7. Stark oder schwach, Babygirl
(Femme like U – Monaldin, Emma Peters)
Rayen
Du bist in meinem Poolhaus, Babygirl.
Du bist in meinem Revier, auf meinem Territorium, umgeben von meinen Leuten. Ich beobachte dich, während ich an der Bar stehe und nach mehr Wodka suche.
Obwohl du nicht diesen Kreisen angehörst, vor allem, weil du keine Markenkleidung trägst, kein aufwändiges Make-up und keine Heels, sondern flache, halbhohe Chucks zu deinem Rock, bist du die Schönste hier.
Dein Anblick, als du vorhin den Raum so unerwartet betreten hast, hat mich fast gekillt. Du killst mich. Jedes Mal, wenn du mit deinen strahlend hellgrünen Augen in meine Richtung siehst. Jedes Mal, wenn du dir durch das lange dunkle Haar streichst oder deine wohlgeformten Beine überschlägst. Jedes Mal, wenn deine Grübchen erscheinen, weil du lachst. Und jedes Mal, wenn du verstohlen in meine Richtung schaust.
Am liebsten würde ich allen hier zeigen, wem du gehörst. Ach, was sage ich da? Wenn du mit mir zusammen wärst, wären wir jetzt nicht hier in diesem viel zu heißen Häuschen am Pool, in dem sich jedes Wochenende alle nur zu übertrumpfen versuchen. Wer hat das neuere Auto? Welcher Dad ist der mächtigere? Wessen Rolex glänzt am meisten? Welche Tussi trägt das zweite Mal in Folge dasselbe Kleid, und welche das teuerste? Welcher Körper ist heißer, welcher Schwanz größer? Welche Titten echt und welche gemacht? Wer ist am beliebtesten und wer stellt das letzte Glied der Kette dar?
Ich weiß nicht, wo ich jetzt mit dir wäre, aber sicher nicht hier, Baby, denn das ist ganz klar unter deiner Würde. Du hast mich wieder mal überrumpelt. Immerhin habe ich nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.
Da hat mein Bruder ganze Arbeit geleistet und mich überrascht. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre entspannt. In mir ist alles verkrampft, denn dass Rowan Derek den Rayen vorgespielt und euch hierher eingeladen hat, bedeutet, dass er etwas weiß oder wenigstens ahnt. Ich bin mir nicht sicher, ob er nur von den Kämpfen weiß oder auch von unserer Affäre. Aber mir ist klar, dass ich jetzt vorsichtig vorgehen muss. Ich bin wirklich sauer auf ihn. Er treibt es langsam zu weit, und wenn er dir auch nur ein Haar krümmt, hat er das letzte Mal jemanden angepisst. Vor allem aber mich.
Derek hätte auch allein kommen können, denn meistens lässt er dich zu Hause, wenn er unterwegs ist. Aber natürlich hat er dich diesmal dabei.
Ich bin emotional sehr intelligent, Scarlett. Ich verstehe schon, was das soll.
Du hast mich bereits darauf hingewiesen, dass Derek Verdacht schöpft. Deswegen waren wir in den letzten Wochen extrem vorsichtig und konnten uns kaum sehen. Jetzt testet er dich, nicht wahr? Er testet dich, wie Rowan mich testet.
Er wagt es, sich das Recht herauszunehmen, dich zu testen.
Mit einer Kugel in seinem Hinterkopf wäre dieses Problem schnell gelöst, allerdings kann ich das nicht machen. Derek hat mir nichts getan, er hat dir
nichts getan. Er ist kein schlechter Mensch. Er war für mich da, als es mir wirklich beschissen ging, und hat mir durch das Boxen einen Weg gezeigt, klarzukommen.
Völlig vorbehaltlos hat er mich in seine kleine Familie aufgenommen. Zudem gibt es einen Ehrenkodex unter Männern, der besagt, dass man die Frau seines Kumpels nicht anfassen darf. Aber bei dir konnte ich nicht anders. Ich bereue es auch nicht. Allerdings verstehe ich Derek, also lasse ich ihm seine kleinen Tests, wenn er sich dadurch besser fühlt.
Ich werde nicht von dir lassen.
Und ich hoffe für ihn, dass er das mit uns nicht rausfindet, denn er wird der Einzige sein, dem diese Erkenntnis Schmerzen zufügen wird. Je nachdem, wie er darauf reagiert, könnte es hässlich für ihn enden. Das will ich natürlich vermeiden, Scarlett. Also hoffe ich wirklich, dass er uns nicht in diese Lage bringt.
Jetzt bist du allerdings hier, in der Höhle des Löwen. Das heißt, in Rowans Höhle. Er ist der Löwe und er hat auch schon die Witterung aufgenommen.
Ich will nicht, dass er eine Verbindung zwischen uns beiden herstellt.
Ich will nicht, dass er dich als Bedrohung sieht.
Ich will nicht, dass er dir antut, was er Chiara angetan hat.
Ich will auch nicht, dass es hässlich für Rowan wird.
Vor nicht allzu vielen Tagen habe ich herausgefunden, dass du die Frau bist, für die ich alles und jeden aus dem Weg räumen würde. Sogar diejenigen, die ich am meisten liebe. Ich würde so vieles für dich tun. Das habe ich erst auf diesem Parkplatz begriffen, auf dem du belästigt wurdest.
Ich weiß, dass du noch nie einen Menschen sterben sehen hast und doch hat sich dein Blick danach nicht verändert. In der Sekunde, in der du zu mir hochgesehen hast, ist mir klar geworden, dass du es bist. Du bist die Eine, die alles andere, was ich bis jetzt hatte, in den Schatten stellt. Die Eine, mit der ich mir alles vorstellen könnte. Von gemeinsamen Essen mit meiner Familie, bis hin zu irren Streitereien in irgendwelchen ramschigen Bars. Große Veranstaltungen, bei denen du ein Abendkleid trägst, das ich dir später vom Körper fetze, und sogar nackt mit dir im See schwimmen, wenn wir in heißen Sommernächten nicht schlafen können. Du bist die Frau, mit der ich mir all das vorstellen kann und mit der ich all das niemals haben darf.
Ich habe mir das eingestanden. Ich habe mich fallen lassen. Und wenn ich falle, pralle ich nicht auf. Ich falle und falle, stürze mich in die Tiefe. Ich bin in deine Tiefen gestürzt und jetzt will. Ich. Alles. Von. Dir.
Ich bin direkt in dein gleißendes Licht gefallen und nun sehe ich nichts anderes mehr.
Nichts mehr außer dir.
Ich will dich, und obwohl ich weiß, dass es besser für dich wäre, kann ich nicht mehr von dir lassen. Keine Ahnung, wohin das führen wird, denn mein Herz macht manchmal Dinge, die ich schon lange aufgegeben habe, verstehen zu wollen.
Auch jetzt bist du das Einzige, was ich sehe, als ich endlich die richtige Kiste erwische und eine Flasche Wodka herausnehme. Immer noch sitzt du auf der Couch, wo ich dich vorhin zurückgelassen habe. Derek hat mich, als du in ein Gespräch vertieft warst, natürlich ganz subtil gefragt, ob ich irgendwas Neues von dir wüsste, denn er hat bereits die Vermutung geäußert, dass du ihn betrügst.
Nein
, habe ich geantwortet. Was für ein Hohn, wie Salva sagen würde. Der hat sich heute auch kurz hier herumgetrieben
und ziemlich angespannt gewirkt, wahrscheinlich, weil er mit meinem Bruder zerstritten ist. Rowans Laune hat sich radikal verschlechtert, als Salva einfach gegangen ist, ohne sich von meinem Bruder einlullen zu lassen, und dann auch noch Alyssa wieder verschwand, kaum, dass sie das Poolhaus betreten hat.
Donovan hat sie hinausgedrängt, sobald sie einen Fuß hereingesetzt hat – bereit, vom großen Teufel persönlich zurück in seine Hölle gezerrt und bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. Machen wir uns nichts vor, Rowan kann Alyssa immer wieder mit einem Fingerschnippen zurückkriegen. Das und nichts anderes macht er mit den Frauen. Und so wenig ich es den Ladys auch wünsche, von ihm verbrannt zu werden, so sehr verfluche ich Donovan. Denn Alyssa hat als Einzige die Macht, Rowans Aufmerksamkeit völlig auf sich zu lenken. Jetzt ist sie wieder weg. Allerdings kann ich auch den kleinen Teil in mir nicht unterdrücken, der Rowan diese Niederlage gönnt. Der ihm dabei zusehen will, wie er alles, was er liebt, Stück für Stück verliert. Dieser Teil ist allerdings eher schwach und nicht konstant präsent, wie andere Teile von mir es sind.
Zum Beispiel der Teil, der dir gehört und will, dass Rowan einen Weg zurück zu Alyssa findet, damit er mich nicht mehr so einengt und ich mich dir besser widmen kann. In den letzten Tagen habe ich praktisch keine Privatsphäre mehr.
Gestern erst haben wir ein paar Frauen im Rush
eingearbeitet. Das machen wir immer wieder mal, aber für mich ist es nicht leicht. Das weiß er. Eine Zeit lang habe ich in jeder Prostituierten Chiara gesehen und inzwischen muss ich bei diesen Gelegenheiten zwanghaft an dich denken, um überhaupt einen hochzukriegen. Das alles macht mich nicht an. Nicht mehr. All dieses gestellte und vorgeschriebene Geficke hat seinen Reiz verloren. Aber auch Rowan testet mich und so habe ich getan, was zu tun war. Zumindest, bis er den Raum verlassen
hat, um mit Dad zu telefonieren. Dann habe ich Anastasia
gesagt, sie solle meinen Schwanz aus ihrem Mund nehmen.
Ich will nur deinen Mund, Baby. Egal, wo an mir.
Ich durchquere das Poolhaus und lasse mich wieder schwer neben Rowan auf das Sofa fallen. Ich warte noch darauf, dass sich eine Gelegenheit für mich ergibt, ein paar Minuten mit dir alleine zu sein.
Du unterhältst dich mittlerweile mit Ilaria. Wir sitzen uns gegenüber. Derek redet mit Rowan, was nicht gut ist, aber ich habe meine Ohren bei ihnen, also kann ich dazwischenfunken, falls Derek etwas ausplappert, was mein Bruder nicht wissen soll. Derek weiß um mein kompliziertes Verhältnis zu Rowan und auch, dass er nichts vom Boxen und all den anderen Dingen erfahren darf.
Ich öffne die Wodkaflasche und du beißt von einer Salzstange ab. Deine Lippen schimmern rot, deine Wangen sind ebenfalls etwas gerötet. Obwohl du geschminkt bist, wirkst du so natürlich, so einfach und doch so auffällig. Das weiße Top, das du in deinen beigefarbenen taillenhohen Rock gesteckt hast, unterstreicht deine naturgebräunte Haut und deine perfekten Brüste, die ich langsam wirklich vermisse. Ein Bein hast du seitlich auf die Couch gezogen und streichst mit der Hand selbstvergessen über deine Wade. Dein Ellbogen ist auf die Lehne und die Schläfe auf deine Faust gestützt.
Ich will dich ficken.
Von hinten.
Ein kleiner Schauer packt mich, als ich darüber nachdenke, wie es sich wohl anfühlen würde, dich über die Bank im Rosengarten zu beugen und mich langsam in dich zu schieben. In dir zu kommen und dich danach mit in mein Schlafzimmer zu nehmen. Dir zu zeigen, wie ich lebe, mit dir einzuschlafen, aufzuwachen.
Ich schenke Wodka aus und du lehnst dich etwas zu Ilaria, während ihr euch unterhaltet und lacht. Sie hat sich vorhin einfach zu uns gesetzt und wollte wissen, wer genau du bist. Wahrscheinlich, um sich davon abzulenken, dass Marcello da hinten Tracey trockenfickt. Ich hatte auch nicht den Drang, dich vor Ilaria zu schützen, wie ich ihn bei so vielen anderen Frauen hier empfinde. Viele hier sind oberflächlich und hinterhältig. Sie beneiden andere und machen sie schlecht, um sich besser zu fühlen.
So ist das eben – egal, wie reich, schön und gebildet ein Mensch auch sein mag, er findet in einem anderen immer etwas, was er selbst nicht hat. Aber Ilaria ist nicht so, also darf sie mit dir sprechen.
Ich schließe die Flasche und stelle sie wieder auf den Tisch. Dann schiebe ich Rowan und Derek ihre Gläser zu. Rowan nimmt seins mit einem kleinen Blick auf mich. Natürlich bekommen auch du und Ilaria eure Gläser, Baby. Keine Sorge. Ich schenke immer nach.
Ilaria nimmt es, ohne ihre Erzählung zu unterbrechen. Du wirfst mir einen kleinen Blick zu. Ja, das hast du richtig erfasst. Ich bin der Nachschenker und niemand hinterfragt es, wenn ich ihm ein Glas vor die Nase stelle.
»Danke«, meinst du artig.
»Bitte schön.« Ich nehme mein Glas und lehne mich zurück, dann stütze ich einen Fuß an der niedrigen Tischkante ab und strecke den freien Arm über die Couchlehne.
»Erzähl es ihr«, meint Ilaria leise. Ich runzle meine Stirn, weil ich keine Ahnung habe, worauf sie hinauswill. »Erzähl ihr von dem Ausflug in die Hütte, als ihr Kinder wart.« Sofort weiß ich, welchen Hüttenausflug Ilaria meint. Es gibt ein paar Rush-Geschichten, die über den ganzen Lake Michigan hinweg bekannt wurden, und das ist eine davon.
»Oh, du willst wirklich, dass ich das tue?«, frage ich und hebe herausfordernd eine Augenbraue.
»Ich habe sonst nichts zu lachen«, antwortet Ilaria und du musterst uns zweifelnd. Ich muss ihr recht geben. Sie hat wirklich nichts zu lachen. Alyssa auch nicht. Ich verstehe einfach nicht, warum Ilaria und Alyssa sich ausgerechnet solche kaputten Männer ausgesucht haben, die sie kontrollieren und schlecht fühlen lassen. Aber es ist nicht mein Problem.
»Was ist denn passiert bei eurem Ausflug in die Hütte?«, bohrst du sanft nach.
»Du willst also die Wir-mussten-alle-pinkeln-Story?« Ich hebe auch die zweite Braue und werfe meinem Bruder einen Blick zu.
»Oh ja, bitte«, meint Ilaria begeistert. Rowan mustert sie düster. Er mag Ilaria und die Pinkelstory nicht besonders. Ich liebe die Pinkelstory und du wirst sie auch lieben, Scarlett.
»Wir waren noch Kinder«, beginne ich, während du mich unter trägen Lidern beobachtest und mit einem kleinen Lächeln lauschst. »Rowan, ich, mein Großcousin Santino, mein Vater, mein Opa und mein Großonkel haben einen Wochenendausflug gemacht. Rowan musste pinkeln«, fahre ich fort und Rowan schüttelt den Kopf.
»Ja, ich musste pinkeln«, gibt er träge dazu.
»Also hat mein Opa angehalten. Mein Vater ist mit Santino und Rowan ausgestiegen, um zum Pinkeln zu gehen.« Ich muss lachen, als ich daran denke, was danach passiert ist. Diese Geschichte belustigt mich seit sechzehn Jahren jeden Tag aufs Neue. Rowan lehnt sich zurück. Du lachst auch ein bisschen, obwohl du die Pointe noch gar nicht kennst.
»Okay, und dann?«, hakst du nach.
»Mein Opa wollte ebenfalls pinkeln gehen, also ist er auch ausgestiegen. Ich blieb mit meinem Großonkel zurück, bis er mich auch rausgeschickt hat, weil er meinte, ich könne das
nicht richtig einschätzen. Also bin ich ausgestiegen und meiner Familie in den Wald gefolgt.«
»Ja, okay, und?« Deine Augen funkeln nur so. Ich liebe es, wenn sie das tun.
»Dad, Rowan und Santino haben unseren Opa gehört und gedacht, es würde sich um einen Massenmörder handeln. Also haben sie lauthals gebrüllt und Rowan hat sich an Dads Bein geklammert wie ein kleines Äffchen.«
»Ich hatte kurz davor Blair Witch Project
gesehen«, erklärt Rowan dunkel.
»Du warst ein Kind.« Ich winke ab. »Alle haben geschrien, nur die Hälfte hat gepinkelt. Dann kam ich, also hat mein Opa auch angefangen zu schreien, dann habe ich angefangen zu schreien und mir in die Hosen gemacht.« Du lachst los und der Laut schießt direkt in meine Brust. »Das Ende der Geschichte: Ich habe eine frische Hose gebraucht. Mein Großonkel wollte uns alle erschießen, weil er dachte, unter uns wäre ein Kidnapper, und das Geräusch, das uns erschreckt hat, stammte von einem Waschbären, der kurz darauf über den Highway rannte. Das ist die Geschichte, wie viele große, mächtige Männer zu kleinen, schreienden Mädchen wurden, die sich fast in die Hose pissten. Mein Dad und mein Opa diskutieren bis heute, wer mehr Angst hatte, wer sich mehr erschreckt hat und wer sich mehr wie eine Pussy benommen hat.«
»Hat der Waschbär überlebt?«, fragst du und wischst dir unter den Augen entlang. Ich lächle leicht. Du hast so ein gutes Gemüt, dass die Geschichte dieses Tieres dir am wichtigsten ist.
»Das wollte Santino auch wissen, deswegen haben wir die nächste Ausfahrt genommen, sind auf die andere Seite des Highways gefahren und haben dort am Waldrand diesen Waschbären gesucht.«
»Und?«, drängst du gebannt und isst noch eine Salzstange, als würdest du dir einen spannenden Film ansehen.
»Er hat überlebt und er war aggressiv. Ich glaube, er hatte Tollwut«, erkläre ich stirnrunzelnd.
»Das hatte er sicher«, knurrt Rowan in sich hinein.
»Ja, er hat sich an Onkel Cadens Fuß festgebissen und hatte Schaum vor dem Maul. Ich glaube, seine Augen waren rot. Rowan, waren seine Augen rot?«
»Sie waren rot!«, erwidert er sofort bekräftigend.
»Ja, sie waren rot«, gebe ich an die Runde weiter.
»Ein Zombie-Waschbär«, stellst du fest.
»Ich sage nicht wer, aber einer von uns hat bis heute Angst vor Waschbären.« Ich nippe an meinem Wodka.
»Ich glaube, du bist es nicht«, meinst du.
»Nein, er ist es auch nicht«, bestätigt Ilaria und isst belustigt eine Salzstange. Sie weiß natürlich sehr gut, wer von uns es ist. Immerhin hält sie sich fast jeden Tag in demselben Haus auf, in dem er lebt.
»Ich bin es auch nicht«, erwidert Rowan.
Ich schmunzle und denke an Santinos Waschbären-Phobie. Er mag gar nichts, was dem ähnelt. Als er sieben war, hat Tante Rosalie Santino einen Waschbären aus Plüsch gekauft. Er hat ihn brüllend aus dem Fenster geschmissen, wo er direkt vor den Füßen seines Vaters gelandet ist. Als ich daran denke, zuckt mein Mundwinkel und ich trinke einen großen Schluck Wodka.
»Zu Halloween hat sich Aris mal als Waschbär verkleidet. Das hat Santino gar nicht gefallen«, meint Rowan. Wenn ich so mit meinem Bruder zusammensitze und über früher spreche, vergesse ich fast, was seitdem zwischen uns passiert ist.
Beinahe empfinde ich etwas wie Wehmut. Etwas wie Sehnsucht nach meinem echten Bruder und nicht dem Monster, zu dem er geworden ist. Aber jedes Mal, wenn ich mich so fühle, tut oder sagt er etwas, womit er diesen Anflug von Sentimentalität wieder zunichtemacht, und seit Chiaras Tod fällt es mir sowieso extrem schwer, Zeit mit Rowan zu verbringen.
Als ich mein Glas abstelle, fällt mein Blick auf Marcello, der gerade die Treppe der Galerie nach unten kommt, auf die er zwischenzeitlich mit der Tussi verschwunden ist. Natürlich trägt er nur eine dunkelblaue Jeans, sodass sein verschwitzter Oberkörper zu sehen ist.
Das wäre eine gute Chance, Derek etwas abzulenken, damit ich mit dir alleine sein kann. Ich muss nur noch einen Weg finden, auch Rowan beschäftigt zu halten.
»Derek«, spreche ich ihn an und beuge mich an Rowan vorbei.
»Hm?«, fragt er abgelenkt und zieht nochmal an dem Joint, den ich vorhin gedreht habe. »Du solltest dich mit Marcello unterhalten.« Derek sucht immer gute Leute für einen Untergrundkampf. Außerdem weiß ich, dass Marcello auch sehr gern boxt und seine ununterbrochen vorhandene Wut bei diversem Training entlädt. Den Rat, dass er es mal mit dem Boxen versuchen sollte, habe ich ihm gegeben, als ich mal wieder mitbekommen habe, wie er jemanden fast totgeschlagen hat. Marcello ist der Typ Mann, den Derek gerne trainiert.
Derek wirft dir einen kleinen Blick zu.
»Geh nur.« Du winkst ab. Er legt den Joint zurück in den Aschenbecher und erhebt sich. Dann wendet er sich ab, um zu Marcello zu schlendern, der sich gerade fluchend an der Bar zu schaffen macht. Er hat sich darüber gebeugt. Aris, der neben ihm am Tresen lehnt, reicht ihm kopfschüttelnd eine Flasche Whisky, die er hervorgezogen hat.
Ich lasse meinen Blick zu dir wandern und du fängst ihn sofort auf.
Okay. Jetzt Plan Rowan.
Ich schaue weiter zu Ilaria, die gerade von Marcello wegsieht. Ihre dunklen Augen blitzen noch. Sie wirkt wie immer, wenn sie Marcello betrachtet, etwas gequält. Fraglich, wieso sie sich das überhaupt antut. Aber es ist wie gesagt nicht mein Problem.
»Wie geht es eigentlich deiner Schwester?«, erkundige ich mich, denn ich weiß, dass Alyssa ein Thema ist, das Rowan stundenlang beschäftigt halten kann.
»Oh, ihr geht es wunderbar. Sie blüht richtig auf, wie eine Rose, die nicht gegossen und mit Gift gedüngt wurde und im Dunklen stand, jetzt aber plötzlich Wasser sowie Sonnenlicht bekommt«, antwortet Ilaria augenblicklich, fokussiert all ihre Wut sofort auf meinen Bruder, den sie sowieso nicht ausstehen kann. Sie sagt, er sei nicht gut für Alyssa. Alyssa sagt, Marcello sei nicht gut für Ilaria. Eigentlich haben sie beide recht.
Bezaubernd.
Rowan visiert Ilaria blitzend an. »Denkst du wirklich, dass es ihr ohne mich besser geht?«, fragt er herablassend.
»Natürlich geht es ihr ohne dich besser. Jedem Menschen dieser Welt geht es ohne dich besser. Du bist ein Psychopath
!«, braust Ilaria sofort auf, zieht eine Zigarette aus irgendeinem Etui und zündet sie sich fahrig an. So habe ich sie früher in Jugendzeiten öfter erlebt. Damals war sie wild, frech und unbeugsam. Seit sie allerdings mit Marcello angebandelt hat, scheint sie jemand anders zu sein.
Rowan beugt sich Ilaria entgegen. »Du weißt gar nichts über mich«, stößt er direkt an ihrem Gesicht aus.
»Ach wirklich?« Ilaria hebt herausfordernd die Brauen.
Gut, damit wäre es vollbracht. Die beiden sind wieder einmal damit beschäftigt, sich zu zerfleischen.
»Ich geh pinkeln«, lüge ich flüchtig und erhebe mich einfach.
»Du weißt nichts über mich, du weißt nichts über deine Schwester. Du weißt gar nichts über niemanden, weil du nur auf Marcellos kleinen Arsch achtest«, knurrt Rowan und Ilaria schnaubt etwas von: »Das sagt der Richtige.«
»Bitte, überzeuge mich vom Gegenteil!« Rowan lässt sich harsch zurückfallen und streckt die Arme über die Lehnen.
»Erzähl mir nur eine Sache über mich, die stimmt, Ilaria-ich-bin-ach-so-schlau-Bianchi.«
Ich derweil umrunde den Tisch und dein Blick folgt mir aus dem Augenwinkel. Rowan ist allerdings völlig abgelenkt. Unauffällig deute ich dir, nach draußen zu kommen. Derek diskutiert angeregt mit Aris und Marcello an der Bar.
Du seufzt, bevor du dein Glas abstellst. Ich schiebe mich an den ganzen anderen vorbei, bevor ich die Eingangstür des Poolhauses aufziehe und nach draußen in die Sommernacht trete. Sofort dringen das laute Zirpen der Grillen und die leise raunenden Gespräche der am Pool sitzenden Leute an meine Ohren. Im Haupthaus brennt noch Licht. Onkel Caden scheint im Büro zu sein, denn auch unter dem Glasdach ist es hell. Vielleicht ist aber auch Dad bei ihm oben.
Ich schiebe meine Hände in die Taschen meiner weißen Trainingshose und steige die Stufen hinab, ehe ich die noch feuchte Rasenfläche betrete. Die Sprinkler sind gerade ausgegangen, die Luft ist hier etwas kühler, aber immer noch warm.
Ich schlendere an den Liegen vorbei Richtung Rosengarten. Natürlich werde ich dich dort jetzt nicht ficken, Scarlett. Wir tun sehr oft sehr riskante Dinge, aber das wäre grob fahrlässig, um nicht zu sagen lebensmüde. Denn hier ist nicht nur Derek, sondern auch Rowan, der mehr zu wissen scheint, als gut für uns ist.
Ich gehe an den saftig rot blühenden Büschen entlang und sehe über die Schulter. In dem Moment schlüpfst du aus dem Poolhaus und schaust dich um. Damit du mich entdeckst, bleibe ich stehen. Hier im Schutz der hohen Büsche sind wir nicht sofort sichtbar. Davon abgesehen weiß jeder, dass der Rosengarten tabu ist, wenn du nicht zur Familie gehörst. Tante Alayna kriegt sonst einen Tobsuchtsanfall.
Dein Blick strandet auf mir und ich winke dich mit einem Zeigefinger heran. Du hebst einen Mundwinkel. Während du so im schummrigen Schein der weißen Laternen, die mit den blauen Poollichtern eine angenehme Atmosphäre schaffen, dastehst und mich anlächelst, verblasst schon wieder alles andere um dich herum. Du bahnst dir elegant einen Weg an den Liegen vorbei, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ich lehne mich mit der Schulter an den hohen Kastanienbaum und warte darauf, dass du bei mir ankommst. Es dauert nicht lange, dann schiebst du dich in den Schutz der Büsche.
Ich werfe noch einen kleinen Blick hinter dich, aber weder Rowan noch Derek sind in Sichtweite. Obwohl Onkel Caden überall Kameras hat – ja, auch hier im Rosengarten –, stellt er keine Gefahr dar. Ich halte dir meine Hand hin. Du siehst ebenfalls über deine Schulter, bevor du durchatmest und deine Finger zaghaft in meine legst. Du bist es gewohnt, auf dich selbst aufzupassen, deswegen musst du dich immer von Dingen überzeugen. Du vertraust nicht einfach darauf, dass niemand hinter dir ist, nur weil dir jemand den Eindruck vermittelt oder es sogar behauptet. Das halte ich für sehr schlau.
Ich verschränke deine Finger mit meinen, bevor ich mich vom Baum abstoße und dich sanft weiter in den endlosen Garten ziehe. Wir werden mehr und mehr von den roten Rosen verschlungen. Der Kies, der einen kleinen Pfad bildet, knirscht unter unseren Füßen.
Du streichst über eine Blüte und siehst dir alles genau an. Ich frage mich, was in dir vorgeht. Was du gerade denkst. Wie du dich hier in meinem Revier fühlst. Du bist niemand, der mit solchen Sachen herausplatzt, und ich bin niemand, der nachbohrt, denn ich bin nicht Rowan.
Also schweigen wir eine Weile. Ich bemerke genau, dass auch du mich immer wieder musterst. Aus dem Augenwinkel werfe
ich dir einen Blick zu, als wir zwischen dem weißen Pavillon und der gleichfarbigen Sitzbank gegenüber entlangschreiten.
»Das ist wie der Garten Eden«, meinst du nachdenklich.
Ja, ich muss dir recht geben. Das hier ist wirklich der Garten Eden, aber natürlich gibt es in jedem Garten Eden auch Schlangen.
»Mein Opa und mein Großonkel haben das Haus vor einer Ewigkeit gebaut, den Garten hat die Frau meines Großonkels angelegt.«
»Alayna?«, fragst du leise. Ich lächle, weil es mir gefällt, dass du die Namen meiner Familie kennst.
»Ja. Wenn jeder von uns eine Gabe hat, ist ihre wohl unser Zuhause zu einem Zuhause zu machen«, überlege ich, denn wo Tante Alayna ist, fühlt man sich automatisch wohl. Wo sie Hand anlegt, wird es gemütlich und wohnlich. »Sie ist nicht wie die anderen Frauen hier, denn sie kommt
nicht aus diesen Kreisen.« Wir wissen beide, was ich mit diesen Kreisen
meine, aber das sprechen wir nicht laut aus. Ich will dich nicht in Gefahr bringen, Scarlett, nur weil du über irgendwelche geheimen Mafiamachenschaften Bescheid weißt. »Mein Opa und mein Großonkel stammen auch nicht aus diesen Kreisen.«
»Wo kommen sie her?«
»Sie kommen alle aus Chicago. Mein Opa und Onkel Caden sind die Söhne eines FBI-Chefs und einer Fotografin.«
Du hebst die Brauen. »Wirklich?«
Ich runzle die Stirn, als ich darüber nachdenke, dass sich die Vorlieben meiner Uroma Emilia mit deinen decken. »Ja.«
»Also ist deine Familie von der einen Seite des Gesetzes auf die andere gewechselt.«
»Teilweise. Aber etwas abgefuckt und illegal waren sie schon immer. Der Vater meines Uropas, Keaton Rush, war auch FBI-Chef, aber gleichzeitig hat er Sexclubs betrieben. Mein Uropa Mason hat bei illegalen Kämpfen mitgemacht.«
»Also deine Uroma hat fotografiert und dein Uropa hat Untergrundkämpfe bestritten?« Ja, ich bin mir der Ähnlichkeit bewusst.
»Verrückt«, murmle ich, während wir den Pfad weiter entlanggehen. Gleich werden wir den Rosengarten verlassen und auf der anderen Seite des Grundstücks ankommen.
»Ja, das ist wirklich verrückt«, meinst du wohl eher für dich selbst und ich lächle. »Das alles ist verrückt.« Du wirfst mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Ich zucke mit den Schultern, denn ich weiß, wie verrückt meine Familie ist.
»Mein Opa hat sich dann in eine Frau verliebt, die für ihn unerreichbar war. Es ist meine Oma«, lasse ich die Bombe nach ein paar Sekunden platzen und du lachst. »Und um sie zu kriegen, musste er so sein wie sie. Also ist er so geworden.«
»Das alles nur wegen der Liebe?«, erkundigst du dich schwermütig.
»Was heißt hier nur
?«, frage ich mit einer erhobenen Braue, als wir aus dem Rosengarten treten. Hier hinten scheint nur der Mond. Keine Laternen beleuchten die weite grüne Fläche, hinter welcher der See rauscht.
Wir sind jetzt so weit vom Grundstück entfernt, dass man nicht mal mehr die Partylaute hört.
»Na ja, wegen der Liebe wurden die schlimmsten Kriege geführt, Menschen sind gestorben, Menschen haben ihren Kopf verloren.«
»Ja. Aber manchmal ist es das wert«, erkläre ich heiser. Hätte mein Opa aufgegeben, würden mein Vater, Rowan und ich nicht existieren. Meine Mutter wäre jetzt mit einem irren Bastard verheiratet und keine Rush. Und mein Opa hätte irgendeine andere Frau kennengelernt.
»Aber manchmal ist es den Kampf auch nicht wert.« Du siehst über die Wiese zum See, in dem sich der Mond spiegelt. Hier endet die Seezunge und der See weitet sich.
»Das kann man erst herausfinden, wenn man den Kampf gekämpft hat. Wer nicht kämpft, hat schon verloren, noch nie gehört?« Ich sehe zu dir hinunter und du hebst einen Mundwinkel.
»Du bist wohl in allen Belangen ein Kämpfer?« Das musste ich sein. Sonst hätte ich vieles nicht ertragen.
»Du weißt erst, ob sich etwas lohnt, wenn du es ausprobiert hast«, murmle ich. »Manchmal bereust du es danach, manchmal bist du aber auch froh, es versucht zu haben.« Wir gehen auf die beiden uralten Trauerweiden zu, deren Blätter tief zu Boden hängen. Sie stehen parallel zum See. Einige ihrer Äste streifen durch das Wasser.
»Ich wünschte, ich hätte meine Kamera dabei«, gibst du inbrünstig von dir, als du den Blick schweifen lässt.
»Wenn du das nächste Mal kommst, nimmst du sie einfach mit«, meine ich leichthin.
»Wenn ich das nächste Mal komme?«, erkundigst du dich angespannt.
»Du kannst jederzeit herkommen.« Ich dachte, das wäre klar.
»Rayen«, meinst du gequält.
»Was?«, frage ich locker und führe dich weiter. »Ob du dich nun mit mir irgendwo triffst und mich im Auto vögelst oder herkommst, macht auch keinen Unterschied. Du musst nur ein bisschen aufpassen.«
»Wegen deines Bruders?«
»Unter anderem.« Als wir vor den beiden Bäumen ankommen, schiebe ich die Äste beiseite, womit der Blick auf meine uralte schwarze Hängematte freigegeben wird. Sie befindet sich im Schutz der Blätter und ist schon an den Seilen etwas ausgefranst, aber alle paar Jahre stabilisiert Dad die Matte für mich.
»Ich liebe das«, stößt du wieder inbrünstig aus. Du hast wirklich einen Blick für verborgene Schönheit. Ich kenne nicht
viele Menschen, die die kleinen Dinge im Leben zu schätzen wissen, wie du es tust.
»Mein Opa hat sie früher für mich hier angebracht. Das ist absolute Rowan-Sperrzone. Sein Betreten auf diesem Platz wird mit dem Tod bestraft«, erkläre ich und du lachst. »Mein Opa weiß, wie es ist, einen Zwilling zu haben, der einen so vereinnahmt wie Rowan mich manchmal. Hin und wieder braucht man einen Rückzugsort, und das ist meiner. Unser Opa persönlich hat Rowan verboten, mich hier zu belästigen. Ich habe sogar ein Schild gebastelt, da war ich neun.« Ich schiebe noch ein paar Blätter beiseite, die das besagte Schild verdecken.
Es besteht aus Holz. In Schwarz mit krakeliger und ausgeblichener Schrift steht dort KEIN ROWAN geschrieben. Du streichst mit den Fingerspitzen darüber und ein sanftes Lächeln ziert dein Gesicht.
»Und? Hat er sich daran gehalten?«
»Wenn nicht, hat er echt Ärger bekommen.« Ich erinnere mich noch zu gut an das eine Mal, als mein Opa Rowan am Ohr hier weggezogen hat. Nicht lustig. Das hat mir so leidgetan, dass ich Rowan fast die Matte, die Bäume und den See überlassen hätte.
»Jeder braucht seinen Rückzugsort.« Irgendwann werde ich dir auch meinen zweiten Rückzugsort zeigen. Aber noch bist du nicht so weit und ich will warten, anstatt dich zu überrumpeln. Ich schiebe mich auf die Hängematte, schlinge einen Arm um deinen Bauch und ziehe dich mit dem Rücken an meine Brust, sodass du zwischen meinen Beinen liegst.
Mit meinem Fuß streife ich träge über den Boden. Ich höre genau, wie du durchatmest. Außerdem spüre ich, wie du dich nach ein paar Sekunden an mich schmiegst und deinen Hinterkopf an meine Schulter lehnst. So leicht, wie es für mich ist, mich fallen zu lassen, so schwer ist es für dich.
Zaghaft legst du eine Hand auf meinen Unterarm. Du hast Angst vor Gefühlen, Babygirl, das verstehe ich. Aber das ist kein Problem.
Mit meiner Nase streiche ich durch dein duftendes Haar, während ein lauer Wind die Blätter der Weiden rauschen lässt.
»Hast du auch einen Rückzugsort?«, frage ich an deiner Kopfhaut, während der Duft des Sees in meine Nase zieht.
»Ja, einen leer stehenden Wagon am alten Bahnhof«, murmelst du. »Ich habe da immer Überleben gespielt und mir vorgestellt, ich wäre der letzte Mensch auf diesem Planeten. Habe Feuer gemacht und so …« Ich muss lachen, weil ich es genau vor Augen habe. Du bist auch eine Überlebenskünstlerin. »Manchmal habe ich meine kleine Schwester mitgenommen, wenn es zu Hause …« Du stockst und ich ahne, dass es Dinge gibt, über die du nicht reden willst. »Wenn es nötig war.« Ich weiß natürlich, dass du eine jüngere Schwester hast und ihr es nicht leicht hattet. Ich habe sie auch schon gesehen, als sie bei Derek und dir zu Besuch war. Sie ist viel offener als du, außerdem habt ihr nicht so ein kompliziertes Verhältnis wie mein Bruder und ich.
Ich streiche mit meinen Fingern über deinen Bauch.
»Den Wagon will ich mal sehen«, lasse ich dich wissen. Jetzt, da ich mir darüber im Klaren bin, was du mir wirklich bedeutest, will ich alles von dir kennenlernen.
»Okay, aber wir müssen an den Obdachlosen vorbei, und Pete ist ganz schön aggressiv«, gibst du zu bedenken und drehst deinen Kopf, um durch die dünnen Äste der Trauerweiden die funkelnde Stadt auf der anderen Uferseite zu überblicken.
»Wieso? Wir können uns einfach zu ihnen setzen. Obdachlose haben oft interessante Dinge zu erzählen.«
»Ich weiß. Ich saß auch ab und zu dabei.« Ich muss lächeln, weil das genau in mein Bild von dir passt. Ich mache, genauso wenig wie du, keinen Unterschied zwischen den Menschen. Wer
heute in einer Villa lebt, kann morgen unter einer Brücke enden, und umgekehrt. Wir sind hier schließlich in Amerika, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Jeder kann den American Dream
leben. Angeblich.
Eine Weile schweigen wir, während die Hängematte träge von links nach rechts schwingt. Das leise Plätschern des Sees hat eine entspannende Wirkung, genau wie dein Finger, der eine Sehne an meinem Unterarm nachstreicht. So etwas hast du vor Kurzem noch gemieden. Du wurdest nie sanft oder zärtlich. Ganz im Gegenteil. Du bist eher davor zurückgeschreckt. Deshalb ist es eine absolute Neuheit, von der ich unbedingt mehr will. Allerdings weiß ich, wie ich werden kann, wenn ich mehr will. Um jeden Preis muss ich verhindern, den Verstand zu verlieren oder übermütig zu werden. Das ist mir schon einmal passiert. Bei Chiara wurde ich unvorsichtig, ich wurde absolut süchtig danach, in ihrer Nähe zu sein, sie zu beobachten, auf sie aufzupassen. Egal, wo sie war, sie konnte immer darauf zählen, dass ich nur ein paar Schritte entfernt war. Egal, ob im Club, wo sie ihrer Arbeit nachging, oder beim nächtlichen Heimweg durch die heruntergekommene Gegend, in der sie lebte. Ich habe sie oft abgeholt und mitten auf der Straße abgefangen. Sogar zwei ihrer Freier habe ich erschossen. Eben, weil ich den Verstand verloren habe. Das darf mir nicht noch einmal passieren. Weder mir noch Rowan. Bei Chiara fing es an, als ich bemerkt habe, was ich für sie empfand. Von heute auf morgen war mein Kopf nur noch bei ihr. Die ganze Zeit habe ich mich selbst verrückt gemacht. Dann bin ich ihr nachgestiegen, weil ich kontrollieren musste, was sie tat, mit wem, wo, weshalb, wann. Ich wurde unvorsichtig. Und jetzt ist sie tot. Wenn ich mir nur vorstelle, dass dir das Gleiche zustoßen könnte, zerfetzt es mich innerlich beinahe. Am liebsten würde ich dich augenblicklich von meinem Schoß stoßen und dir sagen, dass du nie wieder zurückkommen sollst.
Aber das kann ich nicht.
Jetzt erst recht nicht mehr.
Denn du gehörst jetzt mir.
»Du bist so anders als die Menschen in diesem Poolhaus«, durchbricht deine Stimme meine Gedanken. Ich lasse den Blick von den sich im Wind sanft wiegenden Blättern der Weiden in dein Gesicht wandern.
»Anders ist nicht immer schlecht«, gebe ich die Worte wieder, die Onkel Caden ständig sagt. Wahrscheinlich, um uns allen schönzureden, wie wahnsinnig wir sind – einschließlich ihm selbst.
»Oh, anders ist meistens sogar ziemlich
gut«, meinst du und gleitest über meinen Handrücken. Dein Zeigefinger streicht über meinen Siegelring und fährt die beiden Cs nach, auf die der silbrige Mondschein durch ein paar Lücken im Baum fällt. Es wäre so leicht, sich hier an diesem Ort vorzustellen, dass wir alleine auf der Welt sind. Das habe ich früher immer. Ich habe so getan, als würde niemand sonst existieren. Nur ich unter diesen Weiden. Dabei musste ich mich nicht mal beschäftigen. Ich lag einfach nur da und habe vor mich hin gestarrt. Ich mag es, mit mir allein zu sein. Zumindest mochte ich es, bevor all die Dinge schiefgelaufen sind, die mich jetzt verfolgen.
»Das würdest du nicht mehr sagen, wenn du wüsstest, wie
anders ich bin«, murmle ich in dein Haar, während der Wind es verweht und deinen Duft noch intensiver in meine Nase treibt.
»Wie anders bist du denn?«, fragst du leise und streichst bis zu meiner Fingerspitze. Ich spreize meine Finger und du schiebst deine dazwischen. Deine Hand ist so klein, so leicht zerbrechlich – dabei bist du alles andere als das. Egal, was man auf den ersten Blick denken mag.
»Jeder hat seine Schattenseiten«, umschreibe ich großzügig.
»Und das auf dem Parkplatz war deine.« Ich habe mich schon gefragt, wann du das thematisieren würdest. Denn wir haben
nie darüber gesprochen, was ich getan habe. Direkt vor deinen Augen.
»Ein Teil davon.« Ich verschränke unsere Finger und ziehe sie auf deinen Bauch, bevor ich uns noch einmal mit dem Fuß anstoße, sodass die Hängematte weiterschwingt.
»Ich sollte vor dir weglaufen. Aber ich will nicht.«
»Das ist gut, denn ich würde dich jetzt auch nicht mehr lassen«, murmle ich in dein Ohr und streiche mit der Nasenspitze über deine Schläfe.
»Würdest du mich einsperren?«, erkundigst du dich interessiert.
»Nein.« Das würde ich nicht. Ich habe längst gelernt, dass man einen anderen Menschen nicht an sich ketten kann. Dafür wurde ich selbst schon zu oft an andere gekettet. Aber ich hätte meine eigenen Strategien, um dich zum Bleiben zu bewegen.
»Würdest du mich anders an dich binden?«
»Ich glaube, du bist einer der Menschen, die dermaßen Angst vor ihren Gefühlen haben, dass du genau das willst. Du brauchst jemanden, der dich festhält, komme, was wolle. Auch wenn du wieder weglaufen willst«, überlege ich laut, denn ich kenne einige dieser Menschen. Alyssa gehört dazu. Marcello ebenfalls. Genau wie mein Onkel Caden. Ich glaube, sogar meine Oma Isabelle war mal eine solche Frau.
»Gefühle machen schwach«, erklärst du. Ich seufze, denn dieser Satz scheint der Leitsatz aller Mafiosi zu sein, die ich kenne. Du bist keine Mafia-Braut, trotzdem gehörst du irgendwie in das Milieu.
»Eigentlich machen sie stark. Die Leute denken nur, sie würden Schwäche zeigen, wenn sie ihre Gefühle offenbaren, weil sie dann vermeintlich angreifbar wären. Aber eigentlich ist das nicht der Fall. Je offener du demonstrierst, was in dir vorgeht, desto weniger können die anderen dir was. Es ist lediglich eine Frage, wie du
mit deinen Gefühlen umgehst. Nicht, wie jemand
anderes es tut.« Das sind Dinge, die mein Opa mir beigebracht hat. Früher war ich viel unkontrollierter, was meine Emotionen betrifft. Mittlerweile kann ich besser mit ihnen umgehen. Ganz, ohne sie abgestellt zu haben. Ich musste nur, spätestens nach Chiara, lernen, wie ich sie vor einigen Menschen verberge. Aber nicht um meiner selbst willen.
»Je mehr dir etwas bedeutet, desto mehr tut es weh, wenn du es verlierst«, erklärst du.
»Wenn du es verlierst, zumindest, wenn es nicht durch den Tod passiert, dann hat es dir nicht genug bedeutet. Oder du ihm nicht«, erwidere ich und stoße uns wieder mit meinem Fuß vom Boden ab, sodass die Hängematte langsam hin und her wiegt. Es rauscht, als eine Welle sich am Ufer des Sees bricht. Wahrscheinlich ist in der Nähe mal wieder eine Yacht unterwegs. Viele schmeißen an Wochenenden ihre Partys direkt auf dem Lake Michigan.
»Das ist sehr schlau«, murmelst du.
»Ich bin
sehr schlau«, sage ich und lächle an deiner Schläfe.
»Das ist mir bereits aufgefallen. Verborgen hinter außerordentlicher Schönheit und einem rauen Auftreten.«
»Wissen ist etwas, das du verstecken solltest. Aber nicht Gefühle«, belehre ich dich und streiche die Haare von deiner Schulter. »Wissen ist Macht, aber Gefühle haben nichts mit Macht zu tun.«
»Das sollten sie wahrscheinlich im Idealfall nicht.« Du seufzt. »Allerdings gibt es zu viele Menschen, die dich ausnutzen, sobald sie deine Schwächen bemerken.«
»Ich weiß«, antworte ich. »Aber diese Menschen sind es nicht wert, sich das Leben so schwer zu machen. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Und was ist, wenn deine eigene Mutter so ein Mensch ist?«, fragst du und ich stocke mit meinem Fuß auf dem Boden. Was Mütter angeht, habe ich wirklich Glück gehabt. Natürlich
kenne ich auch andere, die es nicht so gut getroffen hat. Meine Mutter war zwar in meiner Kindheit nicht immer das perfekte Vorbild, aber sie war da, wenn ich sie gebraucht habe, und sie hat unser Wohl immer über ihr eigenes gestellt. Sie hat für uns zurückgesteckt und einiges hinter sich gelassen. Ich schätze, nicht jede Mutter ist so aufopferungsvoll. Und dass du keine leichte Kindheit hattest, liegt auf der Hand.
»Dann würde ich sagen, scheiß auf die Schlampe und mach weiter. Nur, weil sie dich auf die Welt gepresst hat, muss sie keine Bedeutung in deinem Leben haben.«
Du gibst einen amüsierten Laut von dir. »Ich glaube, das lässt sich leichter sagen, wenn man nicht in der Situation steckt.« Du siehst zu mir hoch.
Nun ja, ich habe so einen Bruder. Aber ich schätze, das ist nicht das Gleiche. Es sollte leichter sein, sich von seinen Geschwistern abwenden zu können, als von seinen Eltern. Allerdings weiß ich, dass dem nicht so ist. Ich könnte Rowan niemals den Rücken kehren – das ist meine Art der Selbstzerstörung.
»Ich weiß.« Mit meinen Lippen streiche ich über deine Schläfe. Du ziehst tief den Atem ein, während deine Nase über meinen Hals gleitet. Ich kommentiere diese kleinen Gefühlsregungen nicht. Rowan ist dir in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Er kann auch keine Gefühle zeigen. Deswegen habe ich Übung darin, solche Menschen nicht zu verschrecken, indem ich Momente aufbausche, in denen sie sich öffnen. Denn diese Menschen sind innerlich viel zarter besaitet als solche wie ich – wie Rehe im Scheinwerferlicht.
»Wir sollten zurückgehen.« Ich seufze widerwillig, als ich durch die Äste der Weiden Richtung Rosengarten sehe. Jetzt, da sowieso alle Verdacht schöpfen, sollten wir fürs Erste nicht zu offensichtlich miteinander verkehren. Aber ich werde dafür noch eine Lösung finden. Diesmal werde ich bedachter sein als
bei Chiara. Das habe ich mir fest vorgenommen. Ich darf nur den Kopf nicht verlieren. Dann geht auch alles gut.
»Ja, das sollten wir.« Du rappelst dich auf und schiebst dich von der Matte. Auch ich steige hinunter, obwohl mir wirklich nicht danach ist, zurück zu diesen Affen in den Zoo zu gehen. Ich will deine Hand wieder nehmen, unterlasse es aber, weil die Gefahr zu groß ist, jemandem über den Weg zu laufen.
Oft frage ich mich, was mein Opa in bestimmten Situationen tun würde. Doch hier überlege ich eher, wie Onkel Caden handeln würde. Denn das hier ist eine Kopfsituation. Sie muss durchdacht sein.
Also deute ich dir mit einer ausladenden Handbewegung, vorzugehen. Ich werde noch zehn Minuten warten, eine Zigarette rauchen und gleich in den Anbau verschwinden. So kann ich Rowan erzählen, ich wäre die ganze Zeit dort gewesen. Ich glaube, das ist ein guter Plan.
Noch einmal überschaust du mich, während ich mich mit der Schulter an die uralte, raue Rinde einer der Weiden lehne und meine Hand in die Hosentasche schiebe.
»Ruf mich an«, verlange ich.
»Ich rufe dich an«, sagst du und ich hebe einen Mundwinkel. Ich werde warten.
Du stellst dich auf die Zehenspitzen und hauchst mir einen Kuss auf den Kiefer. Ich unterdrücke den Impuls, dich an diesen Baum zu pressen und tiefer zu küssen. Das würde es jetzt auch nicht leichter machen und nur ausarten.
»Denk an mich«, erwiderst du und wischst mit dem Daumen über die Stelle, die du geküsst hast.
»Denk auch an mich, wenn er dich fickt. Und du wirst dir noch wünschen, das nicht gesagt zu haben«, prophezeie ich mit einer erhobenen Braue und schiebe auch meine zweite Hand in die Hosentasche.
»Das werden wir sehen«, murmelst du in dich hinein, wendest dich ab und verschwindest durch die hängenden Zweige der Weide.
Tief atme ich aus und sinke mit dem Rücken gegen den Stamm. Der Wind rauscht wieder durch die Äste und weht sie zur Seite, sodass der Blick auf den im Mondschein glitzernden See freigegeben wird. Der Himmel ist klar und die Sterne funkeln.
Am liebsten hätte ich die ganze Nacht mit dir hier gelegen. Aber ich weiß, dass das nicht geht. Ich weiß, dass man manche Dinge einfach so hinnehmen muss, wie sie gerade sind. Auch das habe ich gelernt. Also nehme ich so hin, dass du dich entfernst. Ich nehme so hin, dass du neben einem anderen Mann einschläfst. Ich nehme so hin, dass ich dich nicht jeden Tag sehen oder anrufen kann, wenn mir danach ist. Ich nehme hin, dass ich meine Gefühle für dich verstecken muss.
Aber eines lasse ich mir nicht nehmen, weder von meinem Bruder noch von sonst wem: meine Gefühle. Denn sie sind es, die mich ausmachen. Ich bin nicht so schwach, nie wieder mein Herz zu öffnen, nur, weil mein Bruder persönlich dafür gesorgt hat, dass es einmal gebrochen wurde. Denn dann wäre ich
der Verlierer.
Wir Rushs sind – und das haben wir alle gemeinsam – Gewinner.
Und das wirst auch du noch lernen, Scarlett.