Der Nimbus dieser Band ist unerreicht. Weltweit geht ihr der Ruf voraus, eine der dienstältesten Rockbands von internationalem Format zu sein. Kaum ein Begriff vereint Sex, Drugs und Rock’n’Roll so zu einem Synonym wie die Rolling Stones und ihre Biografie. Jeder, der die sechziger Jahre bewusst miterlebt hat, wurde von ihrer Musik und ihrem Habitus unweigerlich in den Bann gezogen oder war ebenso heftig schockiert bis angewidert. Ganz anders als die Beatles, die schon bald als Schwiegermutter-Typen durchgingen, waren Mick Jagger, Keith Richards, Brian Jones, Bill Wyman und Charlie Watts als Band(e) in ihren wildesten Jahren das Ziel der Attacken von Eltern, Lehrern und bürgerlicher Presse. Drogen- und Sexskandale im Umfeld der Band vor allem während der sechziger und siebziger Jahre beherrschten die Schlagzeilen des Boulevard. Wegen ihrer Drogeneskapaden waren sie in ihrem Heimatland England angeklagt, verurteilt und sogar ins Gefängnis gesperrt worden. Bei Konzerten der Rolling Stones wurden nicht selten die Einrichtungen und das Mobiliar von Hallen und Stadien demoliert. Berühmtes Beispiel von 1965 ist die Berliner Waldbühne, die von den Fans komplett zertrümmert wurde. Das diente der Propagandapresse in der DDR als willkommener Anlass, die Stones und ihre Musik als dekadenten Auswuchs der kapitalistisch geprägten Unterhaltungsindustrie zu verdammen. Bis in die achtziger Jahre hinein wurden im Rundfunk der DDR keine Stones-Platten gespielt oder gar als sogenannte Lizenz-Schallplatte in den Handel gebracht. Das passierte erst 1982. Die Zusammenstellung ihrer größten Hits aus den sechziger Jahren wurde begleitet von einem Cover-Text, der es nicht versäumte, belegt durch Notenbeispiele, dieser Musik eine gewisse Primitivität nachzuweisen. Der Fan war dankbar und nahm die Platte mit, wenn er eines der 10 000 Exemplare erwischte, die für ein Land mit 17 Millionen Einwohnern ausreichen mussten.
Die Krawalle um das Konzert in der Berliner Waldbühne mögen auch mit dazu geführt haben, dass Walter Ulbricht auf dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965 die berühmten Worte sprach: »Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.« Und es wurde Schluss gemacht, auch mit vielen Bands im eigenen Land.
Indessen sorgten die Rolling Stones für weitere Schlagzeilen, die ihren Ruf als wilde Rockband festigten. Brian Jones wurde eines der ersten Opfer des Rockerlebens und starb mit nicht einmal 30 Jahren unter nie ganz geklärten Umständen nach einer Party in seinem Swimmingpool. Ronnie Wood brannte in den Siebzigern während einer Kanada-Tournee mit der Gattin des Premierministers Trudeau durch, und Bill Wyman ging in den Achtzigern mit seiner gerade mal 14-jährigen Geliebten Mandy Smith ganz offiziell aus.
Im neuen Jahrtausend, fast 50 Jahre nach ihrer Gründung im Swinging London, empfangen die rüstigen Altrocker vor einem Konzert in den USA schon mal die komplette Familie des Ex-Präsidenten Bill Clinton in ihrer VIP-Lounge und lassen diesen Moment vom Meisterfilmer Martin Scorsese im Konzertfilm »Shine A Light« verewigen.
Es ist nur allzu verständlich, dass ein persönliches Treffen auf Augenhöhe mit diesen Rockheroen der Traum eines jeden Interviewers, Reporters oder Journalisten ist.
Manchen Stone erwischt man einzeln leichter, wenn er Promotion-Arbeit für sein Solo- oder Nebenprojekt macht. Da ist der Ansturm nicht so gewaltig wie bei der Band The Rolling Stones. Denn fast alle derzeitigen wie ehemaligen Bandmitglieder unterhalten ihre eigenen Kapellen oder gar Orchester wie Charlie Watts und genießen Auftritte in Clubs ohne die bei Stones-Konzerten übliche Gigantomanie.
Bahnt sich aber so ein Treffen mit den ganz großen Stars der Szene an, gibt es dafür immer Vorzeichen, wenn auch ungewisse, trügerische, aber doch solche, die Hoffnung machen, dass da etwas Größeres passieren könnte.
Es war das Jahr 1999, und die Rolling Stones setzten ihre »Bridges To Babylon«-Tour in Europa fort, die wegen unklarer Gesetzeslage, was die Steuern betraf, unterbrochen worden war. Die Band kam von einer Hallen-Tour aus den USA und traf erst in Antwerpen und dann in Stuttgart Vorbereitungen, die große Open-Air-Tour zu reaktivieren. Die sollte Ende Mai 1999 in Stuttgart begonnen werden.
Aus der Summe dieser Umstände ergaben sich von Anfang an gewisse Chancen, die Band zu treffen. Eine erste Anfrage von SWR 1 und des SWR-Fernsehens als Präsentatoren des Stuttgarter Konzerts bekam eine vielversprechende Antwort. Wir könnten mit unserem Team nach Antwerpen kommen und dort unsere Interviews machen. Wenige Tage später ließ uns das Management wissen, die Stones kämen ja demnächst für ein paar Tage nach Stuttgart und man könne sich dann dort treffen. Ich muss sagen, dass ich diese vage Andeutung schon als Absage wertete, denn ein konkreter Termin oder ein Ort, wo das Interview zu führen sei, wurden nicht mehr genannt. Meist ein schlechtes Zeichen.
Für SWR 1 war die Präsentation der Rolling Stones zu diesem Zeitpunkt sehr wichtig. Die Senderfusion in Baden-Württemberg war gerade erst vonstattengegangen. Der Südwestfunk (SWF) in Baden-Baden und der Süddeutsche Rundfunk (SDR) in Stuttgart waren in einer neuen Zweiländeranstalt, dem Südwestrundfunk, aufgegangen. Dem Hörer über Jahrzehnte vertraute und überaus populäre Programme wie SDR 3 oder SWF 3 waren nicht mehr da, hatten neue Namen, Inhalte und Frequenzen bekommen. Eine Neuorientierung aller Hörergruppen im Lande fand gerade statt, und da galt es, Flagge zu zeigen. Welches Programm steht für was, wen und welches Lebensgefühl, neudeutsch ›Lifestyle‹ genannt.
SWR 1 wollte mit Musik und Informationen die reiferen Erwachsenen ansprechen, die mit der Musik der Beatles, Genesis’, Elton Johns, Rod Stewarts und natürlich der Rolling Stones’ groß geworden waren. Deshalb war die Konzertpräsentation eine willkommene Gelegenheit, zusammen mit den Hörern ein Gemeinschaftserlebnis zu gestalten, das eine gewisse bleibende Symbolkraft besaß. Die Krönung wäre natürlich ein Treffen mit den Protagonisten selbst, den Rolling Stones. Das Konzert sollte auf dem Cannstatter Wasen am Samstag, den 29. Mai 2009, stattfinden.
Im Vorfeld dieses Ereignisses fuhren wir mit dem für solche Zwecke konstruierten SWR-Truck durchs Land und zelebrierten die »Rolling Stones Road Show«. Gemeinsam mit einem Moderator des SWR-Fernsehens präsentierte ich eine Art Talkshow mit Stones-Experten, Plattensammlern, der Masseurin Dot Stein, die schon alle Stones unter ihren Fingern hatte, der Rock’n’Roll-Laundry, einer mobilen Wäscherei, die den Rockstars auf der Tour die Wäsche wusch, und viel Musik mit Spielen und Kartenverlosung. Das Ganze fand in kleinen bis mittelgroßen Clubs statt und sollte eine Brücke schlagen zu unseren derzeitigen und künftigen Hörern, denen wir uns so ins Bewusstsein brachten. Auch sorgten wir dafür, dass das Management der Rolling Stones von unseren Aktivitäten erfuhr, um so den Weg zu einem Interview mit der Band zu ebnen.
Tatsächlich wurde dann Anfang Mai ein Termin genannt: Donnerstag, 27. Mai, Voodoo-Lounge in den Katakomben der Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle. Vom Stones-Management wurden gleich zwei Kamerateams bestellt, wobei das eine die Interviews mit Keith Richards und Ronnie Wood machen sollte und das andere eigens für die Rolling Stones zur Verfügung stand.
»Zwei Stones sind besser als gar keiner, und Keith Richards als Schreiber fast aller Stones-Hits inklusive ›Satisfaction‹ ist beinahe erste Wahl«, versuchte ich mich und die anderen vom SWR-Team zu trösten, die sich schon alle auf eine Begegnung mit Sänger Mick Jagger gefreut hatten.
Auf dem Cannstatter Wasen, wo auch alljährlich das zweitgrößte Volksfest Deutschlands stattfindet, wurde inzwischen die monströse Bühne der Rolling Stones aufgebaut. Tagelang wurde gehämmert, geschraubt und endlich auch geprobt. Klar, dass unser Team mit Mikros und Kameras vor Ort war. Wir standen direkt am Zaun, der das Gelände abriegelte, den Neckar im Rücken. Da erschienen finster blickende Roadies (Helfer beim Bühnenaufbau), die uns unmissverständlich bedeuteten, dass wir hier nicht erwünscht wären. Auf diese Diskussion ließen wir uns gar nicht ein. »Dann holen wir die Polizei«, drohten die Roadies. »Das mache ich schon«, sagte der Kollege von der Bildzeitung und zückte sein Handy. »Hey, what are you doing?«, keiften die Roadies. »Calling the police. That’s what you wanted«, war die Antwort.
Die Polizei war bald zur Stelle, ließ sich von uns die Dienstausweise zeigen, erkannte jedoch keine Übertretung des Gesetzes. Nachdem die Beamten verschwunden waren, begannen die Roadies, den Zaun mit Papierfahnen undurchsichtig zu machen. Wir verlagerten unseren Beobachtungsposten auf den Damm des Neckars und hatten wieder gute Sicht.
Inzwischen waren Schlagzeuger Charlie Watts und Mick Jagger auf dem Plan erschienen und verfolgten aufmerksam den Aufbau der Bühne. Charlie gilt mit seinem Architekturstudium als der Konstrukteur der Bühnen für die Rolling Stones-Shows. Auch das Konzept der »Bridges To Babylon« stammt von ihm. Mit Mick, dem Mastermind und Manager der Band, spricht er die Einzelheiten ab. Beide waren denn auch sofort, begleitet von lebhafter Gestik, ins Fachsimpeln geraten. Nach und nach traf die gesamte Band ein. Daryl Jones, der Bassist, der seit dem Ausscheiden von Bill Wyman immer mit den Stones unterwegs ist. Ronnie Wood, der spirrelige Kobold mit den nervösen ruckartigen Bewegungen seiner dürren Arme und Beine und der Ananasfrisur. Schließlich Keith Richards, das Gegenteil von Ronnie, was den Bewegungsdrang betrifft. Schleichenden Schrittes kam er daher, die unvermeidliche Zigarette im Mundwinkel, machte er es sich am Bühnenrand bequem und verfolgte betont gleichgültig das Gespräch von Charlie und Mick.
Endlich wurde die gewaltige PA (Bühnenbeschallung) unter Strom gesetzt. Die Musiker griffen zu ihren Instrumenten, Mick Jagger, in abgewetzten Blue Jeans und einer ebenso strapaziert aussehenden braunen Lederjacke, trat ans Mikrofon. Die ersten Gitarrenriffs schmetterten aus den turmhohen Boxen. »Was für ein Lied wird denn das?«, fragte der Kollege von der Bildzeitung. »›Tumbling Dice‹ vom 72er-Album ›Exile On Mainstreet‹«, antwortete ich ihm.
Die anderen Kollegen von der schreibenden Zunft rückten näher und notierten.
»Und das?«, fragte der Bildzeitung-Mann beim nächsten Song.
»›Miss You‹ vom Album ›Some Girls 1978‹«, diktierte ich ihm und den anderen.
Es folgten noch Songs vom neuen Album »Bridges To Babylon« wie »Saint Of Me« und der Klassiker »Gimme Shelter«. Immer mehr Leute fanden sich ein, und es wurde langsam dunkel. Für ein Spektakel dieser Art war die öffentliche Anteilnahme bemerkenswert gering.
Das große Ereignis des Abends fand indessen im Fernsehen statt und sollte auch noch beim Interview am nächsten Tag eine Rolle spielen: Das Champions League-Finale zwischen Manchester United und Bayern München, das die Bayern schon sicher gewonnen glaubten. Beim Stand von 1:0 für die Bayern ging es in die Nachspielzeit, in der Manchester noch zwei Tore schoss. Da war die Probe der Rolling Stones auf dem Cannstatter Wasen aber gerade zu Ende gegangen.
Donnerstag, den 27. Mai 1999, bekamen wir das Okay vom Management der Rolling Stones für ein Interview in den Katakomben der Hanns-Martin-Schleyer-Halle. Dort, wo sich sonst Sportler oder Künstler auf Wettkämpfe und Auftritte vorbereiteten, waren aus Garderoben zwei Studios für Fernsehaufnahmen hergerichtet worden. Es erging die Anweisung, mit zwei Kamerateams anzutreten. Wie ich sehr bald erfuhr, brauchten die Stones ein zweites Team, um mit unseren Leuten und unserem Material einen eigenen Werbefilm zu drehen, der den etwas schleppenden Verkauf der exorbitant teuren Tickets für die noch anstehenden Stones-Konzerte in Europa befördern sollte. Dieser Umstand hatte offensichtlich entscheidend dazu beigetragen, uns die gewünschten Interviews zu gewähren.
Um 17 Uhr begannen wir mit dem Aufbau der Technik. Für 18 Uhr war der erste der Stones-Musiker angekündigt. »Es ist Charlie Watts«, sagte die Road-Managerin.
»Was denn, Charlie kommt auch?«, fragte ich erstaunt, denn bisher war nur von Keith Richards und Ronnie Wood, den beiden Gitarristen der Band, die Rede gewesen.
»Es kommt die ganze Band«, war die bestimmte Antwort der Dame. »Mick Jagger auch?«, wollte ich mich vergewissern. »Aber ja doch, aber alle einzeln mit kleinen Pausen dazwischen.«
Kurzes Telefonat mit der Heimatbasis im Funkhaus: Sensationell, alle Rolling Stones kommen zum Interview, exklusiv für SWR 1 und das SWR-Fernsehen.
Vom Tour-Management der Stones erging die Anweisung, dass keiner von unserem Team mehr die Schleyer-Halle verlässt, bis das letzte Gespräch aufgezeichnet wäre. Dem zweiten Team im Nachbarstudio kann ich noch schnell sagen, dass sie unbedingt eine Audiokassette für mich mitlaufen lassen sollen. Ich musste wissen, was da geschah. Denn inzwischen war eine kräftig gebaute Frau aufgetaucht, die sich mit den Worten vorstellte: »Hello, I’m Shirley, they call me the American dragoon. I’m going to do the video clips with the Stones.« Der amerikanische Dragoner sah diese Vorstellung lediglich als Formsache an, die keinen Widerspruch duldete. Wie ich später mitbekam, ging sie mit den Rolling Stones genauso kompromisslos zur Sache, als Coach und Motivator für dienstfreudig in die Kamera geschleuderte Sätze wie: »Hello, I’m Charlie Watts of the Rolling Stones and I’m looking forward to meeting you on our concert in Groningen.«
Kurz vor dem ersten Interview trafen ununterbrochen Anfragen von anderen Sendern bei uns ein, für sie doch ein paar Extras zu machen. Eine Schweizer Radiostation wollte noch schnell ein Telefoninterview mit mir, in dem ich einfach nur die Umgebung, also das Studio mit den bereitgestellten Erfrischungen, beschreiben sollte und wie mir vor meinem ersten Zusammentreffen mit der größten Rockband der Welt denn so zumute war. Drei Fragen würde mir der Moderator gleich stellen, sagte der Anrufer und nannte noch einmal die Fragen im Wortlaut. Ob ich alles verstanden hätte, wollte der Mann wissen. »Ja, was soll denn daran so schwierig sein?« Weil ich gleich in Schweizerdeutsch angesprochen würde. Diese Hürde nahmen wir auch noch, und dann hieß es genau um 18 Uhr, der Wagen von Charlie Watts sei vorgefahren.
Charlie Watts, der Schlagzeuger und Architekt
Wenige Minuten später stand Charlie Watts im Raum, kleiner als ich ihn mir vorgestellt hatte, hager, weißhaarig, im teuren dreiteiligen grauen Anzug und musterte aufmerksam die Umgebung. Er nahm vor der Fernsehkamera und den Scheinwerfern auf einem Sofa Platz und erwartete geduldig die erste Frage.
Es blieb mir nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, dass ich einer Legende gegenübersaß.
Seit meiner Kindheit hörte ich die Musik der Rolling Stones, war aufgewachsen mit »Satisfaction«, »Paint It Black«, »Jumpin’ Jack Flash« oder »Brown Sugar«. All diesen Welthits hatte dieser Mann den Rhythmus gegeben, war bei den Aufnahmen im Studio dabei und hatte sie bei ungezählten, teils skandalträchtigen Konzerten live gespielt. Alt war er geworden, er sprach mit brüchiger Stimme und verlangte erst mal ein Glas Wasser. Wie es ihm gehe, wollte ich von ihm wissen. Er hasse Interviews wie diese, antwortete er mit entwaffnender Ehrlichkeit. Warum er das dann überhaupt mache, wagte ich zu kontern. »Weil Mick es von mir verlangt hat«, sagte er mit Trotz in der Stimme.
Ich erinnerte ihn daran, dass Charlie Watts im Persönlichkeitsbild, das die Presse von ihm abgibt, stets als der Gentleman in der Band gelte. Das wehrte er mit einer Handbewegung und einem »Äh!« ab.Wir kamen auf den Spielort Stuttgart zu sprechen, der ersten Station der Europa-Tour. Ja, er wisse, dass hier Autos gebaut werden, sagte Charlie.
»Porsche und Mercedes. Ich besitze von jedem zwei. Nicht schlecht für jemanden, der gar keinen Führerschein hat, nicht wahr?« Dabei lachte er schelmisch. Mir schien, das Eis war gebrochen. Er würde sich das Mercedes-Museum ansehen, sagte er, aber auch die Picasso-Ausstellung in der Staatsgalerie. Jetzt taute die Atmosphäre merklich auf. Er stutzte, als er hörte, dass das Konzert am Samstag auf dem Cannstatter Wasen stattfinden würde. »Ich dachte, wir würden in Eurem schönen Fußballstadion spielen und nicht auf irgendeinem Parkplatz?«
»Hat man dir denn nicht gesagt …«, wagte ich einzuwerfen.
»Mir sagt doch keiner was!«, schnarrte Charlie und setzte wieder eine trotzige Miene auf. Die erhellte sich, als der Kaffee gereicht wurde. Schwarz und ohne Zucker. »Ich hätte dich für einen Teetrinker gehalten.« »Nein, ich nehme immer Kaffee. Mick ist bei uns der Teetrinker.«
»Und wie steht es mit der deutschen Küche. Kannst du der was abgewinnen?«
»Knödel sind wohl was typisch Deutsches. Ich bin, was das Essen angeht, eigentlich Italiener. Aber über das Essen auf Tour solltest du besser mit Mick reden, der weiß immer, wo es was Gutes gibt.«
Die Stones waren schon seit Montag in Stuttgart. Am Mittwoch war die Probe, am Samstag würde das Konzert sein. Offenbar war diese Probe für die Band sehr wichtig, wollte ich von Charlie wissen. »Das liegt vor allem daran, weil wir jetzt fortsetzen, was wir vor zwei Jahren begonnen haben. Dazwischen war noch die US-Tour in den Hallen. Deshalb kommt der Erprobung der Open-Air-Bühne eine besondere Bedeutung zu. Für mich allerdings weniger. Ich bin der Schlagzeuger, mein Arbeitsplatz ist relativ übersichtlich. Für mich sind so gesehen alle Bühnen gleich. Aber Keith, Ronny und Mick, die müssen richtig arbeiten und viel auf der Bühne unterwegs sein. Da ist so eine Probe wie gestern ein wichtiger Teil der Vorbereitung.«
Ich gewann den Eindruck, Charlie fand so langsam Gefallen an unserem Gespräch.
Nein, Routine sei das auch nach 35 Jahren mit den Stones nicht, auch wenn viele der Songs schon seit Jahrzehnten im Programm sind. Auch unterscheide sich jeder Abend von dem davor. Vielleicht weil manchmal mehr Mädchen da seien oder er, Charlie, einfach besser gespielt habe. Aber das sei alles auch subjektiv. Bei Open-Air-Konzerten, wie sie jetzt wieder anstünden, reiche mitunter eine Windböe von der falschen Seite und der ganze Sound sei dahin.
Anläßlich des 25-jährigen Bühnenjubiläums der Stones 1989 war Charlie gefragt worden, wie es denn wäre, so lange mit derselben Band herumzuhängen.
»Na ja, es waren fünf Jahre Tour und 20 Jahre Herumhängen«, antwortete Charlie damals. Auch zum Zeitpunkt des Interviews im Mai 1999 hatte er keine schlüssige Erklärung für den dauerhaften Erfolg und die Popularität der Rolling Stones in aller Welt.
»Wir haben einfach Glück, dass die Leute uns noch immer mögen, dass sie offenbar Freude empfinden, Keith bei der Arbeit zuzusehen oder Mick, wenn er mit dem Hintern wackelt. Dann gibt es ein paar Besonderheiten, was die Beliebtheit von Songs angeht. Frankreich mag ›Angie‹, was in London kaum eine Rolle spielt. Entsprechend werden die Song-Listen angepasst.«
Und dann waren die zugesicherten 10 Minuten Gespräch auch schon vorbei. Charlie erhob sich, schrieb noch ein paar Autogramme und war auch schon verschwunden. Dafür, dass er der schweigende Stone ist, konnten wir mit der Ausbeute zufrieden sein. Bemerkenswert, wie oft er sich bei seinen Antworten auf Mick Jagger bezogen hatte, mit dem ihn offenbar mehr verband als nur die Mitgliedschaft in dieser Band.
Immerhin war es vor Jahren passiert, dass Jagger mitten in der Nacht in schon alkoholisiertem Zustand in einem Hotel noch eine Probe angesetzt hatte. Charlie war schon schlafen gegangen und fühlte sich unsanft geweckt. »Ich brauche jetzt meinen verdammten Schlagzeuger«, hatte Jagger ins Telefon geraunzt.
Charlie hatte sich in aller Ruhe in seinen Anzug geworfen, erschien in der Lobby und streckte Mick mit einem Kinnhaken nieder. »Ich bin nicht dein Schlagzeuger, du bist allenfalls mein verdammter Sänger«, hatte er dem auf dem Boden liegenden Mick Jagger zugerufen und war wieder schlafen gegangen. »It’s only Rock’n’Roll« … Die Dauerfreundschaft der beiden Männer blieb von diesem Vorfall unberührt.
Ronnie Wood, der Leadgitarrist
In den Katakomben der Schleyer-Halle war mehr als eine Stunde vergangen, bis sich der Besuch von Gitarrist Ron Wood ankündigte. Der spindeldürre Mann mit der Ananasfrisur war 1975 für Mick Taylor in die Band gekommen, dem das Leben mit den Stones zu stressig geworden war. Er und Keith Richards gelten als die Saitenhexer der Band, die sich privat auch ausgezeichnet verstehen. Ronnie hatte sich scheinbar mühelos in das Gefüge der Rolling Stones eingeführt. Musikalisch brachte er die besten Voraussetzungen mit. Als langjähriges Mitglied bei den Faces war er im blues-getränkten Rock’n’Roll zuhause. Das Tourleben war sein Element, und auf dem Gebiet der Skandale hat auch er der Stones-Legende das eine oder andere Kapitel hinzugefügt.
Zum SWR-Interview hatte Wood seine ganze Familie im Tross. Seine Ehefrau und zwei Kinder, die ständig ihre Videokameras auf uns richteten und alles filmten außer ihrem Dad. Zu Ronnies ständiger Begleitung gehört auch immer eine frisch geöffnete Dose Guinness-Bier.
Der ganze Auftritt vollzog sich deutlich geräuschvoller als der von Charlie. Allerdings war Ronnie von Anfang an bestens gelaunt und hatte die ganze Zeit sein spitzbübisches Lächeln aufgesetzt. Seine Frau lasse ihn nie aus den Augen, erklärte er auf meine Nachfrage. Er wisse auch nicht warum. Seine Tochter Lea singe mit im Programm der Stones, wenn Keith seinen Soloauftritt habe und sein Sohn Jamie habe einen Job Backstage und gehöre zum Tour-Zirkus.
Lebhaft beschrieb er die Spieltechnik der beiden Gitarristen. Er und Keith Richards würden ihr gemeinsames Spiel so miteinander verweben, dass oftmals nicht klar sei, was jetzt eigentlich von wem komme. Über besonders gelungene Stellen bei Improvisationen, aber auch bei Fehlern, gerieten die beiden Freunde dann schon mal in einen Streit, auf wessen Konto das eben Fabrizierte letztendlich gegangen sei.
Auf meine Frage, was er eigentlich da oben auf der Bühne während eines Konzertes von seinem Publikum wahrnehme, scherzte er, dass er wegen seiner Kurzsichtigkeit nur bis zur zehnten Reihe sehen könne. Und wenn die Fans Poster hochhalten, helfe Mick ihm beim Entziffern: »Ronnie Wood stinkt«, stehe da geschrieben.
Ob er etwas vermisse, seit er Gitarrist bei den Stones ist, wollte ich von ihm wissen. Am schlimmsten sei es für ihn, die Rolling Stones nicht mehr spielen sehen zu können. Er war immer ein Fan der Band. Aber seitdem er selbst mit auf die Bühne müsse, habe er nie wieder ein Stones-Konzert gesehen. Und das gehe jetzt schon fast 25 Jahre so. Aber immerhin sei er nicht mehr der Neue in der Band, seit man mit Darryl Jones einen festen Tour-Bassisten angeheuert habe.
Der kommende Samstag mit dem Stones-Konzert auf dem Cannstatter Wasen fiel zusammen mit dem letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Die SWR 1-Sportredaktion hatte mich gebeten, einem der Rolling Stones einen Fußballtipp zu entlocken. Denn in der Sendung SWR 1-»Stadion« tippt immer ein Prominenter gegen einen SWR 1-Hörer.
Mick Jagger ist zwar ein ausgewiesener Fußballfan und -kenner, aber die knappe Zeit der zugestandenen 10 Minuten wollte ich mit ihm über andere Dinge reden. So machte Ronnie Wood den Fußballtipp für die Stones. Ein wenig musste ich ihm helfen, da er nicht jeden deutschen Verein kannte.
»Unmittelbar vor eurem Auftritt spielt nebenan der VfB Stuttgart gegen Werder Bremen. Es geht für Stuttgart um den Klassenerhalt«, erkläre ich ihm.
»Oh, enttäuschte Fans auf unserem Konzert können wir aber nicht gebrauchen. Deshalb muss Stuttgart gewinnen«, entschied er. Stuttgart gewann tatsächlich 1:0 und verblieb in der 1. Liga.
Wir kamen zum Spiel 1860 München gegen Schalke 04.
»Ist das die Münchener Mannschaft, die gestern gegen Manchester gespielt hat?«, wollte Ronnie wissen. »Nein, das ist ein zweites Münchener Team.« »Dann verlieren die«, sagte Ronnie überzeugt. 1860 München verlor das Spiel gegen Schalke knapp 4:5. »Die erste Münchener Mannschaft, also die von dem Champions League-Spiel, die wird gewinnen«, verkündete Ronnie. Bayern München gewann sein Spiel in Leverkusen 2:1.
Auf diese nicht ganz konventionelle Weise lieferte Ronnie Wood seine neun Tipps ab, von denen nur zwei danebengingen. Gegen so viel Hellsichtigkeit konnte der SWR-Hörer am Samstag darauf nicht viel ausrichten. Ich solle unbedingt mit dem Tippschein zur Auswertung hinter die Bühne kommen, waren Ronnie Woods Abschiedsworte, als er mit seinem Gefolge unser kleines Studio verließ; zwei leere, zerknautschte Bierdosen blieben auf dem kleinen Tisch zurück.
Keith Richards, der Gitarrist und Komponist
Wieder verging eine knappe Stunde. Keith Richards, die Seele der Rolling Stones, wurde erwartet. Das größte Wunder an ihm ist, dass er überhaupt noch lebt, sagen viele Kenner des Metiers. Sein Name wird auf immer mit den größten Rocksongs der Epoche verbunden sein:
»Satisfaction«, »Jumpin’ Jack Flash«, »Brown Sugar«, »Start Me Up« und ein gutes Dutzend weitere Stücke, die bis heute auf der ganzen Welt im Radio gespielt werden, gehen vor allem auf sein Konto. Mit seinem einstigen Freund aus Kindertagen und kongenialen Songschreiber Mick Jagger hat Keith Richards ein bedeutendes Kapitel Rockgeschichte geschrieben. Natürlich auch durch seinen Lebensstil, der von Alkohol, Drogen und Frauenaffären geprägt ist. Gitarrist Brian Jones musste diesen exaltierten Stil mit dem Leben bezahlen, bevor er 30 wurde, ebenso Doors-Sänger Jim Morrison, Jimi Hendrix oder Janis Joplin. Aus Dokumentationen über die Rolling Stones wusste ich, dass Keith sehr vernuschelt spricht, viel gestikuliert und Sätze oft nicht zu Ende bringt. Da würde viel Konzentration nötig sein, um Missverständnisse zu vermeiden und die knappe Zeit optimal zu nutzen.
Es war fast genau 20 Uhr, als Unruhe aufkam in den Gängen der Schleyer-Halle. In mir verstärkte sich die Gewissheit, dass der gesamte Auftritt der Stones einer wohl kalkulierten Dramaturgie folgt. Die Reihenfolge von Charlie Watts über Ron Wood hin zu Keith Richards und als Krönung Mick Jagger zum Schluss war ganz sicher kein Zufall. Trotz der langen Wartezeiten von einem Interview zum nächsten erschienen die Gesprächspartner immer genau zur vollen Stunde. Ich deutete das als ein Zeichen, wie wichtig den Stones diese ganze Nummer war, wohl wissend, dass sie das auch alles tun, um zu ihrem kostenfreien Werbefilm zu kommen, der im Nachbarstudio entstand. Für weitere Überlegungen blieb keine Zeit, denn da trat mit einem Lachen, das dem Fauchen eines alten Drachen ähnelte, Keith Richards durch die Tür.
Über einem hellgrünen T-Shirt trug er ein offenes Hemd und darüber eine schwarze Weste.
In die verstrubbelten Haare waren Voodoo-Symbole wie kleine bunte Perlen und andere Accessoires eingeflochten. Richards wirkte lebhaft, fragte, wie es uns ginge, beförderte aus seinen Taschen zwei Schachteln Zigaretten ans Tageslicht, eine Packung Chesterfield und eine Pall Mall, nachdem er ein mitgebrachtes Glas, das offenbar Wodka mit Orangensaft enthielt, auf dem Tisch abgestellt hatte. Ich war überrascht, wie einfach es manchmal sein kann, gleich mehrere Klischees zu bedienen. Wir kamen dann auch rasch ins Gespräch.
Keith hob noch einmal das Besondere an diesem Tour-Abschnitt hervor, der eigentlich die Fortsetzung dessen sei, was vor einem Jahr wegen der unklaren Steuersituation abgebrochen worden war. Klar spiele man letztendlich immer wieder die gleichen Songs, aber jetzt eben Open Air und auf einer Bühne, die ganz anders aufgebaut sei als jene bei der Hallen-Tour in den USA, der »No Security Tour«. Nie wisse man, welche akustischen Verhältnisse man antreffe, die auch durch das Wetter diktiert würden. Da sei jeder Abend anders.
»Aber wir sind da sehr flexibel«, sagte Keith, »und wir können unsere Song-Liste jederzeit umstellen. Denn das Programm kommt in den verschiedenen Ländern auch unterschiedlich an. Wenn du auf die Bühne gehst, weißt du nie, wie der heutige Abend wird. Allein das macht die Sache immer wieder spannend. Da wird zuweilen auch improvisiert wie im Jazz. Unser Schlagzeuger Charlie kommt vom Jazz, auch unser Bassist Darryl Jones. Schlagzeug und Bass sind für die Improvisation ungemein wichtig. Das hat Miles Davis auch so gemacht.«
»Eigentlich wäre es ja gar nicht nötig, für jede Tour immer wieder ein neues Album zu machen. Ihr habt doch so viele Songs, die kann man ohnehin nie an einem Abend spielen.
Ist es denn nicht schwer oder auch lästig, immer wieder gegen eine solche Vergangenheit anschreiben zu müssen?«, fragte ich Keith Richards.
Der richtete seinen Blick nach oben, dachte kurz nach und sagte: »Als Songschreiber ist man immer bestrebt, etwas Neues zu versuchen, sonst wäre das ja auch langweilig. Die besten Ideen kommen mir übrigens auf den Tourneen. Später im heimischen Studio feile ich diese Ideen dann aus bis zum fertigen Song. Stücke wie ›Out Of Control‹ oder ›Saint Of Me‹ sind neu auf dieser Tour und werden inzwischen genauso von den Fans angenommen und gefeiert wie die alten Hits und Klassiker. Das weißt du aber vorher nicht. Mick und ich haben beim Schreiben immer die Konzertsituation im Hinterkopf. Die ist uns wichtiger als das Aufnahmestudio. So kann das für mich immer weitergehen. Ans Aufhören mag ich da gar nicht denken. Eher daran, was wohl als Nächstes kommt.«
Ich wollte von Keith wissen, ob er bei bestimmten Songs, die einer sehr prägnanten Ära entstammten, eine emotionale Bindung zu den Geschehnissen hätte, in denen diese Lieder entstanden waren. Wenn die Stones zum Beispiel »Miss You« aus dem Jahre 1978 spielten, denkt er da an diese Zeit zurück? Ich hatte mir dieses Stück ausgewählt, weil ich wusste, dass Keith in jenen Jahren seine schlimmste Drogenphase durchlebte, die ihn zeitweise in Kanada hinter Gitter gebracht hatte. Er erläuterte mir in sachlich-ruhigem Ton, dass es keinerlei solche Emotionen gäbe, wenn er auf der Bühne einen Song präsentiere. Es interessiere ihn auch heute nicht mehr, ob damals die Bullen hinter ihm her gewesen seien oder ob er sich mal wieder einer Blutwäsche unterzogen habe. So ein Song sei ja auch kein statisches Wesen. Dem werde auf der Bühne ständig eine Frischzellenkur verpasst. Und im Übrigen sei er mehr an der Gegenwart und an der Zukunft interessiert als an der Vergangenheit. Höre er jedoch einen Oldie im Radio, erinnere der ihn schon an vergangene Zeiten und Erlebnisse in der Vergangenheit. Aber nicht seine eigenen Songs.
Ich erinnerte Keith Richards daran, dass die Rolling Stones die erste Band waren, die in Deutschland in einem Fußballstadion aufgetreten waren, während der Europa-Tour 1976.
Es war das Neckarstadion in Stuttgart. Seitdem waren die Stones nicht mehr in der Stadt gewesen. Keith staunte, wie die Jahre doch vergingen, entschuldigte sich fast dafür und versprach, nicht wieder so lange auf sich warten zu lassen. Wir sprachen über die Fortschritte, die die Bühnentechnik seit den siebziger Jahren gemacht hatte, was auch zu einer deutlichen Verbesserung des Sounds gerade bei Konzerten der Rolling Stones geführt habe.
»Inzwischen gibt es Videowände, die ich anfangs gar nicht mochte«, erklärte Richards, »aber ich bin nur knappe 1,70 Meter groß, und ich wachse auch nicht mehr. Wie sollte man mich da sonst sehen? Am wichtigsten aber ist das Soundsystem, die PA. Da sind wir immer auf dem neuesten Stand. Vorn auf der Bühne sieht das ja alles gewaltig aus, mit den Lautsprechertürmen. Hinter der Bühne ist das eher unscheinbar.«
»Weil wir schon mal hinter der Bühne sind, was passiert eigentlich in der viel gepriesenen Voodoo-Lounge?«, wollte ich von Keith wissen.
Die Voodoo-Lounge ist ein kleiner intimer Bereich hinter der Bühne, in dem die Rolling Stones sogenannte VIPs empfangen. Viel wird darüber geschrieben und erzählt, aber nur einem kleinen Kreis von Personen wird der Zutritt dorthin gewährt.
Bei dieser Tour war die Voodoo-Lounge in den Katakomben der Schleyer-Halle eingerichtet worden. Ich hatte am Nachmittag einen Blick dort hineinwerfen können. Alle Wände waren mit schwarzen Vorhängen verkleidet. Ein Billardtisch stand in der Mitte, umgeben von Körben mit Getränken und Früchten. Kerzen beleuchteten die Lounge spärlich. Es war zu diesem Zeitpunkt kein Mensch dort.
»Ach, die Voodoo-Lounge«, lachte Keith, »dafür habe ich keine Zeit. Ronnie und ich haben direkt hinter der Bühne unseren Tuning-Room, wo wir uns warm spielen, kurz vor jedem Konzert. In der Lounge treffen sich alle anderen Leute, die mit der Show zu tun haben.
Besonders am ersten Abend einer Tour ist da eine Menge los. Wir kommen an, ziehen uns um, gehen auf die Bühne und machen unseren Job. Zum Loungen haben wir einfach keine Zeit.«
Es war weniger eine Frage als eine Feststellung, als ich abschließend zu Keith Richards sagte:
»Du freust dich sehr auf die nächsten Konzerte, nicht wahr?«
Da lächelte er, ließ sein Drachenfauchen ertönen und nickte einfach nur. Auf meine Frage, ob denn noch ein abschließendes Foto drin wäre, öffnete Keith Richards seine Arme und sagte in meine Richtung: »Come over, darling.« Auf meiner Schulter ruhte die Hand des Stones-Gitarristen. Auf einem seiner knochigen Finger glänzte der Totenkopfring, den er Jahre später in seiner Rolle als Vater des Piraten Jack Sparrow, gespielt von Johnny Depp im Film »Fluch der Karibik«, so wirkungsvoll ins Bild setzen würde. Der Abgang Keith Richards’ wurde genau wie sein Erscheinen rund 15 Minuten zuvor von seinem fauchenden Lachen begleitet. Dann herrschte wieder relative Stille in den Katakomben der Hanns-Martin-Schleyer-Halle.
Mick Jagger, Sänger, Songschreiber, Boss
Kurz vor 21 Uhr bedeutete uns das Wachpersonal der Stones, ins Studio zu gehen. Drinnen schloß der uns begleitende muskulöse Afroamerikaner die Tür und stellte sich demonstrativ davor.
»Hey man, what’s going on?«, frage ich den ernst dreinschauenden Hünen.
»His godship has just arrived«, lautet die mit leicht zynischem Lächeln vorgetragene Antwort.
Ich erfuhr später, dass Mick Jagger, wenn er als Sänger der Stones unterwegs ist, immer Bodyguards dabei hat, die ihm in unübersichtlichem Gelände, wie dem Labyrinth einer Sporthalle, vorausgehen bzw. folgen. Um eine Ecke, hinter der eine Überraschung, welcher Art auch immer, lauern könnte, geht er nie als Erster. Insider behaupten, diese Vorgehensweise habe sich Jagger seit der Ermordung von John Lennon im Dezember 1980 zu eigen gemacht.
Das Risiko, auf der Bühne angefallen oder gar getötet zu werden, schätzt er offensichtlich als geringer ein, obwohl es Attacken auf ihn im Konzert schon gegeben hat. Einen Amok-Läufer bei einem US-Konzert in den achtziger Jahren hatten die Sicherheitsleute zu spät bemerkt. Er konnte sich Zugang zur Bühne verschaffen, nahm Kurs auf den Stones-Sänger, musste aber noch an Keith Richards vorbei. Der nahm kurzerhand seine Gitarre ab, umfasste sie wie eine Keule und streckte so den Angreifer nieder. Mick hatte das Geschehen aus dem Augenwinkel verfolgt und keinen Augenblick von seinem Gesang abgelassen. Diese Szene ist in diversen Dokumentationen über die Rolling Stones festgehalten worden.
Der Lärm vor der Tür schwoll an. Unser Bewacher öffnete die Tür und herein trat ein kleiner Mann mit großem Kopf und langen Armen, die Sonnenbrille lässig in der rechten Hand. Alle erhoben sich unwillkürlich von den Plätzen. »Hi, Günter«, begrüßte uns Mick Jagger und blickte in die Runde. Ich trat einen Schritt vor, reichte ihm die Hand und sagte: »Hi, Mick, nice to have you here.« Jagger ist fast einen Kopf kleiner als ich mit meinen 1,83 Metern. Auf der Bühne am Samstag würde ich wieder zu ihm aufblicken.
Mick Jagger nahm auf dem Sofa Platz, auf dem vor ihm schon die anderen Stones gesessen hatten. Von deren Präsenz kündeten noch einige Spuren. Ronnies Bierdosen waren noch da und die Zigaretten von Keith. Wir hatten keinen Anlass gesehen, den Tisch aufzuräumen. Mick schaute missbilligend auf die zerknautschten Bierdosen und dann auf seine Assistentin, die im Hintergrund geblieben war. »Oh, Karen, could you take this away«, sagte er angewidert und deutete auf die Bierdosen. Dann zeigte er auf den Tisch und sprach zu mir im Tone eines Internatsleiters, der Schüler bei einem Vergehen erwischt hatte: »Two kinds of cigarettes!?« Ich zuckte mit den Schultern und fragte ihn, ob er sich nicht denken könne, wer all diesen Müll zurückgelassen habe. »No, I can’t«, schnarrte er zurück. Inzwischen waren die Scheinwerfer, die Mikros und die Kamera justiert, und ich fragte Mick, ob wir beginnen könnten. »Yes, any time.«
Ich kam gleich auf die Stadt zu sprechen, in der die Stones nun schon seit vier Tagen logierten und arbeiteten. Ob er denn schon etwas von Stuttgart gesehen hätte, wollte ich von ihm wissen. Ja, er habe gleich am ersten Tag ein Museum bemerkt, das eine Picasso-Ausstellung präsentiere. »Die werde ich mir morgen an unserem freien Tag ansehen.« Den für Stones-Verhältnisse langen Aufenthalt in ein und derselben Stadt erklärte er mit dem uns schon bekannten Umstand, dass die Open-Air-Bühne flott gemacht werden müsse, auf der man ja schon seit fast einem Jahr nicht mehr gearbeitet habe. »Das ist wie mit einem Auto, das monatelang in der Garage gestanden hat«, erläuterte Jagger.
»Die Soundsysteme und überhaupt die ganze Bühnentechnik muss geprüft und eingestellt werden, damit die nächsten Konzerte optimal ablaufen können.«
»Und während eurer Proben gestern Abend lief ein interessantes Fußballspiel«, erinnerte ich den Fußballfan Mick Jagger. »Champions League-Finale Manchester United gegen Bayern München.«
»Ja, den größten Teil des Spiels haben wir leider verpasst. Aber die Mitglieder der Crew hatten einen Fernseher in einem kleinen Raum hinter der Bühne. Die haben dort das Spiel verfolgt.«
»Und es sah gar nicht gut aus für Manchester.«
»Nein, schrecklich war das. Aber die entscheidenden Minuten haben wir ja dann doch noch mitgekriegt. Das hat den Rest der Truppe dann entschädigt. Ich hatte beim Ansetzen der Probe überhaupt nicht an dieses Spiel gedacht. Das passiert mir sonst nicht. Am Ende war ja dann alles wieder gut. Manchester hat gewonnen, und das wird in Stuttgart ja niemanden wirklich ärgern. Es war ja nicht eure Mannschaft, die gestern verloren hat.«
Wir sprachen über das Bühnenbild der »Bridges To Babylon«-Tour. Seit den Achtzigern war auch bei den Rolling Stones die Kulisse für ihre Show immer pompöser geworden. Das aktuelle Album gab meist das Konzept für die Gestaltung des Bühnenbildes vor. »Bridges To Babylon« von 1997 war das programmatische Thema jener Tour von 1999.
Wurde da ein Architekt beauftragt oder ein Designer, der für die entsprechende Umsetzung des Album-Titels in ein Bühnenbild zu sorgen hatte?
»Also das funktioniert so«, erklärte Jagger mit beiden Händen gestikulierend. »Charlie und ich setzen uns mit dem Designer zusammen, der auch schon die letzten beiden Touren von uns betreut hat. Dem erläutern wir unser Grundkonzept, welchen Aufbau wir gerne hätten, welche Farbtöne dominieren sollen und dass es nicht zu operettenhaft werden darf. Schon dabei zeigt sich, was geht und was nicht. Da sollte man auch mehrere Ideen und Alternativen parat haben, weil sich in der Praxis nicht alles so realisieren lässt, wie wir es gerne hätten. Das ist natürlich auch eine Frage der Kosten.«
»Und der Titel ›Bridges To Babylon‹ stand von Anfang an fest?«
»Nein, der kam erst zum Schluss, als wir die Idee mit der Brücke hatten, die die Hauptbühne mit einer kleineren Nebenbühne verbindet. Etwa nach der Hälfte des Konzertes wird diese Brücke ausgefahren zu einer kleineren Bühne mitten unter den Zuschauern. Dort geht dann die ganze Band hin und spielt einen Set ›unplugged‹. Also eine Art Kammerkonzert, das in die große Show eingebettet ist. Zu Beginn der Tour war diese Brücke nicht fertig geworden, was mich ziemlich genervt hatte. Ja, auch bei uns halten mitunter die Handwerker die Termine nicht. Mark, unser Designer, hatte gesagt, wenn du persönlich diese Brücke bestellst, ist das wie eine Garantie, dass auch alles pünktlich da ist. Dann gab es aber Probleme mit der Konstruktion. Es bestand die Gefahr, dass die Brücke zerbricht und ins Publikum stürzt. Deshalb gab es während der ersten beiden Wochen der Tour keine Brücke. Aber dann war alles komplett, so wie ihr es am Samstag erleben werdet.«
»Es heißt, dass die Stones erst kurz vor Beginn des Konzertes entscheiden, welche Songs sie spielen werden. Das ist dann eine Entscheidung der gesamten Band?«
»Nicht wirklich«, grinste Jagger und brach in ein meckerndes Gelächter aus.
Ich hatte irgendwo gelesen, dass Mick persönlich und autoritär die Song-Liste erst Minuten vor dem Konzert endgültig festlegt. Das Privileg des Chefs und des Sängers. Das scheinen die übrigen Stones zu akzeptieren. Sein spitzbübisches Lachen war die beste Bestätigung.
»Im Allgemeinen läuft das schon so. Aber die anderen können auch ihre Vorschläge machen.
Die Song-Liste ändert sich oft, ganz besonders zu Beginn einer Tour. Einige Stücke haben dann doch nicht die Wirkung, die wir uns erhofft hatten. Wenn etwa Songs besonders in der ersten halben Stunde zu hart daherkommen und das Ganze zu depressiv gerät, dann ändern wir das.
Gerade der Auftakt eines Konzertes ist wichtig. Da muss die Stimmung positiv sein. Wir treten in der Regel mit 70 spielbereiten Songs an, unter denen wir dann wählen können.«
Wir kamen auf die Bands zu sprechen, die im Vorprogramm der Stones auftreten. In Deutschland verlässt sich Jagger da auf die örtlichen Veranstalter, die ihnen Vorgruppen, sogenannte Support Acts, besorgen. Daheim in England und auch in Amerika kümmern sich die Stones selbst um das Vorprogramm. Es ist ja nicht leicht, vor einer solchen Band wie den Rolling Stones aufzutreten. Peter Maffay wurde in den Achtzigern mit Eiern beworfen, als er in der Berliner Waldbühne vor einem Stones-Publikum spielte.
Für junge Bands, sagte Jagger, sei das aber auch eine Chance, sich einem größeren Publikum zu empfehlen. Er lege Wert darauf, junge Künstler in seinem Programm zu haben. Sheryl Crow habe davon profitiert oder die irischen Corrs, die in Amerika noch gar keiner kannte und die durch die Stones- Tour 1998/99 regelrecht für den US-Markt entdeckt wurden.
Mick Jagger bestätigte meinen Eindruck, den ich gewonnen hatte, dass eigentlich er der Manager der Band ist. Auf meine Frage, ob er denn den Künstler sauber vom Geschäftsmann zu trennen vermöge, räumte er ein, dass dies besonders am Anfang der Tour nur schwer zu machen sei, wegen all der organisatorischen Dinge, um die er sich nun mal selbst kümmere. Das mit dem Bühnen-Design wollte er aber als Kunst verstanden wissen und nicht als Geschäft. Im Verlauf der Tour trete dann der Geschäftsmann immer weiter hinter dem Künstler und Popstar Mick Jagger zurück.
»Dennoch erwächst dir aus allem, was du tust und wofür du zuständig bist, eine gewisse Verantwortung für den ganzen Zirkus, mit dem ihr unterwegs seid«, provozierte ich ihn ein wenig. Er schaute über seine vor dem Gesicht gefalteten Hände, grinste und sagte:
»Nun mach mir bloß keine Angst. – Ja, es stimmt schon. Wenn wir Schiffbruch erleiden würden mit all dem, was wir machen, dann müssten sich viele Leute einen neuen Job suchen.«
»Ihr seid gerade in den neunziger Jahren immer besser geworden mit euren Konzerten. Das war ja nicht immer so mit der Soundqualität. Und nun gibt es Meinungen, die besagen, irgendwas stimmt da nicht bei den Stones.«
Jagger lehnte sich zurück, setzte eine ernste Miene auf und sagte in dem mir schon bekannten schnarrenden Ton: »Ich weiß jetzt gar nicht, was du meinst.«
»Es war ein Artikel im Spiegel, der euch unterstellt, ihr würdet gar nicht alles live auf der Bühne fabrizieren, was man am Ende zu hören bekommt.«
»Oh, das war eine sehr unfaire Art vom Spiegel, Zitate aus dem Zusammenhang zu nehmen. Dieser Artikel ist mir bekannt, und ich war sehr enttäuscht, weil ich den Spiegel immer für ein seriöses Blatt gehalten habe. Es war eine ganz offensichtlich falsche Behauptung. Und obwohl sie es dann auch eingesehen hatten, dass sie unrecht hatten, haben sie keine Richtigstellung gebracht.«
Assistentin Karen erschien und wies darauf hin, dass die vereinbarte Interviewzeit abgelaufen wäre. Mick hob die Hand und sagte: »Karen, it is okay, let’s go on.«
Eine Frage hatte ich mir noch für den Schluss aufgehoben. Unsere »Aktuell«-Redaktion von SWR 1 hatte mich gebeten, Mick Jagger, den ehemaligen Wirtschaftsstudenten, nach seiner Meinung zur gerade entstehenden Europäischen Union mit eigenem Parlament und demnächst auch eigener Währung zu fragen, insbesondere vor dem Hintergrund der Europawahl, die in wenigen Wochen stattfinden würde. Mick machte dicke Backen und klagte, das wäre jetzt aber eine schwierige Frage am Ende eines Interviews, die er mit wenigen Sätzen nicht beantworten könne. Dann fühlte er sich aber doch so weit herausgefordert oder auch geschmeichelt, nach seiner Expertenmeinung zur Politik gefragt zu sein, dass er loslegte.
»Was mir Sorgen bereitet, ist die unübersichtliche Administration einer so wichtigen demokratischen Institution wie der Europäischen Gemeinschaft, die überwiegend von Bürokraten beherrscht wird. In England ist das Interesse an den Europawahlen eher gering, weil man dort die Möglichkeit der Parteinahme vermisst. Der Bürger weiß nicht, wer da eigentlich gewählt werden soll. Statt eines Präsidenten, den man wählen könnte, sieht er nur einen bürokratischen Apparat. Man nimmt das Zusammenwachsen Europas zur Kenntnis, glaubt aber nicht, dass die Bürokratie auf die Bedürfnisse der Menschen in ausreichendem Maße reagieren kann. In England hat man auch den Eindruck, zum europäischen Einigungsprozess gar nicht gefragt worden zu sein, und pro-europäische Politiker sind bei uns alles andere als populär. Ich persönlich denke, dass uns allen mit der voranschreitenden europäischen Einheit mehr politische Verantwortung erwächst.«
Mick Jagger lehnte sich zurück wie jemand, der sich der Bedeutung seiner Worte bewusst ist, verfiel dann aber doch noch einmal in sein meckerndes Lachen, was mir zum einen signalisieren sollte, da hast du jetzt aber eine schöne Antwort für deine Redaktion, zum anderen aber auch den Schlusspunkt setzte für ein am Ende doch doppelt so langes Interview als ursprünglich zugesagt. Mick ließ sich sogar noch zu einem gemeinsamen Foto überreden und entschwand dann in die laue Sommernacht.
Wir hatten eine gute Ausbeute und konnten nun unsere Geräte abbauen. Es war fast 22 Uhr. Seit sechs Stunden hockten wir in den Katakomben der Schleyer-Halle. Aber es hatte sich gelohnt. Ein solches Treffen erlebten auch die erfahrensten Kollegen hinter Kameras und Funktechnik nicht alle Tage.