– Selena –
I ch hatte das Kolosseum für das größte Bauwerk aller Zeiten gehalten … bis ich im Circus Maximus angekommen war. Diese Arena sah aus, als hätte jemand das Kolosseum in die Länge gezogen, sodass das Innere die Form eines langen Ovals bildete. Das Feld in der Mitte war in zwei Bahnen aufgeteilt, die zu überdimensionierten Marmorstatuen führten, jeweils zehn Stück an der Zahl. Am anderen Ende der Bahnen befand sich je eine Bronzescheibe, so groß wie eine große Pizza.
Das Feld war von unzähligen Sitzen umgeben. Es waren gut fünfmal so viele Plätze wie im Kolosseum. Und sie waren vollbesetzt. Die Feen und Halbblüter wirkten vergnügt und gesprächig, während sie sich über ihre Getränke und Snacks hermachten. Die Stimmung war entspannter als während des blutigen Kampfes im Kolosseum.
Wieder wurden die anderen Spieler und ich in eine spezielle Loge geführt, die für die Auserwählten reserviert war. Bis auf mich trugen alle ihre Kampfausrüstung. Da ich die scheidende Kaiserin der Villa was, musste ich an diesem Wettbewerb nicht teilnehmen. Deshalb trug ich ein schickes Gewand und den goldenen Kranz auf dem Kopf.
Sorcha hatte sich uns diesmal nicht angeschlossen. Offenbar beehrte sie das Reich nur während der Kämpfe auf Leben und Tod mit ihrem Beisein. Ich suchte die ersten Reihen ab, wo die königlichen Feen saßen. Aber auch von Prinz Devyn fehlte jede Spur.
Alle Augen waren auf uns gerichtet, als wir eintraten, und ich setzte mich wie betäubt auf den Thron. So fühlte ich mich, seit ich gestern hatte mitansehen müssen, wie Octavia und Emmet Molly ermordet hatten.
Betäubt.
Mollys letzte Momente spielten sich in meinem Kopf immer wieder aufs Neue ab. Ich musste sie immer wieder vor meinem inneren Auge sehen, während ich mich in einer Schleife von tausenden Theorien darüber verlor, was ich alles hätte anders machen können, um ihren Tod zu verhindern. Es gab Vieles , was ich hätte tun können. Ich hatte meine Woche als Kaiserin der Villa gründlich vermasselt.
Plötzlich tauchte Bacchus in einem Lichtblitz auf und riss mich zurück in die Gegenwart.
Er drehte mit seinem Wagen einige Runden um den Circus Maximus. Mit seiner leuchtend violetten Toga und seinem breiten Grinsen war er zu seiner Rolle als ‚fröhlicher Bacchus‘ zurückgekehrt – im Gegensatz zu dem ‚dunklen Bacchus‘ aus dem Kolosseum.
Die Menge jubelte, und es war ein heiterer, fröhlicher Jubel. Ganz anders als die blutrünstigen Schreie von gestern.
Schließlich landete Bacchus mit seinem Wagen auf dem breiten Trennstreifen zwischen den Fahrbahnen. „Willkommen zum zweiten Wettbewerb um den Kaisertitel“, sagte er, und die Menge brach in Beifall aus. „Das war gestern ein spannender Kampf im Kolosseum, nicht wahr?“
Das Publikum jubelte noch lauter und würdigte den Kampf mit Zurufen und Pfiffen.
Ich ballte meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Nägel in die Handflächen gruben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob Bacchus sein Zepter und brachte die Menge zum Schweigen. „Nach zwei brutalen Wettkämpfen hintereinander dachten die anderen Götter und ich, es sei Zeit für etwas Unbeschwertes“, sagte er. „Diskuswerfen! Wie ihr sehen könnt, befinden sich am Ende jeder Bahn zehn Statuen. Statuen der falschen nordischen Götter.“
Bei der Erwähnung der nordischen Götter gab die Menge einen kollektiven Pfiff von sich.
Bacchus lächelte, erfreut über diese Reaktion. „In jeder Runde werden zwei Auserwählte gegeneinander antreten und ihre Diskusse auf die Statuen werfen“, sagte er. „Der erste, der alle zehn Statuen umwirft, gewinnt die Runde. Der Verlierer einer jeden Runde scheidet aus dem Wettbewerb aus.“
Er hielt inne und betrachtete die Menge. Es herrschte absolute Stille.
„Es gibt unsichtbare Begrenzungen um jede Bahn, damit die Auserwählten sich nicht gegenseitig behindern können“, sagte Bacchus. „Dies ist ein Einzelwettbewerb – es ist nicht erlaubt, sich gegenseitig anzugreifen. Und Magie einzusetzen, um die Statuen umzuwerfen, verstößt gegen die Regeln und führt zum Ausschluss aus dem Wettbewerb. Die Statuen müssen mit dem Diskus umgestoßen werden.“ Er sah uns alle an, die wir in der Loge saßen, und vergewisserte sich, dass wir verstanden hatten.
Das hatten wir.
„Die scheidende Kaiserin der Villa – Selena, die auserwählte Kämpferin des Jupiter – wird die ersten beiden Kämpfer auswählen, die gegeneinander antreten“, fuhr er fort. „Der Gewinner dieser Runde wählt aus, wen er oder sie als Nächstes gegeneinander antreten lassen will, und so weiter und so fort. Dies wird so lange fortgesetzt, bis nur noch einer übrigbleibt. Dieser Auserwählte wird für diese Woche zum Kaiser der Villa gekrönt.“
Wieder nahm er sich ein paar Sekunden Zeit, um die Menge zu betrachten. Die Zuschauer sahen interessiert aus, aber nicht ganz so aufgeregt wie bei den bisherigen Wettbewerben.
„Aber nur, weil dieser Wettbewerb nicht so gefährlich ist, heißt das nicht, dass er weniger unterhaltsam sein muss!“, rief Bacchus, und die Menge wurde sofort hellhörig. „Denn um dem Spektakel etwas Besonderes zu verleihen, habe ich eines meiner persönlichen Markenzeichen eingebracht.“
Er machte eine Bewegung mit der freien Hand, und ein Weinkelch erschien in ihr. Gleichzeitig erschienen am Ende jeder Bahn, einige Meter hinter den Diskusscheiben, zwei Podeste mit großen Weinkelchen darauf.
„Bevor jeder Auserwählte seinen Diskus in die Hand nehmen darf, muss er die gesamte Flüssigkeit in seinem Kelch trinken“, sagte er. „Und glaubt mir, dieser Wein ist nicht verdünnt. Er ist stark . Ihr könnt darauf wetten, dass sie ihn spüren werden – und nach jeder weiteren Runde etwas mehr.“ Er hob seinen Kelch zu einem Toast, und die Menge tobte. „Also, wer ist bereit, sich einen betrunkenen Diskuswurf-Wettbewerb anzusehen?!“
Erneut brach Jubel in der Menge aus. Viele von ihnen hoben ihre Weingläser und stießen miteinander an.
Meine Brust zog sich zusammen und mein Magen drehte sich vor Abscheu. Es war ihnen egal, dass am Ende der Woche ein weiterer Spieler tot sein würde. Für sie war das nur ein Spektakel. Sie sahen uns nicht als vollwertige Lebewesen. Sie sahen in uns nur Bauernopfer in einem Spiel, das ihrer Unterhaltung diente. Ich war auf ihrem Schachbrett gefangen. Die einzige Möglichkeit, zu entkommen, war zu gewinnen.
Bacchus schlug sein Zepter auf den Boden neben seinem Wagen, und alle konzentrierten sich auf ihn. „Selena, auserwählte Meisterin des Jupiter“, sagte er. „Wähle die beiden Auserwählten aus, die du zuerst gegeneinander antreten sehen willst.“
Ich schluckte und sah die anderen vor mir an. Die Wahl der ersten Gegner war eine wichtige Angelegenheit. Ich wollte keinen Fehler machen wie bei der Auswahl der Spieler, die ich in die Arena geschickt hatte.
Dass ich Octavia nehmen würde, verstand sich von selbst.
Was den zweiten Auserwählten anging … das war der schwierige Teil dieser Entscheidung. Ich wollte keinen meiner Verbündeten wählen, weil ich sicherstellen musste, dass sie möglichst gute Chancen auf den Kaiserkranz hatten. Und wenn sie in zu vielen Runden mitspielen mussten, würden sich ihre Chancen zusehends verschlechtern. Denn je mehr Wein sie tranken, desto unbeholfener würden sie.
Gleichzeitig wollte ich mich nicht für jemanden wie Emmet entscheiden, der mich gerade verraten hatte. Er hatte in der Arena mehr als deutlich gemacht, dass er nicht auf meiner Seite stand. Wahrscheinlich würde er zwei meiner Verbündeten in den Kampf schicken, wenn er die Runde gewann. Also stand er – und jeder andere, der mit Octavia zusammenarbeitete – außer Frage.
Ich brauchte jemand Neutrales. Jemanden, der unberechenbar war. Jemanden, dem ich zutraute, Octavia zu besiegen, der mir aber später nicht in den Rücken fallen würde, weil ich ihn für den ersten Kampf ausgewählt hatte.
„ Selena “, säuselte Bacchus. „Du lässt dir zu viel Zeit. Triff deine Entscheidung.“
„Ich wähle Octavia, die auserwählte Kämpferin des Neptun“, sagte ich, und Octavia verdrehte die Augen. Offenbar hatte sich damit gerechnet. „Als ihre Gegnerin wähle ich Antonia, die auserwählte Kämpferin des Apollo.“