KAPITEL 11

– Torrence –

 

 

I ch war schon einmal in Haven gewesen. In Avalon gehörte es zur Grundausbildung für Hexen, ausgewählte Treffpunkte in den Vampirkönigreichen abzuklappern, um sicherzustellen, dass wir uns zu jedem von ihnen teleportieren konnten.

Haven lag in der üppigen Bergkette der südwestlichen Ghats in Indien, und es war einfach wunderschön. Wir kamen direkt vor dem magischen Schutzwall an. Ein Mädchen, das ein paar Jahre älter als ich zu sein schien, hielt mir zwei Tigern Wache. Sie trug das, was alle Bewohner Havens trugen: eine weite, weiße Hose und ein dazu passendes Oberteil. Wegen der magischen Barriere konnte ich nicht riechen, was für eine Art übernatürliches Wesen sie war.

„Willkommen in Haven“, sagte sie mit einem warmen Lächeln. „Ich bin Leena. Wie kann ich euch helfen?“

Thomas trat vor. „Mein Name ist Thomas Bettencourt“, sagte er. „Ich bin ein Freund deiner Anführerin Mary, ebenso wie meine Partnerin Sage Montgomery. Meine Gefährten und ich sind im Auftrag des Erdenengels hier und benötigen eine sofortige Audienz bei Mary.“

Bevor er etwas über den Grund unseres Besuchs sagen konnte, kam eine Frau auf einem prächtigen weißen Tiger auf uns zugeritten. Sie hatte lange, braune Haare, die ihr in weichen Wellen über den Rücken fielen. Ich erkannte Mary sofort. In der Akademie von Avalon hatten wir alles über sie gelernt, denn sie war eine der wichtigsten Persönlichkeiten der übernatürlichen Welt.

„Der Erdenengel hat mir eine Nachricht geschickt, um mich auf eure Ankunft vorzubereiten“, begann sie, während sich vier Hexen in der typischen weißen Haven-Kluft neben uns teleportierten. „Meine Freundinnen bringen euch ins Innere des Schutzwalls. Ihr werdet ein paar Tests über euch ergehen lassen müssen, aber dann können wir uns zusammensetzen und reden.“

 

Die Hexen brachten uns in einen abgesicherten Raum im Hauptgebäude, wo sie uns Blut abnahmen. Sie mussten sichergehen, dass wir keine Dämonen waren, die einen Verwandlungstrank eingenommen hatten, um in das Königreich einzudringen.

Nachdem unsere Identität bestätigt worden war, führte man uns in eine bunte Teestube. Mary wartete dort mit Getränken und einer Auswahl kleiner Häppchen. Für Reed und mich gab es Jasmintee, und für Thomas, Sage und Mary frisches Tierblut.

„Setzt euch.“ Mary wies auf die rot gemusterten Kissen rund um den kleinen Tisch. „Sagt mir, was ihr braucht.“

Wir zogen uns die Schuhe aus, stellten sie neben der Tür ab und nahmen auf den Kissen Platz. So zu sitzen, war viel bequemer, als es aussah. Nur Thomas sah in seinem schicken Anzug ziemlich deplatziert aus.

Wir brachen schnell gemeinsam das Brot – wie es bei einem Besuch in einem Vampirreich üblich war – und Reed und ich stellten uns vor. Dann erzählten wir Mary von den Ereignissen seit der Nacht, in der Selena entführt worden war.

„Wir sind hier, um herauszufinden, ob eine Ihrer Hexen weiß, wie man in die Anderswelt kommt“, schloss ich.

„Bitte sprich mich mit ‚Du‘ an. In Haven glauben wir nicht an Hierarchien. Was leider auch bedeutet, dass ich euch nicht helfen kann. Wenn eine meiner Hexen wüsste, wie man in die Anderswelt kommt, hätte sie oder er es mir gesagt“, erklärte Mary. „Und wenn diese Person es mir nicht sagen wollte, kann ich sie nicht zwingen. Der Wahrheitstrank – und jeder andere Trank, der einen dazu bringt, etwas gegen seinen Willen zu tun – ist in unserem Königreich verboten.“

„Das verstehen wir“, sagte Sage. „In diesem Fall hatten wir auf eine Audienz bei Rosella gehofft.“

Die Vampirseherin Rosella war mir vom Namen her bekannt. Ihre Visionen hatten einst dem Erdenengel und der Königin der Schwerter geholfen. Ich konnte nicht glauben, dass ich auch sie treffen würde.

„Ich fürchte, Rosella ist im Moment nicht da“, sagte Mary.

„Wann kommt sie zurück?“, fragte Sage.

„Das ist schwer zu sagen. Rosella verschwindet oft tagelang, um übernatürlichen Wesen zur Seite zu stehen, die ihrer Führung bedürfen. Bestimmt erinnert ihr euch noch daran, wie sie damals aus heiterem Himmel bei eurer Freundin Raven aufgetaucht ist.“

„Kannst du sie irgendwie erreichen?“, fragte ich. „Das Ganze dauert höchstens ein paar Minuten.“

„Ich fürchte, das kann ich nicht“, sagte Mary mitfühlend.

„Sie muss doch ein Handy haben. Ansonsten könnte eine deiner Hexen ihr eine Feuerbotschaft schicken. Bitte?“

„Eure Prophetin hat euch gesagt, dass ihr die Antwort finden könnt. Wenn Rosella jetzt hier sein müsste, wäre sie hier“, sagte Mary. „Ich glaube nicht, dass sie diejenige ist, die euch helfen kann.“

Thomas stellte seine Tasse Blut auf dem Tisch ab. „Danke für alles“, sagte er. „Ich möchte nicht unhöflich sein und das Gespräch abkürzen, aber wir sind in Eile. Wir müssen entscheiden, welches Königreich wir als nächstes besuchen.“

„Das verstehe ich.“ Mary stand auf, und wir anderen taten dasselbe. „Ich wünsche euch viel Glück bei eurer Mission und werde Selena in meine Gebete einschließen.“