– Selena –
D as Abendessen am Ende des nächsten Tages verlief genauso wie jedes andere, seit Octavia Kaiserin der Villa geworden war. Es wurde ganz von Octavia und ihren Anhängern beherrscht.
Es war eine Linie in den Sand gezogen worden, und sie war geradezu sichtbar , als wir alle am Esstisch saßen. Octavia saß am Kopfende des Tisches, umgeben von ihrem Team: Pierce, Emmet, Antonia und Felix.
Julian, Cassia, Bridget und ich saßen am anderen Ende. Keiner von uns sprach während des Essens wirklich miteinander. Cassia versuchte es ein paarmal, vergeblich.
Cillian saß buchstäblich zwischen den Stühlen. Niemand wusste, wo er hingehörte.
„Ich habe ein Geheimnis“, raunte Pierce, als die Desserts erschienen, und lenkte damit die Aufmerksamkeit dorthin, wo er sie am liebsten hatte – auf ihn selbst. „Und ich denke, jeder an diesem Tisch wird interessiert daran sein, es zu erfahren.“
Die Kugeln schwirrten augenblicklich zu ihm hinüber. Er grinste.
Was für eine Rampensau. Er war genauso schlimm wie Emmet.
Pierce rieb seine Hände aneinander, während er uns nacheinander die Augen sah. Auch den Kugeln schenkte er ein wissendes Lächeln.
Er holte tief Luft, schaute mich an und sagte: „Selena kann nicht nach Belieben Blitze erzeugen.“
Octavia kicherte am Kopfende des Tisches.
„Das ist nicht wahr“, log ich.
„Es ist wahr“, beharrte Pierce. „Jemand hat dich gestern Abend beim Üben gesehen. Eine vertrauenswürdige Quelle. Die Person hat gesehen, wie du versucht hast, Blitze zu erzeugen und dabei gescheitert bist – immer wieder. Du schaffst es einfach nicht, deine Magie zu kontrollieren.“
Ich sah mich nach allen um, die am Tisch saßen. Wer könnte mir und Julian nachspioniert haben? Niemand begegnete meinem Blick. Nicht einmal Julian.
Hat Julian mich an Pierce verraten?
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich wollte es nicht glauben – auch wenn mir keine andere Erklärung einfiel.
„Ich kann Blitze erzeugen.“ Hitze schoss durch meine Adern, und ich hielt Pierce’ hochmütigem Blick stand. „Jeder an diesem Tisch – nein, jeder, der die Spiele verfolgt – hat gesehen, wie ich Blitze erschaffen habe. Hast du unsere Zaubervorführung schon vergessen? Oder den Arenakampf, bei dem Molly ermordet wurde?“ Wut stieg in mir auf, und ich stützte meine Hände auf die Tischplatte. „Den Wettbewerb um den Kaisertitel vor ein paar Tagen?“
„Ich erinnere mich an alles“, sagte Pierce. „Du hast diese Blitze nicht nach Belieben erzeugt. Sie schossen einfach aus dir heraus, wild und unkontrolliert. Du bist unkontrolliert.“
Octavia lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah mich amüsiert an. „Deshalb habe ich dich ausgewählt, diese Woche in die Arena zu gehen“, sagte sie. „Du bist gefährlich.“ Sie starrte alle, die um den Tisch herumsaßen, der Reihe nach an. „Wer nicht erkennt, wie gefährlich sie ist, ist ein Idiot und verdient es, als nächster in die Arena zu gehen.“
Elektrizität durchflutete meinen Körper. Mir wurde schwindelig – alles, was ich sah, waren helle, weiße Blitze, vermischt mit blauer Magie.
Eine Sekunde später ließ das grelle Licht nach.
Der Tisch – samt allem, was darauf gestanden hatte – war verschwunden. Alles, was übrig war, war ein Haufen Asche auf dem kunstvoll gewobenen Teppich.
Alle blieben auf ihren Plätzen sitzen. Einige der Auserwählten hielten immer noch ihr Essbesteck in den Händen. Sie sahen mich schockiert an, und die Kugeln flogen aufgeregt um mich herum.
„Das wollte ich nicht“, murmelte ich und sah zu, wie die Asche magisch aufstieg und sich wieder zum Tisch formte. Wenige Augenblicke später war alles wieder so wie vorher. Sogar das Essen und die Getränke waren wieder da.
„Genau“, sagte Octavia. „Du wolltest es nicht. Das ist das Problem.“
Pierce sah Bridget an, dann Julian. „Wenn ihr beide wisst, was gut für euch ist, tut ihr euch morgen zusammen und schaltet Selena so schnell wie möglich aus“, sagte er. „Macht euch wieder beliebt bei den anderen in der Villa. Wir schulden euch auf jeden Fall etwas, wenn ihr diese Sache durchzieht. Zumindest für eine oder zwei Wochen.“
Hitze durchflutete mich und stieg mir direkt in die Wangen. Ich stand auf und schlug mit den Händen auf den Tisch. Er bebte so stark, dass die leichteren Gegenstände aufsprangen und manche von ihnen hinunterfielen.
„Ich weiß nicht, wer deine ‚Quelle‘ ist“, sagte ich und richtete meinen Blick auf Pierce. „Aber er oder sie hat nicht alles gesehen, was letzte Nacht passiert ist.“
Das war eine Untertreibung.
Denn wer auch immer diese Quelle war – er oder sie hatte nicht erwähnt, dass ich nicht allein geübt hatte. Ich schaute mich misstrauisch um.
Was führt diese Quelle im Schilde?
Octavia hob eine Augenbraue. „Willst du auf Schnitzeljagd gehen?“, fragte sie ruhig, als wäre es ihr egal, ob ich den Verräter fand oder nicht.
„Das hättest du wohl gern.“ Ich richtete mich auf und warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. „Aber wer auch immer zu Pierce gegangen ist, ich hoffe, du kommst heute Abend zu mir.“ Ich sprach langsamer und intensiver, und ich achtete darauf, allen am Tisch in die Augen zu sehen.
Keiner von ihnen schaute weg. Jeder von ihnen konnte Pierce’ Quelle sein.
Und ich wollte wissen, warum diese Quelle nicht erwähnt hatte, dass ich mit Julian trainierte.
„Du wirst feststellen, dass ich erstaunlich gut zuhören kann“, sagte ich und warf meine Serviette auf den Tisch. „Weil ich lieber von vorne erstochen werde als von hinten.“