KAPITEL 19

– Selena –

 

 

I n dem Moment, in dem Sorcha die königliche Loge betrat, verstummten die vielen Stimmen in der Arena und die Leute im Publikum standen auf. Das Innere der Arena roch seltsam süß, nach Honig und Rosen.

Von meinem Platz hinten in der Loge konnte ich nur die obersten Tribünen sehen. Sie waren voll von Halbblütern. Natürlich hatten die Halbblüter die schlechtesten Plätze. Von hier sahen sie aus wie kleine Punkte in einem Ameisenschwarm.

Mein Magen krampfte sich zusammen, als mir klar wurde, dass wir gleich vor unzähligen Leuten zur Schau gestellt würden. Es war eine Sache, zu wissen, dass sie uns durch die Kugeln beobachteten. Die Zuschauer mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes.

„Wie viele Leute passen ins Kolosseum?“, fragte ich Cassia, die neben mir stand.

Bridget mischte sich ein, bevor Cassia antworten konnte. „Fünfzig- bis achtzigtausend“, sagte sie. „Für die Spiele ist es komplett gefüllt.“

Ich atmete scharf ein und mein Herz klopfte schneller. Das war mehr als das Zehnfache der Bevölkerung von Avalon. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Leute an einem Ort gesehen.

Sorcha glitt zu ihrem Thron, einem funkelnden Stuhl aus reinem Kristall. Das Licht fing sich in all seinen Winkeln, und aus dem oberen Teil ragten Zacken hervor, wie Sonnenstrahlen. Nachdem sie sich der Menge zugewandt hatte, ging ich auf den weit weniger beeindruckenden goldenen Thron zu ihrer Rechten zu. Mit jedem Schritt sah ich mehr und mehr vom Inneren des Kolosseums.

Die Sitze waren aus Marmor. Wie erwartet, hatten die Feen die besten Plätze, weiter unten und näher am Geschehen. Die Leute hielten eine Vielzahl von Snacks in Händen – Kuchen, Früchte und Süßigkeiten –, hatten aber allesamt aufgehört, zu essen, als Sorcha eingetreten war.

Dann kam das Zentrum des Kolosseums in Sicht, und ich erstarrte. Der Boden der Arena war mit Wasser gefüllt. Tonnenweise Wasser, so dunkel, dass es aussah, als wäre es mitten aus dem Ozean gerissen worden.

In der Mitte schwammen drei römische Kriegsschiffe. Die Seiten der aus Holz gefertigten Schiffe waren in drei verschiedenen Farben gestrichen. Ozeanblau, reines Weiß und tiefes Violett. Das waren die Flügelfarben von Octavia, Emmet und Molly, in dieser Reihenfolge.

Über dem Bug eines jeden Schiffes schwebte ein goldener Dreizack. Es gab nur einen Grund, diesen Kampf mit Wasser und Dreizack zu gestalten. Die Götter – und die Feen – mussten wollen, dass Octavia gewann.

„Selena?“, sagte Sorcha, und ich blinzelte ein paar Mal. Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass wir von zehntausenden Augenpaaren beobachtet wurden. „Komm, nimm deinen Platz neben mir ein.“

Schon gut , sagte ich mir, während ich die letzten Schritte zu meinem Platz zurücklegte. Emmet und Molly halten sich an den Plan. Sie sind starke Kämpfer. Auch wenn sie von ihrem Element umgeben ist, können sie Octavia besiegen. Und Emmets Element ist die Luft. Sie sind nicht nur von Wasser umgeben, sondern auch von Luft. Sie schaffen das.

Ich erreichte den goldenen Thron und wandte mich der Menge zu. Aber ich nahm kaum einen der Zuschauer im Kolosseum wahr. Alles, worauf ich mich konzentrieren konnte, war das wässrige Schlachtfeld.

Nun gingen meine Mitspieler zu ihren Plätzen. Ihre Marmorstühle standen vor unseren Thronen, eine Stufe niedriger. Wie angewiesen blieben sie vor ihren Plätzen stehen.

Sorcha ließ sich Zeit. Sie schaute sich in der gesamten Arena um. Niemand sagte auch nur ein Wort, während sie die Menge studierte. Es war so still, dass ich Angst hatte, zu atmen. Schließlich blickte sie wieder geradeaus und ließ sich auf ihren Thron sinken.

Ich setzte mich als Nächste, gefolgt von den anderen Spielern, den Feen und schließlich den Halbblütern. Auch als alle saßen, blieb es mucksmäuschenstill. Das war ein gewaltiger Unterschied im Vergleich zum lauten Jubel, der den Göttern zuteilwurde.

Dann betraten Diener die königliche Loge – einer für jeden von uns – und überreichten uns Tabletts mit Snacks und Honigwein. Sorcha nahm sich ein Gebäck mit Aprikosenmarmelade und ein Glas Wein. Ich musste während der Spiele einen klaren Kopf behalten, also verzichtete ich auf den Wein. Aber da ich die Feen und die Götter nicht beleidigen wollte, nahm ich eine Dattel und steckte sie mir in den Mund.

Da es in der Arena immer noch still war, schenkte ich dem Diener nur ein kleines Lächeln und ein Nicken, um ihm zu zeigen, dass die Dattel alles war, was ich wollte. Er neigte den Kopf und eilte mit den anderen Dienern in den hinteren Teil der Loge.

Ich sah mich nach Prinz Devyn um, in der Annahme, dass er einen der besten Plätze haben würde. Aber die Menge war so groß, dass ich ihn nicht entdecken konnte.

Vielleicht beobachtete er uns durch die Kugeln. Vielleicht schaute er aber auch gar nicht zu, denn sein allwissender Blick hatte ihm gewiss bereits verraten, was passieren würde.

Plötzlich gab es eine Explosion aus gleißendem Licht im oberen Teil der Arena. Bacchus brach wie durch einen Vorhang daraus hervor. Vier schwarze Panther zogen seinen Streitwagen. Wie gewohnt hielt er sein Zepter mit einem riesigen Tannenzapfen an der Spitze in der Hand. Doch seine Kleidung hatte sich gewandelt – er trug eine schwarze Toga, die ihn nur untenherum verhüllte. Seine muskulöse Brust war nackt, bis auf die Stellen, die von einer gewaltigen Schlange verdeckt wurden. Sie wand sich um seinen breiten Hals. In seinen Augen lag eine blutrünstige Verrücktheit, die ich so noch nicht gesehen hatte.

Die Menge stand auf und stampfte mit den Füßen, so laut, dass ich ein Dröhnen in der Brust spürte. Das war die Menge, wie ich sie kannte. Aber ihr Jubel klang irgendwie dunkler. Gieriger. Sie dürsteten nach Blut.

Sorcha blieb unbeweglich wie eine Statue auf ihrem glitzernden Thron sitzen. Es war unmöglich zu sagen, wie sie zu den Feenspielen stand.

Bacchus drehte ein paar Runden in der Arena. Die Augen seiner Panther leuchteten hellgelb. Bacchus’ dunkler Blick traf den meinen, und mir liefen Schauer über den Rücken. Als er schließlich anhielt, schwebte sein Wagen im Zentrum der Arena. Seine Panther setzten sich mitten in der Luft hin. Einer von ihnen begann, sich die Pfote zu lecken.

Bacchus hob sein Zepter, und die Menge verstummte. „Bürger der Anderswelt!“, rief er, und seine Stimme dröhnte durch das Amphitheater. „Ihr seid von nah und fern gekommen, um den ersten Kampf der diesjährigen Feenspiele zu sehen. Den ersten Kampf auf Leben und Tod. Wir haben uns für euch ins Zeug gelegt, um euch eine Show zu bieten, die ihr nie vergessen werdet. Sieht die Arena nicht spektakulär aus?“

Er deutete auf das Wasser unter ihm, und die Menge tobte erneut. Sie hörten erst auf, als er erneut sein Zepter erhob.

„Ich bin mir sicher, dass ihr alle die Regeln kennt. Aber da dies der erste Kampf der Spiele ist, ist es meine Pflicht, euch an sie zu erinnern“, fuhr er fort. „Wenn ich das Startsignal gebe, werden die drei Spieler, die von der Kaiserin der Villa ausgewählt wurden, die Arena betreten.“

Alle Blicke im Stadion richteten sich auf mich, und Bacchus grinste bösartig.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Elektrizität knisterte unter meiner Haut, und aus dem Augenwinkel nahm ich ein Leuchten wahr. Ich sah auf meine Fäuste hinab – sie waren von Kugeln aus Blitzen umgeben.

Oh je.

Die Menge brach erneut in Jubel aus. Die Kugeln um meine Hände wuchsen, und die Schreie der Menge wurden immer lauter und lauter. Die Leute dachten wahrscheinlich, ich täte das, um sie zu unterhalten. Und während ihr Jubel anschwoll, wuchs auch meine Wut, und mit ihr die Kugeln aus Blitzen um meine Hände. Sie waren bereits so groß wie Basketbälle … und wurden immer größer.

Ich wollte nur, dass es aufhörte .

Ich schaute zu Sorcha hinüber und versuchte, meine Atmung zu beruhigen. Ich würde mir ihre heitere Ausstrahlung zum Vorbild nehmen.

Nach den gefühlt längsten Sekunden meines Lebens schrumpften die Kugeln um meine Hände, bis sie endlich ganz erloschen.

Nun richteten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit wieder auf Bacchus.

„Die Bühne wird für jeden Kampf neu gestaltet“, fuhr der Gott fort. „Da die Kämpfe chaotisch werden können, ist sie zu eurem Schutz mit einer magischen Feenfeste umgeben. Auf mein Zeichen hin werden die drei Auserwählten die Arena betreten und mit ihrer Magie und den ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln kämpfen. So lange, bis einer von ihnen tot ist. Eigentlich ganz einfach, oder?“

Die Menge brüllte und klatschte Beifall. Es war fast so, als ob die Anwesenheit von Bacchus sie in einen Rausch versetzte. Nur wir, die wir in der königlichen Loge saßen, schienen davon unberührt zu sein.

Er hob sein Zepter und schoss violette Magie in Richtung Decke, was die Menge in eine weitere Welle von tosendem Applaus ausbrechen ließ. Die Magie löste sich in eine Wolkendecke auf, und dann regneten Traubenbündel auf das Publikum herab. Die Leute drängten sich aneinander vorbei und streckten sich nach oben, um die Trauben aufzufangen. Sie hielten die Trauben wie Trophäen über ihre Köpfe, bevor sie sie in ihre Münder steckten.

Eines der Bündel fiel mir direkt auf den Schoß. Es roch nach Obst und Alkohol.

Ich packte die Trauben am Stiel, hielt sie auf Abstand und rief meine Magie herbei. Blitze rauschten unter meiner Haut, und ich schoss sie in die Trauben. Binnen einer Sekunde lösten sie sich in Asche auf, die langsam auf den Boden rieselte.

Niemand hatte etwas davon mitbekommen. Feen und Halbblüter waren gleichermaßen damit beschäftigt, Trauben zu fangen. Wieder stieg Wut in mir auf. Meine Elektrizität wurde heißer und intensiver, während ich beobachtete, wie sie die Trauben schmatzend von den Reben abnagten. Wie Tiere.

Meine Trainer hatten mich gewarnt, dass die Spiele der Unterhaltung dienten. Sie hatten mich auch gewarnt, dass die Wettbewerbe manipuliert wurden. Aber sie hatten mir nicht gesagt, dass unsere blutigen Kämpfe auf Leben und Tod zu einer regelrechten Party ausarten würden.

Die Trauben fielen immer schneller und schneller. Ich konnte es nicht länger mitansehen.

Ich stand auf, hob meine Hände und ließ Blitze auf die Trauben vor der königlichen Loge niedergehen. Einer nach dem anderen schlug auf sie ein, als wäre ich eine Jägerin und die Trauben meine Beute. Ich machte nicht einmal eine Pause, um zu atmen. Meine Blitze kamen immer wieder, weiter angetrieben von jeder Traube, die ich pulverisierte. Die schiere Kraft meiner Magie war berauschend.

Ich zählte nicht, wie viele Weintrauben ich in Asche verwandelte. Und hielt erst inne, als ich bemerkte, dass es in der Arena still geworden war.

Bacchus senkte sein Zepter, seine violette Magie verschwand, und die Trauben hörten auf zu fallen. Er starrte mich mit seinen blutrünstigen Augen an, genau wie seine Panther. Die anderen Spieler hatten sich ebenfalls umgedreht und beobachteten mich. Die meisten von ihnen schienen sich über das Spektakel zu amüsieren. Julian, Cassia und Bridget aber wirkten entsetzt.

Ich setzte mich langsam wieder hin. Die Elektrizität, die mich durchströmt hatte, verpuffte. Wie bei dem Vorfall mit den Kugeln hatte meine Magie die Kontrolle über meinen Körper übernommen. Sie hatte ihren eigenen Willen. Und es war ihr egal, ob sie die Regeln der Spiele brach.

Mein Herz pochte. Ich schaute zu Bacchus und hielt mich ängstlich an den Armlehnen meines Throns fest. Gleich würde er Juno herbeirufen, damit sie über meine Strafe entschied.

Stattdessen warf er den Kopf zurück und lachte wie wild. „Jupiters auserwählte Kämpferin ist offenbar scharf darauf, im Rampenlicht zu stehen“, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte. „Das ist nicht fair gegenüber den Auserwählten, die heute um ihr Leben kämpfen, oder?“

Eine der Feen hob eine Traube in die Luft und stimmte einen Singsang an.

Kämpft! Kämpft! Kämpft!

Die anderen Zuschauer schlossen sich ihr an und wiederholten das Wort immer und immer wieder.

Bacchus drehte sich in seinem Wagen und grinste zufrieden, während der fiebrige Gesang so laut wurde, dass man ihn wahrscheinlich in der Nachbarstadt hören konnte.

Mein Verhalten wurde gefeiert – nicht verurteilt.

Verwirrt erinnerte ich mich an die Regel, die ich gebrochen hatte, als ich die Kugeln zerstört hatte.

Jeder Spieler, der Gegenstände angreift oder zerstört, die von den Göttern für die Feenspiele geschaffen wurden, wird bestraft.

Plötzlich verstand ich. Anders als die Kugeln waren die Trauben nicht für die Feenspiele geschaffen worden. Sie waren geschaffen worden, um während der Spiele für Vergnügen zu sorgen.

Ich hatte den Lauf der Spiele nicht beeinträchtigt. Ich hatte keine Regeln gebrochen. Zwar hatte ich gezeigt, dass ich meine Magie nicht unter Kontrolle hatte, was mich wahrscheinlich noch mehr ins Visier der anderen Spieler rücken würde. Aber eine Strafe musste ich nicht fürchten.

Bacchus’ Augen tanzten vor Vergnügen, und er hob wieder sein Zepter in die Luft.

Die plötzliche Stille in der Menge war noch ohrenbetäubender als die Sprechchöre zuvor. Inzwischen war ich fest davon überzeugt, dass Bacchus die Emotionen der Zuschauer magisch beeinflusste. Es gab keine andere Erklärung dafür, welch gruseligen Einfluss er auf sie hatte.

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, sein Grinsen wurde animalischer, wilder. „Ihr seid alle für einen Kampf hier“, sagte er, und das Publikum jubelte ihm zu. „Also ist es an der Zeit, dass ich euch einen Kampf gebe!“

Er schwang sein Zepter erneut in die Luft. Drei weit voneinander entfernte Türen am Boden der Arena glitten nach unten und ließen noch mehr Wasser in ihr Inneres fließen.

Drei Personen in goldenen Gladiatorenkostümen kamen auf winzigen Ruderbooten hinaus – eines aus jeder Tür.

Molly, Emmet und Octavia.