15. Nicht gemerkt, Babygirl
(Michelle Gurevich – No One Answer)
Rayen
Der Mond scheint silbrig durch das Glasdach und sendet seinen Schimmer direkt auf meinen Vater, der Rowan und mir gegenüber am weißen Schreibtisch sitzt.
Vor zehn Minuten hat er uns nach oben ins Büro rufen lassen, weil er etwas mit uns besprechen will. Also sitze ich jetzt mit auf dem Bauch gefalteten Händen hier und betrachte ihn.
Wie so oft trägt mein Vater schwarz. An seinem Mittelfinger schimmert der Siegelring und an seinem Handgelenk eine Uhr. Ein paar schwarze Strähnen fallen ihm in die Stirn, die wie so oft in Falten liegt, als sein Blick zwischen meinem Bruder und mir hin und her schweift.
Ich weiß nicht, worüber er mit uns sprechen will. Gerade eben habe ich noch meine Tüte auf der Galerie im Poolhaus geraucht, während ich durch die Glasfront in den sternenverhangenen Himmel geschaut habe, als Caitlyn reinkam und mir mitteilte, dass Dad Rowan und mich sehen will.
Eigentlich bin ich viel zu stoned, um mich zu konzentrieren. Ich musste mir den Kopf wegkiffen, Scarlett. Denn seit du bei uns im Poolhaus aufgekreuzt bist, bin ich angespannt. Rowan weiß jetzt, dass zwischen uns etwas läuft. Deswegen habe ich ihm gestern, als wir im Casa del Nero
waren, weisgemacht, dass du nur irgendeine Schlampe für mich bist, mit der ich mir die Zeit vertreibe. Aber ich werde jetzt noch vorsichtiger sein müssen. Deswegen habe ich mich gestern und heute nicht bei dir gemeldet oder mich mit dir getroffen. Doch das werde ich bald nachholen.
Jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit erst mal auf meinen Vater, weswegen ich hart blinzle. Mein Blick ist etwas verschwommen.
»Clara Solja und Roman Orlow verstecken etwas«, informiert mein Bruder uns, noch bevor mein Vater etwas sagen kann. Ich weiß, dass Salva sich an Clara gehängt hat, um Informationen aus ihr herauszubekommen. Anscheinend fruchtet sein Vorhaben langsam und unser aller Verdacht, dass die Orlows nicht koscher sind, bestätigt sich mehr und mehr. Anscheinend informiert Salva meinen Bruder nach wie vor über seine Fortschritte und Neuigkeiten, die er so herausfindet. Und das, obwohl die beiden eigentlich zerstritten sind. Ich bin auch immer noch angespannt, was Salva betrifft. Es ist eine Sache, was zwischen meinem Bruder und mir läuft, aber wenn Rowan Probleme mit einem Dritten hat, hat dieser Dritte auch mit mir Probleme. Und so gehe ich Salva aus dem Weg, seitdem er bei uns aufgekreuzt ist und Rowan eine reingehauen hat. Sicher verstehe ich ihn. Sicher hätte ich nicht anders reagiert, wenn es um meine Schwester gegangen wäre, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Die Dinge zwischen Rowan und mir sind sehr speziell und ziemlich verstrickt.
»Ach so? Was denn?«, fragt unser Vater interessiert und hebt die Augenbrauen.
»Salva hat belauscht, wie Clara anscheinend mit ihrer Familie telefoniert und über die Franzosen gesprochen hat.«
»Aha?« Dad wirkt alarmiert.
»Außerdem …« Rowan verschränkt die Arme vor der Brust. Wie schön, dass er wieder etwas in seinem Leben hat, das sein Gehirn auf Trab hält. Das braucht mein Bruder und ich brauche meine Ruhe. »Gehört dieser Code, den Salva Clara entwendet hat, höchstwahrscheinlich zu einem Schließfach der Bank of America
. Und ich bin nicht darauf gekommen.«
Das scheint meinen Vater vor den Kopf zu stoßen und auch ich stocke bei dieser Information. Natürlich, die Bank of America
. Dass Rowan nicht darauf kam, verwundert mich. Wahrscheinlich lenkt ihn die Sache mit Alyssa zu sehr ab. Hoffentlich ist es auch nur Alyssa. Hoffentlich sind es nicht die Gedanken an dich und mich. Er stellt Fragen, das behagt mir nicht. Ich muss ihm nun mehr denn je den fügsamen Rayen vorspielen. Ich darf ihn nicht weiter auf deine Fährte locken.
»Außerdem habe ich mich gestern mit Ana Sanchez unterhalten, sie scheint nicht abgeneigt. Ich will herausfinden, was die Sanchez’ mit den Orlows zu tun haben«, erklärt Rowan weiter und sofort sehe ich, wie der Blick meines Vaters sich verhärtet. Er hasst die Sanchez’ wie die Pest, und auch wenn es sicherlich vorteilhaft ist, dass Rowan Ana um den Finger wickelt und Informationen aus ihr herausbekommen will, ist mir klar, dass meinem Vater die Vorstellung nicht gefällt.
»Bleib an ihr dran, aber sei vorsichtig.« Eindringlich sieht er Rowan in die Augen. »Lass dich nicht manipulieren.« Rowan wirkt, als hätte Dad ihn beleidigt, aber der geht nicht weiter darauf ein. »Haben du und Salva irgendwelche Beweise wegen der Franzosen?«
»Nur das, was er gehört hat«, antwortet Rowan unzufrieden.
»Salva soll versuchen, bei eurem Wochenendausflug Genaueres über Clara Solja rauszufinden. Die Orlows haben doch zugesagt, oder?«
Wenn ich nur an diesen Kindergarten denke, stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich will wirklich nicht mit diesem Haufen Chaoten das Wochenende verbringen – mit ihnen in irgendwelche Berge fahren und keine Fluchtmöglichkeit haben.
»Ja, haben sie«, meint Rowan düster und sieht zu dem schwarzen Haus auf der anderen Seite des Sees, das mal wieder hell erleuchtet ist. Ich kenne meinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass die Tatsache, dass die Menschen dort drüben zurzeit nur das Nötigste mit ihm besprechen, ihn wirklich belastet. Das Problem ist, dass ich für all diese Menschen herhalten muss. Dass meine Zeit mit dir darunter leidet und dass Rowan dadurch so viel aufmerksamer ist.
»Das ist gut«, murmelt Dad und streicht sich durch das Haar. Dann schweift sein Blick zu mir und seine Finger trommeln auf den Tisch. Eine Weile mustert er mich nachdenklich und ich lege den Kopf schief. Was will er denn?
»Ich denke, du wirst nicht mit nach Wisconsin fahren«, erlöst er mich mit einem Mal von all den Qualen. Fast sehe ich den Heiligenschein um Dads Kopf, fast beginnen Engelschöre in meinen Ohren zu singen. Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen, als ein paar Tage ohne diesen Chaoshaufen zu verbringen. Auch wenn ich es zugegeben nicht leiden kann, wenn Rowan zu weit von mir entfernt und somit gefährdet ist, irgendeine Scheiße zu fabrizieren. Er braucht mich. Ich brauche ihn. Und das ist das Krankhafte an unserer Geschwisterbeziehung.
»Wieso nicht?«, fragt mein Pitbull, bevor ich es tun kann.
»Ich brauche Rayen hier«, erklärt Dad und wendet sich wieder an mich. »Ich glaube, es wäre gar nicht schlecht, wenn du dir das Schließfach bei der Bank genauer ansiehst, während die
Orlows mit deinem Bruder und den anderen in der Hütte sind, aber ich werde nochmal mit Donovan deswegen reden.« Was auch immer ich tun muss, ich tue es. »Ich habe außerdem noch ein paar andere Dinge, die erledigt werden müssen, solange die Orlows weg sind, und dafür brauche ich dich.«
»Geht klar«, antworte ich sofort und rutsche tiefer in den Sitz. Ich kann leider nicht verstecken, wie sehr mir das hier gefällt.
»Muss
das Rayen machen?«, fragt Rowan mit erhobener Braue. Was soll ich denn in dieser Hütte? Meinem Bruder dabei zusehen, wie er jetzt zwei Frauen fickt? Ana und Alyssa? Wenn Rowan ein paar Tage weg ist, gibt mir das die Gelegenheit, mich ein wenig mit dir zu befassen. Alleine, und ohne Angst davor haben zu müssen, dass er irgendetwas mitbekommt. Ein paar Tage Auszeit mit dir, sofern es Dereks Aufmerksamkeit zulässt.
Ich denke, Dad könnte jeden diese Dinge erledigen lassen. Aber meine Familie weiß, dass Rowan und ich dann und wann unseren Abstand voneinander brauchen. Vor allem, dass ich
ihn brauche. Deswegen sorgen sie immer wieder dafür, dass ich ihn bekomme.
»Ja, das muss Rayen machen.« Dad lehnt sich zurück. »Und du kümmerst dich um diese Ana und diesen Roman. Ich will Genaueres wissen, wenn du zurückkehrst.«
»Ja. Gut.« Rowan wirkt unzufrieden, aber ich bin extrem zufrieden, Scarlett.
»War’s das?« Ich seufze und Dad winkt ab.
»Du gehst morgen rüber zu Donovan und klärst die Dinge mit ihm, die wir eben besprochen haben«, weist er Rowan noch an. »Zu Donovan. Nur zu Donovan. Verstanden?« Eindringlich bohrt er den Blick in Rowans. Wahrscheinlich, weil besagter Donovan Amok läuft, wenn mein Bruder die Finger nicht von Alyssa lässt. Das wiederum würde ich begrüßen. Alyssa ist eine dieser Frauen, die meinen Bruder wirklich gut von mir ablenken.
»Sicher, Dad«, antwortet Rowan blank und Dad stöhnt auf, weil er wohl genau in Rowans Augen lesen kann, dass er nicht
nur zu Donovan gehen wird.
»Okay, geht einfach. Geht«, scheucht er uns weg, gerade, als sein Handy klingelt und er es vom Schreibtisch nimmt. Rowan und ich stehen auf und ich höre noch Dads »Ja, was?«, während wir das Büro verlassen.
Gemeinsam durchqueren wir das Dachgeschoss, wobei ich bemerke, dass mein Bruder äußerst angespannt ist. Es behagt ihm nicht, von mir getrennt zu sein, aber er wird es überleben.
»Es sind doch nur ein paar Tage«, muntere ich ihn auf und er wirft mir einen blitzenden Blick zu. »Ein paar Tage mit zwei heißen Ladys. Was willst du mehr?« Wir steigen gemächlich die Treppen hinab, während ich versuche, mir meine Freude darüber, abschalten zu können, nicht zu sehr ansehen zu lassen. Rowan und ich sind kurz davor, übel aneinanderzugeraten. Das spüre ich schon länger. Und es ist gut, wenn wir beide einige Zeit ohneeinander verbringen.
»Ich fühle, wie du dich freust«, meint er starr.
»Es ist nicht schlecht, wenn wir ein wenig getrennt sind, Rowan. Das weißt du genauso gut wie ich.« Es ist gerade mal vierundzwanzig Stunden her, dass wir vor dem Casa del Nero
standen und er mich schon wieder gereizt hat. So sehr gereizt. Wenn er sich noch einmal anmaßt, dir zu nahe zu kommen oder sich als mich auszugeben, um seine Spielchen zu spielen, schlage ich zurück. Und zwar bei seiner
Schwachstelle.
»Ja, sicher. Es ist ganz wunderbar, Rayen. Was willst du hier, Caitlyn?«, fragt er im selben Atemzug, noch bevor wir unten angekommen sind. Nach drei weiteren Stufen entdecke ich tatsächlich unsere Schwester, die im Foyer am Treppengeländer lehnt. Eins muss ich Rowan lassen: Man kann sich nicht an ihn heranschleichen. Er ist ein extrem aufmerksamer und viel zu intelligenter Mann. Solche Menschen sind gefährlich, Scarlett.
Aber mach dir keine Sorgen, Babygirl, bevor er dir gefährlich werden kann, werde ich ihm gefährlich.
Caitlyn lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen am Geländer und mustert uns mit einem Blick, den ich zu gut kenne. Sie will irgendwas.
»Ich wollte nur fragen, wann wir in die Hütte fahren«, beginnt sie auch schon. Natürlich verstehen wir beide sofort, was das soll. Sie versucht wohl, Rowan dazu zu kriegen, sie und Keaton mit in die Hütte zu nehmen. Die beiden wurden vor Kurzem fünfzehn Jahre alt und seitdem versucht Caitlyn immer wieder, sich ins Poolhaus zu mogeln, unter uns zu sein, sich fortzustehlen, weil sie wohl glaubt, erwachsen zu sein und Rechte zu haben. Das alles gelingt ihr aber eher schlecht als recht, und auch wenn ich der entspanntere Bruder bin, befürworte ich es, dass Caitlyn nicht von dieser kalten, schmutzigen Welt verschlungen wird. Sie wird später studieren und ein ganz anderes Leben führen.
Rowan hebt auch schon die Brauen und ich seufze schwer. »Rayen, hast du das gerade gehört?«, fragt er gespielt ungläubig und Caitlyn tritt an unsere Seite.
»Hab ich.« Ich werfe unserer kleinen Schwester einen tadelnden Seitenblick zu und sie lächelt mich an. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schiebt sie sich zwischen uns und ich schlinge einen Arm um ihre Schultern.
»Ich will euch gar nicht lange aufhalten«, meint sie. »Aber mir sind ein paar Dinge aufgefallen und ich glaube, du willst wieder mit Alyssa zusammenkommen, Rowan.«
Aha. Eine Erpressung. Fängt ja gut an.
»Mach dir bei mir keine Mühe, Babygirl. Ich komme nicht mit«, weise ich sie sanft hin, bevor sie es versuchen kann.
»Dich hätte ich einfach gefragt«, schnurrt sie und ich zwinkere ihr zu. Mich fragen die meisten einfach, während sie sich bei Rowan die schlimmsten Intrigen einfallen lassen.
»Ach, Caitlyn.« Rowan seufzt und öffnet die Terrassentür. Wir treten in die laue Sommernacht und der warme Wind rauscht durch mein Haar.
»Du hast sie gewürgt und ich glaube nicht, dass Donovan etwas davon weiß. Also der große.« Caitlyn schiebt sich eilig an meine andere Seite, sodass ich zwischen Rowan und ihr über den Pfad gehe, als dessen Blick eiskalt wird. Sie kann sich hinter mir verstecken, aber wenn sie Rowan zu sehr anpisst, kann ich ihn auch nicht zurückhalten. Das hatten wir ja schon.
»Nimm einfach Keaton und mich mit in diese Hütte und ich werde es keinem sagen!« Sie spricht immer hektischer, weil Rowans Blick immer stechender wird. »Weiß Alyssa eigentlich davon, dass du Ana Sanchez anmachst? Ich habe gehört, wie du mit ihr telefoniert hast. Heute Morgen.«
Ich schenke meiner Schwester den Sinke-nicht-auf-dieses-Niveau-Blick und Rowan seufzt schwer. Er scheint ja wirklich Vollgas zu geben, um an Informationen zu gelangen.
»Das Tagebuch, Caitlyn. Willst du wirklich, dass all deine kleinen, süßen Einträge bei Dad landen?«, schießt mein Bruder auch schon ungerührt zurück, während wir auf den Anbau zugehen, und ich mich frage, wann ich dich endlich wiedersehen und diesem ganzen Kindergarten entkommen kann. Was machst du eigentlich gerade? Ich hasse es, das nicht zu wissen. Seit diesem Moment auf dem Parkplatz beschäftigt mich das immer wieder. Immer wieder schießen mir Bilder von dir durch den Kopf. Siehst du ständig auf dein Handy? Wartest du, dass ich mich melde? Natürlich tust du das, denn du würdest dich nie von dir aus melden.
»Außerdem wird Donovan mich erschießen, wenn du ihm etwas erzählst, und du willst nicht dafür verantwortlich sein, dass dein großer Bruder stirbt. Wenn du drohst, dann nur mit Dingen, die du selber ertragen kannst«, reißt Rowan mich aus den Gedanken und öffnet die Tür zum Anbau.
Caitlyn schnaubt frustriert. Ich bin wirklich froh, dass sie nicht mit in diese Hütte fährt. Diese Ausflüge haben immer einen gewissen Höhepunkt, der alles andere als schön ist. Meine kleine Schwester hat bei all diesen Intrigen nichts verloren. Sie soll sich mit ihren Freundinnen im Freizeitpark treffen, Zuckerwatte essen, in die Stadt gehen, sich auf die nächste Klassenstufe vorbereiten und herausfinden, wer mit ihr welchen Kurs belegen wird. Jetzt begreift sie das vielleicht noch nicht, aber diese Ausflüge, Zusammenkünfte, all das, was bei uns zum Alltag gehört, sind einfach nichts für ihre Augen.
Wir betreten den Anbau. Im Flur schalten sich automatisch die Lichter an und aus dem Wohnzimmer dringt ein warmer Schein.
»Oh, Mann …«, murmelt Caitlyn und marschiert mit hängenden Schultern die Treppen nach oben. Ich mag es nicht, wenn meine Schwester traurig ist, aber manchmal ist es besser, als mit unserem wahren Leben konfrontiert zu werden.
Rowan und ich ziehen die Schuhe aus und lugen ins Wohnzimmer zu unserer Linken. Dort finden wir unsere Mutter vor – eingepackt in eine blaue Wolldecke auf der Couch. Ich betrachte sie skeptisch, denn draußen sind es immer noch 23 Grad. Mir läuft der Schweiß über den Rücken und das Shirt klebt an mir. Aber meine Mutter friert. Sie friert immer, Scarlett.
Als sie uns bemerkt, sieht sie von ihrem Buch auf. Wahrscheinlich mal wieder ein russischer Klassiker. Wie immer ist Moms blondes Haar etwas zerzaust, ein Träger ihres weißen Tops zusammen mit der Decke ihre Schulter nach unten gerutscht und die grünen Augen wirken müde. Meine Mutter ist ein Chaos.
Ich lasse meine Schläfe gegen den Türrahmen sinken und Rowan seufzt, während er sich mit dem Ellbogen auf die andere Seite lehnt.
»Oh«, macht Mom und nimmt ihre Lesebrille ab. Sie liebt unseren Anblick ganz offensichtlich, denn ihre Augen werden weich und warm. »Wie geht es euch?«
»Rowan ist ein bisschen angespannt«, ziehe ich ihn auf und tätschle hart seinen Rücken.
»Weil er ohne dich in die Hütte fährt?«, fragt Mom wissend. Ich bin nicht überrascht. Natürlich weiß sie Bescheid, vielleicht hat sie Dad sogar den Floh ins Ohr gesetzt, dass er mich hierbehalten und irgendwie beschäftigen soll. Ich hebe einen Mundwinkel bei dem Gedanken. Meine Mutter tut wirklich alles für mich. Während Rowan Rat bei unserem Vater sucht, wende ich mich an Mom. Während Rowan die Kopfmenschen in unserer Familie bevorzugt, sind es bei mir die Herzmenschen. Rowan liebt Onkel Caden, Dad, unsere Oma Isabelle. Ich liebe unseren Opa Carter, Mom und Tante Alayna.
»Das habt ihr doch schon wieder geplant«, murmelt mein Bruder düster.
»Ja, das haben wir!«, gibt Mom ungeniert zu. »Er muss auch mal ein bisschen atmen.« Sie deutet auf mich, ehe sie nach dem Glas mit dem dampfenden schwarzen Tee greift, das auf dem niedrigen Couchtisch steht.
»Er kann auch mit mir atmen.« Rowan seufzt schwer.
Ja, das konnte ich mal. Früher lagen die Dinge anders. Aber als er Chiara für immer die Luft zum Atmen genommen hat, gelang es mir auch nicht mehr, mit meinem Bruder gemeinsam zu atmen. Damals hat er unwiderruflich etwas in mir zerstört.
»Ist schon gut. Es sind ja nur ein paar Tage und er hat zwei Damen, die ihn beschäftigen werden.« Ich grinse leicht und Rowan kickt mir gegen die Wade. Das gefällt ihm alles nicht. Er will Informationen von Ana. Dad hat bestätigt, dass er auf einem guten Weg ist, aber da sind auch noch die Gedanken an Alyssa, die ebenfalls da sein wird. Und nun fragt Rowan sich, wie er das
hinkriegen soll. Aber das ist nicht mein Problem. Ich werde mich sicher nicht um einen Abschaum namens Sanchez kümmern.
»Wirklich?«, fragt Mom sofort teils alarmiert, teils interessiert. »Welche Damen denn, Rowan?« Oh, das wird ihr jetzt auch nicht gefallen. Weder die eine noch die andere. Aus unterschiedlichen Gründen. Wieder tätschle ich hart Rowans Rücken und er schlägt unwirsch nach meiner Hand.
»Das sage ich dir nicht, Mom!«, speit er aus. Dabei erinnert er mich an sein Kinder-Ich. So stur. So verbissen. So verschlossen. Und innerlich so wütend.
»Ana Sanchez und …« Rowan schubst mich nach hinten, bevor ich Alyssa Bianchi
sagen kann. Ich taumle lachend in den Flur, weswegen ich Moms Reaktion nicht ausmachen kann. »Sorry, ich darf es dir nicht verraten, Mom!«, erwidere ich, während ich den Flur rückwärts Richtung Treppen gehe.
»IST ES ALYSSA?«, will sie wissen.
»ES IST ALYSSA!«, bestätige ich laut, wirble herum und haste immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben, bevor mein Bruder mich erwischen kann. Ich höre noch, wie Mom ihm etwas hinterherruft.
»Du bist so ein Verräter!«, blafft mein Bruder.
Ich husche schnell in mein Schlafzimmer und schlage die Tür hinter mir zur. Schwer atmend und zugegeben etwas belustigt, lehne ich mich an das Holz und höre meinen Bruder noch fluchend vorbeimarschieren.
Erst jetzt fällt mir auf, dass das hier der erste normale Umgang zwischen Rowan und mir seit einem Jahr war. Erst jetzt fällt mir auf, dass es mir gefehlt hat, so unbeschwert mit ihm umzugehen, nichts nachzutragen und einfach pur zu sein.
Erst jetzt fällt mir auf, dass allerdings auch jedes Lachen mit ihm einen bitteren Beigeschmack hat.
Was mir aber nicht erst jetzt auffällt, ist, dass ich meinen Bruder vermisse.
Meinen Bruder
.
Nicht das Monster, zu dem das Leben ihn gemacht hat, Scarlett.