13. Für euch, Alyssa
(Marima – No Way)
Rowan
Ich bin völlig angespannt, als ich mit Rayen die Treppe des Casa del Nero
hochsteige.
Denn schon den ganzen Abend habe ich dich vor Augen. Wie soll ich dir denn widerstehen, wenn du dich mit mir in einem Raum befindest, Alyssa? Und das auch noch in diesem Kleid.
Immer wieder muss ich den Drang bekämpfen, dich wieder zu jagen – und er wird mit jeder Sekunde stärker. Du bist perfekt, verrucht und wunderschön. Gleichzeitig so unsicher und bedürftig. Ich will dich. Nur dich. Mir völlig verfallen und wehrlos.
Ich bin nicht selbstlos. Das kleine Flackern meines Gewissens, das ab und zu aufkommt, reicht nicht aus, um mich dauerhaft von dir fernzuhalten. Das wird mir immer klarer, je mehr Zeit ich ohne dich verbringe.
Meine Selbstbeherrschung ist fast aufgebraucht. Deswegen bin ich nun sehr froh, als ich die Tür des Casa del Nero
aufstoße und in die Nacht hinaustrete.
Gerade kommt uns Salva entgegen, der einen Schritt zurückweicht, als er uns bemerkt. Er wirkt abgelenkt und scheint uns gar nicht wirklich wahrzunehmen. Alyssa, ich muss das alles dringend wieder in Ordnung bringen. Dieses Chaos funktioniert so nicht. Ich halte ihm die Tür auf, frage ihn aber nicht, was los ist. Zwischen uns herrscht ein brüchiger Frieden, den ein falsches Wort zerstören könnte.
Salva huscht ins Innere des Lokals und Rayen sieht ihm noch ein paar Sekunden stirnrunzelnd hinterher.
»Du kannst ja mal fragen, was bei ihm los ist«, sage ich und lasse die Tür zufallen.
»Besorgt?« Mein Bruder zieht seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche.
»Ein wenig«, gebe ich zu und lehne mich mit der Hüfte an die Wand neben der Tür.
»Dass du dir mal Sorgen um jemanden machst.« Rayen seufzt und schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
»Das ist meine Aufgabe. Ihr seid alle viel zu unbesorgt.« Auch mein Bruder ist momentan nicht so gut auf mich zu sprechen, Alyssa. Ich warte nur darauf, dass er mich fragt, wieso ich seinem Derek und seiner Scarlett einen Besuch abgestattet habe.
Ich bin ins Boxstudio spaziert, das Derek Haze gehört, und habe ihm vorgespielt, Rayen zu sein. Dafür habe ich mich wie mein Bruder angezogen, geredet und mich sogar wie er bewegt. Es ist schon etwas länger her, dass ich so getan habe, als wäre ich Rayen, deswegen war es sehr befriedigend, herauszufinden, dass ich es noch kann. Derek hatte überhaupt keine Ahnung, dass er sich eigentlich mit mir unterhalten hat. Natürlich ist er meiner Einladung ins Poolhaus gefolgt. Für Rayen tut ja jeder immer alles. Ich musste der Sache mit Scarlett Montgomery auf den
Grund gehen, denn anscheinend hat Rayen laut Olson wegen ihr einen Mann umgebracht. Und so langsam wird mir all das suspekt.
Wer ist die Frau, wegen der mein Bruder so weit geht?
Wie lange kennt er sie? Empfindet er etwas für sie? Muss ich eingreifen?
Olsons Bericht hat mich erschüttert. Wie konnte ich das nicht bemerken?
Kenne ich Rayen so wenig oder ist er so gut darin geworden, mir etwas vorzumachen?
Es scheint beinahe, als würde er eine Art Doppelleben führen. Aber das hört jetzt auf, denn inzwischen weiß ich Bescheid, und auch wenn noch nicht alles völlig schlüssig ist, werde ich nicht lockerlassen. Du weißt ja, dass ich sehr viel Durchhaltevermögen besitze, wenn ich etwas will. Und in dem Fall will ich verhindern, dass mein Bruder mit unwürdigen Menschen zu tun hat.
»Spuck’s schon aus«, meint Rayen, der natürlich spürt, was in mir vor sich geht. Schon seit dem Poolhaus brodelt es in mir und ich habe ihn genauestens im Blick. Er stößt den Rauch über die Schulter und mustert ein paar Sekunden unseren Cousin, der am Rand der Klippe sitzt. Donovan ist etwas verstört, weil er mitansehen musste, wie vorhin diese miesen Ratten erschossen wurden.
»Er will seine Ruhe«, ertönt Marcellos Stimme prompt aus der Dunkelheit und er starrt mich warnend an. »Nicht ansprechen. Nicht nerven. Nicht rumbitchen, Rush.«
»Hatte ich nicht vor, Mr. Bodyguard«, murmle ich Marcello zu.
Rayen schmunzelt, ehe er sich wieder mir zuwendet und noch einmal seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger an seine Lippen führt.
»Also?«, fragt er, wobei der Rauch seinem Mund entweicht.
»Das ist es also, wo du dich immer hinschleichst?«, komme ich sofort auf den Punkt. »Zu Kämpfen in dreckigen Garagen und Sex mit zweitklassigen Frauen?« Ich teste ihn mal wieder und beobachte dabei jede seiner Regungen.
»Ich hab meinen Scheiß, du hast deinen Scheiß. Du weißt, dass ich High-Society-Bitches nicht ausstehen kann.« Noch einmal zieht er hart an seiner Zigarette, ehe er sie auch schon fortschnippt.
»Hast du öfter Sex mit ihr?«, hake ich stechend nach.
»Ist es wichtig, wen ich wann vögle? Ich habe nicht vor, sie zu heiraten, Rowan«, erwidert Rayen gelangweilt, winkelt sein Bein in der schwarzen Jeans an und stützt seinen Fuß an die Wand.
»Bedeutet sie dir was, Rayen?«
»Nein«, antwortet er müde und streicht sich durch die dunklen Haare. »Sie ist die Freundin des Mannes, für den ich boxe, und sie ist heiß.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, gebe ich mich vorerst geschlagen, aber ich werde das im Auge behalten, Alyssa. »Du weißt, wie das mit diesen Frauen ist. Ich will nicht, dass sie dich ausnutzen.« Sollte sie das tun, wird sie sterben. Ganz einfach.
»Das ist in Ordnung, aber ich kann ganz gut selber einschätzen, ob mich jemand ausnutzt.« Rayen tritt einen Schritt näher und sieht mir direkt in die Augen. »Aber wenn du noch einmal hinter meinem Rücken irgendwelche Leute verarschst, mit denen ich zu tun habe, haben wir beide
ein Problem, Rowan.«
»Rayen …«, sage ich sanft und richte den Kragen seines dunkelgrauen Hemdes. »Ich tue das alles nur für dich. Ich liebe dich. Und ich muss auf dich aufpassen.«
Mit einer Hand senkt er meine beiden. »Vielleicht sollte ich auch mal ein bisschen besser auf dich aufpassen, bevor du dich noch ganz verlierst und wahnsinnig wirst.« Gelassen schnippt er mir eine Strähne aus der Stirn. Das klingt doch tatsächlich wie
eine Drohung, Alyssa. Und Rayens türkisgrüne Augen funkeln auch so.
»So sollte es sein. Du passt auf mich auf und ich passe auf dich auf.« Und keiner außer mir passt auf dich auf, Alyssa!
Einen Moment schaut Rayen noch zwischen meinen Augen hin und her, ehe er einen Schritt zurückmacht. »Wie du willst. Fick mich einfach nicht.« Damit wendet er sich ab und verschwindet ins Restaurant. Stirnrunzelnd betrachte ich, wie die Tür hinter ihm zufällt.
Das war neu.
Aber es ist schon in Ordnung.
Ich komme mit Rayen klar.
Egal, in welchem Modus er sich befindet. Außerdem glaube ich nicht, dass er mehr für Scarlett Montgomery empfindet. Erstens habe ich die beiden im Poolhaus beobachtet. Sie verstehen sich gut und scheinen befreundet zu sein, aber Rayen kommt mit jedem gut klar.
Zweitens ging er nicht auf meine Beleidigung ihr gegenüber ein. Nicht einmal seine Augen haben gelodert. Bei Chiara hat er sich nicht beherrschen können. Wenn ich sie auch nur einmal als Hure betitelt habe, ist er komplett ausgerastet und auf mich losgegangen. Wenn es um sie ging, war er extrem reizbar und im Verteidigungsmodus. Das ist bei Scarlett nicht der Fall, was wiederum heißt, dass er sie wahrscheinlich wirklich nur vögelt.
Erst einmal bin ich etwas
beruhigt. Aber etwas ist nicht ganz.
Auch ich zünde mir eine Zigarette an und stoße den Rauch in den sternenklaren Himmel. Wie so oft die letzten Tage versuche ich, das ungute Gefühl in mir niederzuringen.
Mein Handy vibriert in meiner hinteren Hosentasche und ich ziehe es etwas abgelenkt hervor. Salva hat mir eine Nachricht geschickt, die ich stirnrunzelnd öffne. Es ist seltsam, dass er mir schreibt, obwohl er nur das Casa del Nero
verlassen müsste, um
mich zu sehen. Aber wahrscheinlich ist er noch nicht so weit, mit mir persönlich zu sprechen.
Q-1111-CVE-0309 ist der Code für ein Schließfach bei der Bank of America.
Entweder Orlow oder ›Solja‹.
»Oh, ja, natürlich …«, murmle ich in mich hinein und frage mich, wie ich so dumm sein konnte. Natürlich
ist das der Code für ein verdammtes Schließfach. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Dabei habe ich noch persönlich beobachtet, wie Clara vor ein paar Wochen in die Bank of America
spaziert ist. Wir besitzen dort ebenfalls ein paar Schließfächer. Die Codes dazu beginnen immer mit einem Q, auch wenn man den Rest individuell gestalten kann.
Ich habe alles Mögliche gecheckt – E-Mail, Passwörter, Computerkennwörter, Kennzeichen, verfickte Steuernummern, aber ich bin nicht auf ein verdammtes Schließfach gekommen. Das stimmt mich äußerst unzufrieden und verdeutlicht, wie sehr ich neben der Spur stehe. Alyssa, das ist alles deine Schuld.
Aber jetzt wissen wir, um welchen Code es sich handelt, und werden einen Weg zu diesem Schließfach finden. Salvas Vater gehört ja nicht umsonst die halbe Stadt.
Darauf hätten wir selber auch kommen können, antworte ich und schüttle meinen Kopf.
Dann stecke ich mein Handy wieder ein und frage mich, was die Russen in diesem Schließfach wohl verstecken, was sie zu verbergen haben.
Ich seufze, während ich meinen Blick träge über Donovan an der Klippe schweifen lasse. Über ihm steigt der Rauch in den Himmel und Chicago leuchtet zu seinen Füßen. So ist das eben, wenn man nicht in diese Welt geboren wurde. Dann kommt
man auch nicht mit ihr klar. Ein Mann wie Donovan könnte nie tun, was getan werden muss. Ich hingegen tue alles, um meine Familie zu schützen.
Ich flirte sogar mit Frauen, die mich eigentlich nicht interessieren. Aber wir müssen herausfinden, was es mit den Sanchez’ auf sich hat. Also habe ich mir gedacht, dass ich heute eine spontane Annäherung starte. Es ist leicht, bei Frauen wie Ana Sanchez Zutritt zu erhalten. Dafür muss man sich nicht mal besonders anstrengen. Man sagt ihnen, was sie hören wollen, nimmt sie mit zu sich nach Hause und bereitet ihnen eine unvergessliche Nacht. Das nächste Mal nehmen sie einen mit in ihr Heim. Es kostet mich nicht viel, etwas über sie herauszufinden, mehr über ihren Bruder zu erfahren. Besonders, wieso er dich heiraten will, wie du bei ihm leben sollst, wie er sich das vorgestellt hat. Zur Not mache ich seine kleine Schwester völlig von mir abhängig und breche sie dann wie einen Ast. Ich habe ja gesagt, dass ich mir was einfallen lassen würde, meine Schöne. Das habe ich auch so gemeint.
Ganz abgesehen davon werde ich herausfinden, was die Sanchez’ mit den Orlows zu tun haben und was da gespielt wird. Denn dass zwischen diesen Familien eine Verbindung besteht, ist unübersehbar. Heute im Hinterzimmer hat sich mir das nur bestätigt, denn die Blicke waren eindeutig.
Auch wenn Salva und ich gerade nicht viel Kontakt haben und er mich hasst, verliere ich nicht das große Ganze aus den Augen. Deswegen vergesse ich nicht, wer meine Familie ist. Denn was ich brauche, um in dieser Welt zu bestehen, sind die Menschen, denen mein Herz gehört.
Rayen, Salva, du. Und obwohl ich euch das nicht immer spüren lasse, bin ich mir dessen gewiss. Also mach dich bereit, Alyssa. Ich werde dich bald zurückholen und vor allem beschützen.
Selbst, wenn du nichts davon bemerkst, meine Schöne.
Keine Sorge.