KAPITEL 32

– Selena –

 

 

A m folgenden Tag ignorierte Julian mich. Bridget auch. Und die beiden ignorierten sich gegenseitig. Unser Viererbündnis war nun wohl offiziell aufgelöst. Zum Glück hatte ich noch Cassia.

„Felix war den ganzen Tag in Octavias Suite.“ Cassia runzelte die Stirn und starrte auf die Treppe. „Was machen die beiden denn da oben?“

Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was sie machten. Und ich wusste auch, dass Cassia wahrscheinlich nichts davon hören wollte.

„Du weißt, dass du nur wegen seiner Magie an ihn denkst“, sagte ich. „Richtig?“

„Ich weiß nicht.“ Sie presste die Lippen aufeinander, ihr Blick war besorgt. „Wir reden manchmal. Wir verstehen uns. Ich weiß, du glaubst mir nicht. Aber es ist wahr.“

Sie hatte recht. Ich glaubte ihr nicht. Denn wenn sie wirklich nicht unter dem Einfluss von Felix’ Magie stand, dann hätte sie sich bestimmt mehr Sorgen darüber gemacht, dass ich diese Woche in die Arena gehen würde, als darüber, dass Felix den Großteil seiner Zeit mit Octavia verbrachte. Zum Glück musste ich nichts mehr dazu sagen, denn sie hörte auf, von Felix zu reden. Offensichtlich wollte sie nicht wahrhaben, dass er seine Magie gegen sie einsetzte.

Ich wollte so gerne mit ihr darüber reden, was zwischen Julian und mir passierte. Aber Cassia war eine hoffnungslose Romantikerin. Ich wusste, was sie sagen würde.

‚Geh heute Abend zu Julian!‘

Ich wollte mich weder in die eine noch in die andere Richtung beeinflussen lassen. Also erzählte ich lieber nicht davon. Die Entscheidung lag bei mir, und bei mir allein. Leider war ich immer noch total hin- und hergerissen.

 

Ich hätte diese Nacht nicht schlafen können, selbst wenn ich es versucht hätte. Immerhin wusste ich, dass Julian im Hinterhof auf mich wartete.

Eine Zeit lang hielt ich durch. Aber irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen. Julian hatte gestern getan, was er versprochen hatte – er hatte mich dazu gebracht, auf Kommando Blitze zu erzeugen. Es wäre dumm von mir gewesen, seine Hilfe abzulehnen. Zumindest redete ich mir das ein, während ich mich aus meinem Zimmer schlich.

Er wartete genau dort, wo er es versprochen hatte, und er lächelte, als er mich entdeckte. Das sanfte Mondlicht schien auf sein perfekt geformtes Gesicht und sein dunkelblondes Haar. Er war viel verführerischer, als es ihm guttat. Nun, als es mir guttat.

„Ich wusste, dass du kommen würdest“, sagte er, als ich ihn erreicht hatte.

„Das bedeutet aber nicht, dass ich zugestimmt habe, diese Woche mit dir in der Arena zusammenzuarbeiten“, sagte ich, obwohl ich in meinem Herzen wusste, dass das eine Lüge war. „Aber ich möchte meine Magie besser einsetzen können.“

„Klug“, sagte er. „Das überrascht mich nicht.“

Ich legte spielerisch den Kopf schief. „Machst du mir gerade ein Kompliment – oder dir selbst?“

„Beides“, sagte er, und obwohl ich nicht zugeben wollte, dass ich unsere gemeinsame Zeit genoss , schenkte ich ihm ein kleines Lächeln. „Und jetzt lass uns an die Arbeit gehen.“

 

Ich war offiziell ein hoffnungsloser Fall.

„Komm schon“, drängte Julian. „Du bist meinetwegen in der Anderswelt. Du wirst wahrscheinlich meinetwegen sterben. Du hasst mich. Mach dir diesen Hass zunutze. Fühle ihn. Suhle dich in ihm.“

Ich versuchte es. Wirklich. Ich ließ jeden Moment, den ich mit Julian verbracht hatte, noch einmal Revue passieren – angefangen damit, wie ich ihn zum ersten Mal am Ende von Torrence’ Einfahrt gesehen hatte. Ich versuchte, jeden Moment zu nutzen, weil ich bei jedem dachte, er würde mich wütender machen als die anderen.

Wie er mich geküsst hatte, obwohl sein Interesse nur gespielt gewesen war.

Wie er mich durch das Portal gezogen hatte.

Wie er mit der Tasche voller Geld weggelaufen war.

Die Erinnerungen taten weh. Und ja, sie machten mich wütend. Sie ließen Funken in mir auflodern und Strom über meine Haut zucken. Aber ich brachte keine Blitze zustande.

Denn ich war nicht mehr so wütend wie vor seiner Entschuldigung gestern Abend. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war er immer nett zu mir gewesen, seit wir für die Feenspiele auserwählt worden waren. Und ich war wirklich dankbar dafür, dass er seine Zeit damit verbrachte, mir zu helfen, obwohl er sich für die Arena hätte ausruhen sollen. Nicht, dass ich ihm jemals die Genugtuung geben würde, das alles zuzugeben.

Drei Stunden später war ich verschwitzt und kraftlos. Ich ließ enttäuscht meine Arme hängen. „Das wird nichts“, sagte ich und griff nach der Wasserflasche, die Julian glücklicherweise mitgebracht hatte. „Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen und es morgen noch einmal versuchen.“

„Wir haben nur noch diese und die nächste Nacht vor dem Kampf“, sagte er.

„Ich weiß, ich weiß.“ Ich setzte mich auf den Boden, zu müde, um zu stehen.

Er setzte sich direkt neben mich. Einige Sekunden lang saßen wir schweigend da. Obwohl ich mich ausgebrannt fühlte, weil ich so viel Elektrizität in meinen Körper gesammelt hatte, ließ seine Nähe die Funken wieder aufflackern.

Ich konnte meinem Körper in seiner Nähe einfach nicht trauen. Ich zog meine Beine an die Brust und schlang meine Arme um sie, als ob ich so die Flammen in mir löschen könnte. Es klappte nicht.

„Ist das wirklich okay für dich?“, fragte ich schließlich, um das Schweigen irgendwie zu brechen.

„Ist was okay?“

„Die Tatsache, dass Bridget höchstwahrscheinlich am Freitag sterben wird.“ Ich konnte es kaum aussprechen. Ich konnte mich kaum dazu durchringen, es zu denken . Aber ich konnte es genauso wenig ignorieren.

„Natürlich bin ich nicht damit einverstanden.“ Er drehte sich um und sah mir direkt in die Augen. „Vor allem, weil ich derjenige sein werde, der es tut.“

„Wir werden zusammenarbeiten“, sagte ich. „Wir tragen die Verantwortung also gemeinsam .“

„Aber ich versetze ihr den letzten Schlag.“

Ich öffnete meinen Mund, um zu protestieren, aber es kamen keine Worte heraus. Denn ich wusste: Wenn es soweit wäre, würde ich nicht dazu in der Lage sein.

„Ich werde es so schnell und schmerzlos wie möglich machen“, sagte er. „Sie wird weg sein, bevor sie überhaupt weiß, was passiert ist.“

Das hätten mich nicht trösten sollen. Aber irgendwie tat es das.

Ich sagte nichts. Was gab es schon zu sagen? Stattdessen saß ich einfach nur da, unfähig, meinen Blick von seinen leuchtenden Augen abzuwenden.

Ich sah ihm an, dass ihn die Entscheidung, Bridget zu töten, innerlich zerriss. Sein Kampf wirbelte in mir herum, als wäre es mein eigener. Und als mein Ellbogen ungewollt seinen berührte, durchströmte eine wohlige Wärme meinen ganzen Körper.

Er bewegte sich nicht weg. Und ich auch nicht.

Mein Blick wanderte wie von alleine zu seinen Lippen.

Vielleicht gibt es nichts, was ich sagen kann, um die Situation besser zu machen , dachte ich. Aber es gibt etwas, das ich tun kann …

Mein Atem wurde langsamer. Seiner ebenfalls. Es war, als wären wir beide in Trance. Ich bewegte mich weiter vorwärts … und auf einmal berührten meine Lippen leicht seine.

Er hielt die Luft an, und ich machte mir Sorgen, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Aber dann legte er seinen Arm um meinen Rücken und zog mich auf seinen Schoß. Seine Zunge teilte meine Lippen und traf auf meine.

Ich stieß ein leises Stöhnen aus, sank in ihn hinein und erwiderte seinen Kuss mit allem, was ich hatte. Unsere Körper passten perfekt zueinander. Er war warm und liebevoll, und in seinen Armen wurde mein Verstand zu Brei. Es gab keine Zauberübungen mehr, keine Feenspiele und keinen Arenakampf, um den ich mich sorgen musste. Es gab nur Julian und die Sicherheit, dass sich in diesem Moment alles richtig anfühlte.

Meine Hände wollten jeden Zentimeter seines Körpers erkunden. Die weiche Haut seiner Wangen, seine perfekt geformte Brust und seine harten, definierten Bauchmuskeln. Seine Hände verhedderten sich in meinem Haar, lösten ein warmes Kribbeln in meinem Bauch aus und machten Lust auf … mehr .

Der Kuss wurde intensiver, und wir bewegten uns wie im Tanz, bis ich irgendwie auf dem Boden lag und er auf mir. Jeder Zentimeter meiner Haut kribbelte vor Erregung. Instinktiv ließ ich meine Hand weiter sinken, bis sie knapp über seiner Hüfte war – an derselben Stelle wie mein Kleeblatt-Muttermal.

Er zuckte schlagartig zusammen und rollte sich von mir herunter. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Was auch immer er ein paar Sekunden zuvor gefühlt hatte – wenn er überhaupt etwas gefühlt hatte – es war verschwunden.

Plötzlich war mir eiskalt. Ich setzte mich auf. Wie konnte er in einem Moment so nah und im nächsten so weit weg sein? Hatte er auch gefühlt, was ich gefühlt hatte? Oder war ich für ihn nur irgendein beliebiges Mädchen, das sich ihm an den Hals warf und seine Instinkte zum Vorschein brachte?

Die Vorstellung – und die kalte Art, mit der er mich ansah – ließ mich beschämt den Kopf senken.

„Wir sollten zurückgehen und etwas schlafen“, sagte er kalt. „Wir sind beide müde, und du hast dich verausgabt. Wir werden morgen Abend weiterüben, wenn wir wieder klar denken können.“

Er stand auf und reichte mir nicht die Hand, um mir aufzuhelfen. Es war, als ob ihn der bloße Gedanke, mich zu berühren, auf einmal anwiderte.

Ich stieß mich vom Boden ab und wischte mir den Schmutz von der Rückseite meines lächerlich knappen Kampfanzugs. Dann zupfte ich wortlos an meinem Rock herum, denn ich wollte genauso ungerührt wirken wie er.

Auf dem Weg zur Villa sagte keiner von uns auch nur ein einziges Wort. Er achtete darauf, ein paar Schritte vor mir zu gehen. Wieder stiegen heiße Funken in mir auf. Nicht aus Wut, und schon gar nicht aus Freude.

Diesmal war es die tiefe Scham, abgewiesen worden zu sein.