich Probleme bereitet. Berüchtigt aber war er für seinen englischen Humor.
Kurz vor der Sendung ging ich noch einmal zur Toilette, um für die nächsten zwei Stunden keine Pause machen zu müssen. Während ich also in der Toilette bin, höre ich, wie sich die äußere Tür öffnet. Am Schatten, der in den Vorraum fällt, erkenne ich eine recht große Person. Leder raschelt, und schon steht der Mann mit Hut und braunem Ledermantel am Becken neben mir. Ohne Zweifel, es ist der Deep Purple-Shouter persönlich. Ian Gillan muss einfach vor dem Interview noch mal pinkeln, genau wie ich. Als ich gehe, nicke ich ihm kurz zu und verschwinde mit einem kurzen »See you later«.
Nach den Schlagzeilen um 14.30 Uhr schließe ich das Mikrofon und hinter mir öffnet sich die Studiotür. Ian Gillan betritt in Begleitung des Plattenpromoters das Studio, lässt sich auf dem Stuhl auf der anderen Seite des kleinen Moderationstisches nieder und grinst. Meinen Hörern kündige ich ihn als Überraschungsgast an. »Jeder kennt die phantastische Stimme von Deep Purple, die solche Monsterhits wie ›Child In Time‹ oder ›Smoke On The Water‹ erst möglich gemacht hat. Jetzt ist er hier, welcome and hello, Ian Gillan!«
»Why surprise guest, we’ve just met on the toilet, haven’t we?«, waren die ersten Worte des Rockstars. Und dabei hat er ein Grinsen aufgesetzt, dass man ihm für diesen kleinen Streich einfach nicht böse sein konnte. Das Eis war gebrochen, wenngleich ich ein oder zwei Sekunden brauchte, um meine Lockerheit zurückzugewinnen. Klar ging der Punkt an ihn. Aber den Hörern wird diese Art von Humor gefallen haben. Und wer kann schon von sich behaupten, mit Ian Gillan pinkeln gewesen zu sein?
Natürlich haben wir dann noch über sein Album »Toolbox« gesprochen, das von Kritikern und Fans sehr unterschiedlich aufgenommen wurde. »Ohne Deep Purple ist er nur die Hälfte wert«, motzten die einen, »ein kompromissloses Rockalbum, befreit vom Schwulst der achtziger Jahre«, frohlockten die anderen. Es war für Gillan eine Zwischenstation. Er war mal wieder im Streit bei Deep Purple ausgestiegen (1990) und sollte nur kurze Zeit später zurück an Bord sein (1992), wo er heute (2011) noch ist. Ian Gillan war schon mehrfach von Deep Purple weggegangen und das immer aus demselben Grund, wegen Ritchie Blackmore. Mit dem Gitarristen geriet er über die stilistische Ausrichtung der Band regelmäßig in Streit. Im Gespräch mit mir (und ganz gewiss auch mit anderen) hat er am 22. November 1991 im SDR 3-»Treff« gesagt:»Ich kann an Deep Purple nur noch wie an eine Verflossene denken. Wir heirateten 69 und wurden 73 geschieden. 84 heirateten wir noch mal und ließen uns 89 wieder scheiden. Das mach ich nicht noch mal.«
Man soll eben nie ›nie‹ sagen.
Ich traf Ian Gillan 2003 in Köln wieder, um mit ihm über das damals aktuelle Deep Purple-Album »Bananas« zu sprechen. Schlagzeuger Ian Paice, das beständigste Purple-Mitglied, setzte sich später zu uns, sagte zwar kein Wort, aber lächelte gelegentlich, vor allem, als ich Ian zum Schluss des Gesprächs bat, doch mal eine kleine persönliche Einschätzung des neuen Keyboarders Don Airey zu geben, der für Jon Lord zu Deep Purple gekommen war. Der Rockfan kennt ihn von Rainbow, Whitesnake (beides Deep Purple-Ableger), Black Sabbath oder Colosseum.
»Er ist einer der meist unterschätzten Musiker in England«, sagte Ian Gillan. »Ein großartiger Musiker, der einfach alles spielen kann. Er war immer ein Reisender, nie sehr lange bei einer Band. Deshalb konnte er seinen persönlichen Stil nie ausspielen. Ich glaube, dass er ähnlich wie die Nachfolger von Ritchie Blackmore, Steve Morse und Joe Satriani, seinen eigenen Stil immer mehr bei Deep Purple einbringen wird. Als wir ihn an Bord holten, haben wir mehr nach einer Hammond-Orgel als nach einem Keyboarder gesucht, und Dons Instrument ist die Hammond.«