KAPITEL 36

– Selena –

 

 

A m Morgen des Arenakampfes befand sich nur ein einziger Gegenstand in meinem Kleiderschrank: Ein glitzerndes Gladiatoren-Outfit. Es war dasselbe Modell, das Octavia und Molly letzte Woche getragen hatten.

Julian sah in seinem Gladiatoren-Outfit, das seine Brust freiließ, so gefährlich aus wie immer. Definierte, schlanke Muskeln bedeckten jeden Zentimeter seines Körpers. Sein goldener Lendenschurz saß knapp unterhalb seiner Hüftknochen, sodass nur sein Po vollständig bedeckt war. Hätte er nur ein oder zwei Zentimeter tiefer gehangen, hätte ich mir ein für alle Mal sicher sein können, dass er nicht mein Seelenverwandter war.

Während der Kutschfahrt zur Arena sah Bridget weder Julian noch mich an. Da ich wusste, was gleich passieren würde, konnte ich sie ebenfalls nicht ansehen. Bridget hatte uns die ganze Woche über gemieden, und das war mehr als seltsam. Die Auserwählten, die für die Arena ausgewählt wurden, bemühten sich normalerweise um ein persönliches Gespräch, um einen Deal zu machen. Ich wusste, dass Bridget nicht zu mir gekommen war, und Julian sagte, dass sie auch nicht zu ihm gekommen wäre. Ich glaubte ihm. Ihr Verhalten war verdächtig, und in ihrer Nähe zu sein, machte mich nervös.

Was hat sie vor?

Wir hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zur Hauptstadt zurückgelegt, als sich die Kutschfahrt bereits unerträglich lang anfühlte. „Können sich die Feen nicht teleportieren?“, murmelte ich und blickte auf die endlosen grünen Hügel unter uns.

„Im Prinzip können sie das“, sagte Julian. „Aber das Teleportieren wurde zu Zeiten von Königin Gloriana in der Anderswelt verboten. Über dem gesamten Reich liegt ein Bann, der sogar die Kaiserin persönlich am Teleportieren hindert.“

„Warum?“, fragte ich.

„Wir lieben die Natur“, sagte Bridget schnell. „Das Reisen lässt uns in eine Welt eintauchen, die wir sonst vielleicht nie gesehen hätten.“

„Ich verstehe.“ Ich versuchte, keine große Sache daraus zu machen, dass sie gerade das erste Mal seit einer Woche mit mir gesprochen hatte. „Aber was ist, wenn etwas schnell erledigt werden muss?“

„Der Bann wurde von Vollblütern ausgesprochen, nicht von Halbblütern.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Für Unsterbliche vergeht die Zeit anders. Was für uns ein Jahr ist, ist für sie wie ein Tag. Es gibt keinen Grund, sich zu hetzen, wenn man Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende vor sich hat.“

Beim Thema Unsterblichkeit verfinsterten sich ihre grauen Augen.

Die Erinnerung daran, dass ihre Stunden in unserer Welt wahrscheinlich gezählt waren, bereitete mir Gänsehaut.

„Warum hast du uns die ganze Woche gemieden?“ Nun, wo das Gespräch eröffnet war, traute ich mich zu fragen.

„Als Octavia Kaiserin der Villa wurde, habe ich einige Visionen erhalten“, sagte sie. „Visionen, die über den Rahmen der Spiele hinausgehen.“

„Wie meinst du das?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“ Sie schüttelte den Kopf und sah dabei tieftraurig aus. „Aber es gibt eine bestimmte Art und Weise, wie der Kampf heute verlaufen muss. Ich habe einige Zeit allein verbracht, um mich damit abzufinden.“ Sie wandte sich ab und machte deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte.

Den Rest des Weges schwiegen wir. Als wir ankamen, bog der Fahrer in die entgegengesetzte Richtung der Kutschen ab, die die anderen Auserwählten zur königlichen Loge brachten. Wir flogen zu einer bescheidenen Behausung neben dem Kolosseum.

Das Tor öffnete sich, und es stellte sich heraus, dass es gar kein Haus war, sondern eine Eingangsrampe, die in einen unterirdischen Tunnel führte. Die Wände des Tunnels waren mit etwas beleuchtet, das mich an glitzernde Weihnachtsdekoration erinnerte. Der Weg wurde schließlich breiter und führte in einen Bereich mit gewölbten Gängen, der das Untergeschoss des Kolosseums zu bilden schien. Die Wände und der Boden waren kahl, und es gab nirgendwo natürliches Licht.

Meine Brust zog sich zusammen, und ich hielt mich an der Armlehne meines Sitzes fest, um mich zu beruhigen. „Wir sind unter der Kampfgrube“, sagte ich. „Stimmt’s?“

„Ja.“ Julian wirkte angespannt. „Das sind wir.“

Während wir den Weg entlangrollten, kamen wir an Käfigen mit Löwen und Tigern vorbei. Sie knurrten, als unser geflügeltes Pferd sie passierte, und leckten sich die Lippen, als wollten sie die prächtige Kreatur zum Frühstück verspeisen.

Werden sie heute mit uns in die Arena geschickt? Ich starrte in die leeren, hungrigen Augen eines Löwen, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Gott, ich hoffe nicht.

Als wir schließlich anhielten, waren wir ungefähr im Zentrum der Arena. Die Kutsche kam vor drei Halbblutmännern zum Stehen, die in einer Reihe stramm standen. Der Mann in der Mitte trat vor und öffnete die Kutschentür für uns.

„Jeder von euch wird mit einem von uns mitkommen“, wies er uns an, ohne irgendeinem von uns in die Augen zu sehen. „Wir werden euch an verschiedene Orte bringen und euch auf euren Eintritt in die Arena vorbereiten.“

Bridget stieg als Erste aus, erhobenen Hauptes. Sobald ihre Füße den Boden berührten, machte sich einer der Männer daran, sie abzuführen.

Das nächste Halbblut trat vor und sah mich abwartend an.

Das war’s . Eisige Angst ließ meine Knochen gefrieren. Ich wollte diesem seltsamen Mann nicht in die Tiefen dieses kalten Kellers folgen. Ich wollte zurück nach Hause, nach Avalon. Ich konnte die tropische Luft förmlich riechen, als ich mir die üppige Insel vorstellte, die einst mein Gefängnis gewesen war und die sich nun wie ein unerreichbares Paradies anfühlte.

Plötzlich streiften Julians warme Finger meinen Unterarm und holten mich zurück in die Realität. „Es wird alles gut“, murmelte er in mein Ohr. „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Ich verspreche es.“

Ich nickte. Julian war stark. Unter allen Auserwählten war er der geschickteste Kämpfer. Er würde mich beschützen. Und wenn der Kampf nicht wie geplant verlief … Unter meiner Haut flammte Elektrizität auf, wie ein beruhigendes Sicherheitsnetz. Ich bewegte meine Finger, die Magie schwirrte durch mich hindurch.

Ich habe die Macht, mich zu schützen.

Ich warf einen letzten Blick in Julians liebevolle blaue Augen, bevor ich aus der Kutsche stieg. Kaum hatten meine Füße den Boden berührt, ergriff der Halbblutdiener meine Hand und zog mich in die Dunkelheit.

 

Ich musste mich beherrschen, um das Halbblut nicht an Ort und Stelle zu grillen, während es mich durch den feuchten Steinflur trieb. Meine Elektrizität war explosiv.

Ein Verstoß gegen die Regeln bedeutet den sofortigen Tod , das sagte ich mir immer und immer wieder. Wenn ich bei den Spielen sterben sollte, dann durch die Hand eines der anderen Auserwählten. Nicht, weil ich die Regeln gebrochen und mich selbst eliminiert hatte.

Wir bogen um eine Ecke und liefen geradewegs auf einen hohen, schmalen Käfig am Ende des Ganges zu. Das Halbblut stieß mich eilig hinein und verschloss die Tür. Ich fiel mit einem dumpfen Schlag auf den harten Boden des Käfigs. Die Angst saß mir im Nacken, als ich aufstand, die kalten Metallstangen umklammerte und so heftig rüttelte, wie ich konnte. Sie rührten sich nicht.

In meiner Brust breitete sich Panik aus, mein Atem wurde flach und meine Augen rasten nervös umher. Ich war genau wie die Tiere, die ich vorhin gesehen hatte, gefangen in einem Käfig. Aber mein Käfig war nicht nur dieser physische Käfig, der mich umgab. Es war die gesamte Anderswelt selbst.

„Dieses Metall wurde von Vulkan geschmiedet“, sagte das Halbblut beiläufig. „Er ist der Einzige, der stark genug ist, es aufzubrechen.“

Das hielt mich nicht davon ab, mit aller Kraft an den Stangen zu rütteln – und zu scheitern. Ich schrie und jagte meine Elektrizität hinein, aber außer einem dumpfen Lichtblitz passierte nichts. Also ließ ich meine Arme wieder fallen. Jetzt Energie zu verbrauchen, war dumm und leichtsinnig. Ich musste stark sein für den bevorstehenden Kampf.

„Ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist“, sagte das Halbblut.

„Warum?“, fragte ich. „Bist du auf meiner Seite?“

„Der Bann, den Juno uns während der Spiele auferlegt, verbietet mir, dir meine Meinung zu sagen – oder irgendetwas, was dir helfen könnte“, sagte er. „Aber als Jupiters erste auserwählte Kämpferin bist du durchaus faszinierend. Und ich weiß, dass du heute nicht sterben willst.“

„Du bist also auf meiner Seite.“

„Ich kann weder das eine noch das andere sagen.“

Doch seine schelmischen indigoblauen Augen sagten mir etwas anderes. Die Feen waren gut darin, zwei Dinge auf einmal zu sagen. Er wollte, dass ich gewann.

„Du bleibst hier, bis Bacchus so weit ist“, sagte er, plötzlich wieder ernst.

„Wohin soll ich gehen, wenn er bereit ist?“, fragte ich.

„Du wirst in die Arena gebracht. Und dann werdet ihr kämpfen.“