43. Keine Spielchen mehr
(Disasterpeace – Detroit)
01:32 Uhr
Salvatore
Ich sitze auf der obersten Verandastufe vor dem Haus und eine Zigarette qualmt zwischen meinen Fingern. Die Grillen zirpen laut. Das weiße Shirt klebt an meinem Körper und immer noch rinnt der Schweiß von meinem Gesicht. Ich habe gemeinsam mit Igor und Marco Maddox in den Teppich aus meinem Zimmer gerollt. Seine Leiche liegt nun in meinem Kofferraum. Natürlich habe ich sofort den Kopf eingeschaltet und funktioniert, als mir klar wurde, was genau vorgefallen war. Das heißt, ich habe alle Spuren beseitigt. Kein Blut und keine Hirnfetzen mehr auf dem Waldboden oder an diesem Baum. Kein Tatort, keine Leiche, kein Nichts.
Tief ziehe ich an meiner Zigarette und versuche, mich zu ordnen. Denn nun erfolgt das Unausweichliche: Ich muss meinen Vater anrufen und ihn über die jüngsten Ereignisse informieren. Es ist passiert, also müssen wir aufräumen, wie wir es immer tun.
Am Mittag erst habe ich erfahren, dass Clara Solja eine andere ist, als sie vorgab, zu sein. Sie heißt Clarissa Wolkov und ist Aarik Wolkovs Tochter. Somit ist sie die letzte Erbin des Wolkov-Imperiums. Aarik Wolkov wurde im Kindesalter adoptiert und hat Clarissa Wolkov mit Natalia Wolkov gezeugt. Die wiederum war eine echte Wolkov und wurde von meinem Cousin Vito vor zwanzig Jahren getötet. Obwohl Aarik anscheinend noch weitere Kinder hat, sind diese nicht von Wert. Auch die Estebans sind irgendwie involviert, denn nur, weil sie Europa kürzlich angegriffen haben, sind Sergio und seine Familie nach Chicago gekommen. Auch wenn Gabriel Esteban, der Anstifter, mittlerweile tot ist, weiß man nicht, ob sich noch mehr Ratten verstecken. Mit den Estebans hat Aarik schon in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Der Verdacht liegt also nahe, dass er es wieder tut. Vor allem, wenn er seine Tochter genau zu diesem Zeitpunkt beauftragt hat, nach Chicago zu kommen.
Das hat er doch, oder? Nur wie hängt das alles zusammen? Was ist mit besagten anderen Kindern? Stammen sie von Aarik und Amalia? Amalia, die Tochter meines Onkels, die vor Ewigkeiten mit Aarik durchgebrannt ist. Kann es sein, dass sie die Frau an seiner Seite ist? Oder hat er sie schon ausgetauscht und die Kinder sind von wem anders?
Was bedeutet das alles? Schon den ganzen Tag zerbreche ich mir den Kopf darüber, während ich Clarissa beobachte. Ich beobachte sie bei allem, was sie tut, und jedes Mal, wenn sie den Blick erwidert, lächle ich, denn sie darf keinen Verdacht über mein Wissen schöpfen. Ab jetzt werden sich einige Dinge ändern. Ab jetzt bekommt sie Salvatore. Kein Salva mehr für das kleine Wölfchen. Sie hätte mir einfach nicht ans Bein pissen dürfen. Sie hat sich also an mich gehängt, um mich auszuhorchen – natürlich hat sie das. Ich bin immerhin ein de Luca und von großem Wert. Aber ich werde dafür sorgen, dass sie das noch bereut. Wenn ich auch etwas auf Distanz gegangen bin, weil ich mich sammeln musste. Ab morgen werde ich mich wieder sehr ausgiebig um Clarissa kümmern.
Aber jetzt erst einmal bin ich allein. Und Maddox Moreno ist tot. Es führt kein Weg daran vorbei, mit meinem Vater darüber zu sprechen. Deswegen bin ich extrem angespannt.
Doch ich zögere es nicht weiter hinaus, sondern greife nach meinem Handy, das seit zehn Minuten neben mir liegt, entsperre es und rufe an. Ich halte es an mein Ohr, während ich zu meinem offen stehenden Kofferraum sehe, wo der schwarze Teppich herausschaut, genau wie ein kleiner Teil des Kopfes von dem Bastard.
Er hat es verdient. Niemand, der meiner kleinen Schwester wehtun will, hat das Recht zu atmen. Wenn ich genauer daran denke, muss ich mich wieder extrem zur Kontrolle zwingen, denn sofort rauscht die Wut durch mich. Ich pumpe meine Faust und lockere meine Schultern.
»Ja?«, fragt mein Vater klar, womit er meine Gedanken durchbricht und meine Rage stoppt. Ich habe ihn nicht geweckt, wie ich an seinem Tonfall bemerke. Wahrscheinlich hält ihn die Wolkov-Angelegenheit wach. Dazu kommt auch noch die mutmaßliche Sorge um meine Schwestern, denn die Sache mit Cristiano ist noch sehr frisch. Cristiano, der die Prügel seines Lebens einstecken musste, weil er – was weiß denn ich – Ilaria angemacht hat? Jedenfalls war es sicher nicht gerechtfertigt. Ilaria habe ich übrigens eine Weile schon nicht mehr gesehen, aber auch Marcello ist nicht da, also gehe ich davon aus, dass sie sich zurückgezogen haben. Gefällt mir zwar nicht, ist aber immer noch besser, als sie in der Gegenwart von einem der anderen zu wissen.
Ich lasse meinen Blick über die Tannenwipfel gleiten, hinter denen die Sterne funkeln.
»Hi, Dad«, begrüße ich ihn und straffe mich etwas. Normalerweise posaune ich die Wahrheiten bei ihm gerne einfach raus. Nur, um ihn zu überrumpeln und zu reizen. Aber jetzt ist kein guter Zeitpunkt für Spielchen. Ich glaube, es hat sich zu allen Seiten ausgespielt.
»Was ist passiert?«, erkundigt er sich sofort wissend, weil er meinen Tonfall richtig einordnet.
Nun ja, was ist passiert? Ich war gerade dabei, mich zurückzuziehen, als ich einen Schuss im Wald gehört habe. Natürlich war ich der Einzige, weil alle anderen völlig auf MDMA oder nicht anwesend waren. Jeder war mit sich selbst beschäftigt, die meisten haben in ihren Zimmern gevögelt. Also bin ich in den Wald gespurtet und habe dort meine Schwester in inniger Umarmung mit Donovan gefunden – den toten Maddox zu ihren Füßen.
»Maddox Moreno ist tot«, erkläre ich und balle wieder eine Faust.
Kurz ist es still. Mit jeder Sekunde beschleunigt sich mein Herzschlag. »Wieso ist Maddox Moreno tot, Salvatore?«, fragt mein Vater gereizt.
Weil er meine kleine Schwester vergewaltigen wollte. Hätte Donovan ihn nicht erschossen, hätte ich diesen widerlichen Mexikaner totgeprügelt, bis er an seinem eigenen Blut erstickt wäre. Ich öffne meine Faust wieder.
»Er hat versucht, Alyssa zu vergewaltigen«, erkläre ich hohl.
Jetzt keucht er, während ich gegen den Drang ankämpfe, auf irgendetwas einzuschlagen. Krampfhaft versuche ich, mich zu lockern, wozu ich den Kopf von links nach rechts bewege. Dabei bemerke ich, dass die Haustür in meinem Rücken sich leise öffnet, und wende meinen Blick über die Schulter.
Es ist Rowan, der gerade rauskommt. Ich deute ihm, sich neben mich zu setzen, und ziehe wieder tief.
»Dad?«, frage ich, als mir auffällt, dass er immer noch nichts gesagt hat, während Rowan neben mir Platz nimmt und die Hände aneinander reibt.
»Also hast du ihn erschossen?«, erkundigt sich mein Vater. Nein, eigentlich war es Donovan und er stand unter Schock. Natürlich tat er das, niemand hier steckt es einfach so weg, einen Menschen umzubringen. Egal, wie wir uns zeigen. Egal, wie wenig Schwäche wir uns anmerken lassen wollen und womit wir diese Schwäche betäuben.
»Ja, ich habe ihn erschossen.« Natürlich werde ich Dad nicht verraten, dass es Donovan war. Denn Donovan hat zu wenig mit all dem hier zu tun und würde nur unnötig in Gefahr geraten. Außerdem würde Dad den nächsten Herzinfarkt kriegen, diesmal zusammen mit Sergio, weil Donovan so etwas noch nie gemacht hat und unschuldig ist. Ich hingegen stecke schon drin. Es stellt also keinen Unterschied für mich dar, ob einer mehr oder weniger auf meiner Liste steht.
»Gut …«, sagt mein Vater bemüht gefasst. »Das ist nicht gut.«
»Nein, das ist es nicht«, meine ich immer noch angespannt, weil ich auf die Vorwürfe warte. Ich schnippe meine Zigarette weg, während ich spüre, wie Rowan mich beobachtet. Wahrscheinlich will er Antworten wie jeder andere hier auch.
»Gut.« Mein Vater schaltet hörbar in den Kopfmodus.
Was hat meine Schwester überhaupt allein im Wald getrieben? Was sollte das alles und wieso habe ich sie nicht gehen gesehen? Seit wann bin ich so unaufmerksam?
»Beseitige ihn.«
Ich lasse meinen Blick zu dem offen stehenden Kofferraum wandern. »Mach ich.«
»Hat es irgendjemand mitbekommen?«
»Niemand, der es weitersagen würde«, antworte ich ruhig und streiche mir durch das Haar.
»Wer hat es denn mitbekommen?«, will mein Vater wissen.
»Es wissen Alyssa, ich, Marco, Igor und Rowan.« Letzteren füge ich hinzu, weil er gerade die Leiche in meinem Kofferraum sieht, die er tödlich mustert. Wäre Maddox nicht schon tot, würde er jetzt durch Rowans Blick sterben.
»Wir werden einfach so tun, als wäre nichts. Wenn jemand fragt, hast du keine Ahnung, wo er ist. Er hat Drogen genommen und ist verschwunden. Ihr wisst alle von nichts«, weist mein Vater mich an und ich nicke.
»Er ist im Wald spazieren gegangen und kam nicht mehr zurück«, vervollständige ich die Lüge, die mir leichter von den Lippen geht als all die Wahrheiten, die ich in mir trage und über die nur ich Bescheid weiß.
»Gut«, seufzt Dad schwer. »Was hat denn Alyssa im Wald gemacht?«
Jetzt beginnt es.
Ich sehe zu Rowan, der starr den Kofferraum im Blick hält. »Ich weiß nicht, was sie im Wald getrieben hat. Sie war da eben.« Rowan streicht sich über das Gesicht. »Ich bin Maddox hinterhergegangen«, wiederhole ich die Worte, die Donovan vorhin gesagt hat. »Und dann habe ich ihn mit Alyssa gefunden. Er hatte sie an einen Baum gedrückt, also habe ich geschossen.«
Rowan streicht sich durch das schwarze Haar, bevor er geschlagen die Lider schließt. Wahrscheinlich fühlt er sich genauso schuldig wie ich.
»Geht es ihr jetzt gut?«, fragt mein Vater.
»Sie ist in ihrem Zimmer«, meine ich. »Ich werde später nach ihr schauen.«
Dad flucht auf Italienisch. Das tut er, wenn er wirklich außer sich ist. Ich sage ihm jetzt nicht schon wieder, dass er sich beruhigen soll, wie ich es seit seinem Herzinfarkt fünfmal am Tag mache.
»Okay, okay, was passiert ist, ist passiert. Hauptsache, deine Schwester wurde nicht verletzt.« Äußerlich nicht so schlimm, aber ich weiß nicht, was das in ihr bewirkt hat.
»Ja, es geht ihr so weit gut.« Fragend sehe ich zu Rowan, denn ich habe eigentlich keine Ahnung, wie es ihr gerade geht, weiß aber, dass er bis eben bei ihr war.
»Sie schläft«, murmelt der mir zu und ich nicke erleichtert.
»Ich werde ihn gleich beseitigen. Wie soll ich es machen?« Ich will nicht, dass jemand Maddox im Nachhinein noch ausbuddelt. Sogar wenn ich ihn verbrenne, ist die Gefahr zu groß, dass Reste gefunden werden. Wir können uns einen Krieg mit den Mexikanern gerade wirklich nicht leisten.
Dad scheint zu überlegen und ich warte. »In Madison befindet sich ein Schlachthaus, wo du ihn entsorgen kannst. Ich schicke dir die Adresse«, meint er zerstreut. Er will wohl auch keine Spuren hinterlassen. Ich nicke vor mich hin, denn das ist eine gute Idee. Normalerweise würde ich zwei oder drei Männer losschicken, die das erledigen, aber ich will mich persönlich um diesen Fall kümmern. Niemand arbeitet so gründlich wie man selbst.
»Okay.« Ich streiche mir über das Gesicht.
»Gut, sag mir dann Bescheid«, erwidert Dad noch leiser.
»Mach ich. Bis später.«
»Bis dann.« Die Leitung klackt und ich stecke mein Handy ein, sobald er aufgelegt hat. Ich hoffe, er ruft mich nicht nochmal an. Fürs Erste schien er nur kurz außer sich zu sein, und das ist gut. Aber es kann immer sein, dass er sich hineinsteigert und sich erneut meldet, um die Dinge genauer zu hinterfragen.
Ich lasse den Blick zu Rowan schweifen.
»Was ist genau passiert?«, fragt der mich sofort. Sein Blick ist jetzt noch aufgewühlter und er reibt mit seinem Daumen über den Handballen.
»Wo warst du?«, will ich als Erstes wissen, denn eigentlich hat er immer ein Auge auf meine Schwester. Ja, ich gebe gerade die Verantwortung an ihn weiter. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Scheiße.
»Ich war im Zimmer«, gibt er unwillig zu und Schuld blitzt durch seine Augen.
»Wieso war sie im Wald?«
»Wir haben uns gestritten«, erklärt Rowan leise. Jetzt ergibt wenigstens das Puzzle in meinem Kopf einen Sinn. Natürlich ist Alyssa daraufhin geflüchtet, weil es das ist, was sie tut. In der Hinsicht ist sie wie Mom. Sie rennt davon. Schreiend. Vor allem im Streit.
Ich streiche mir wieder durch das Haar. »Keine Ahnung, was genau war. Ich kam erst später dazu.« Dabei werde ich auslassen, wie ich meine Schwester vorgefunden habe. »Anscheinend hat Maddox versucht, sie zu vergewaltigen … und Donovan hat ihn erschossen. Aber das bleibt unter uns.«
Jetzt mustert Rowan mich wirklich ungläubig. So habe ich mich auch gefühlt, als ich begriff. »Donovan?« Aha, meine Schwester hat ihm also nicht erzählt, was genau los war.
»Er hat gesehen, wie Maddox in den Wald verschwunden ist, und ist ihm gefolgt. Maddox war abgelenkt von Alyssa und hat sie mit einem Messer bedroht, also hat Donovan Maddox’ Waffe gezogen und ihn erschossen.«
»Oh, fuck.« Rowan streicht sich hart über das Gesicht. »Wie geht es ihm?«
»Steht unter Schock, aber das wird schon wieder. Beim ersten Mal ist es immer besonders schlimm.« Ich betrachte die Weide uns gegenüber, deren Blätter im Wind rauschen.
»Das hätte ich ihm gern erspart«, murmelt Rowan und ich nicke zustimmend. Es gibt einfach Dinge, die wünscht man nicht mal jemandem, den man nicht leiden kann oder mit dem man nicht zurechtkommt.
»Wie geht es Alyssa?«, will ich jetzt nochmal ehrlich von ihm wissen.
Rowan runzelt die Stirn. »Sie steht unter Schock und hat kein Wort gesagt. Ich habe sie unter die Dusche gestellt. Jetzt versucht sie, zu schlafen.«
»Gut.« Tief atme ich durch und schaue wieder zu dem Teppich in meinem Kofferraum. Mit einem Druck auf den Schlüssel, den ich aus meiner Hosentasche ziehe, schließt sich die Klappe und Maddox verschwindet aus unserem Sichtfeld, aber nicht aus unserem Gedächtnis. Das tun sie nie.
»Wir können froh sein, dass Donovan ihn erwischt hat«, murmelt Rowan, während die Blinker meines Autos aufleuchten.
Ich lasse meine Schultern rollen. Der Gedanke, dass ich nicht da war, als meine Schwester mich gebraucht hat, behagt mir überhaupt nicht. Schon, wenn es um Ilaria geht, fühle ich mich die meiste Zeit beschissen. Aber ich weiß, dass es egal ist, wie sehr ich Marcello zusammenschlage, bedrohe, dumm anmache oder anbrülle – solange sie bei ihm sein will, wird sie einen Weg finden. So sind meine Schwestern beide.
Aber mir ist klar, dass ich mich jetzt wieder mehr konzentrieren muss. Ich darf mich von Clarissa nicht so ablenken lassen. Und ja, sie ist wirklich sehr ablenkend. Die Informationen, die ich erhalten habe, haben mich den ganzen Tag beschäftigt, deshalb war ich ein paarmal nicht ansprechbar, weil ich meinen Gedanken nachhing.
»Ich weiß«, erwidere ich leise und straffe mich. »Ich beseitige ihn jetzt in einem Schlachthaus. Wenn jemand fragt: Er war spazieren und dabei total dicht. Wir wissen nicht, wo er ist. Und wenn mein Vater oder Sergio fragen, war ich es.«
»Ich sage es den anderen.«
Alles wie immer. Ich nicke, bevor ich mich am Geländer hochziehe. Rowan erhebt sich auch. Wir tauschen noch einen Blick. Wir sind meistens diejenigen, die alles zusammenhalten. So was wie Hütehunde in dieser riesengroßen Schafsherde.
Rowan wendet sich ab und verschwindet wieder ins Haus. Der Kies knirscht unter meinen Schritten, als ich mich zwischen meinen Audi und Marcellos Mercedes schiebe, anschließend meine Tür aufziehe und mich auf den Sitz fallen lasse.
Ein paar Sekunden nehme ich mir, um den Kopf anzulehnen, und atme tief durch.
Ich werde Maddox jetzt einfach zerhacken. Das habe ich schon zweimal mit wem anders getan. Dann ist es vorbei. Es hängt zu viel davon ab, dass das hier richtig und sauber gemacht wird. Ich will keinen Krieg mit den Mexikanern riskieren, nur weil irgendwer beim Aufräumen geschlampt hat. Mein Vater achtet immer penibel darauf, Kriege zu vermeiden, und das ist etwas, worin ich mit ihm übereinstimme.
Ein Klopfen am Beifahrerfenster lässt mich zusammenzucken und mein Blick schießt nach draußen. Als ich erkenne, dass es Clarissa ist, die in mein Auto linst, verschließt sich prompt alles in mir. Gleichzeitig wirbelt es durcheinander. Ich mahle mit den Zähnen. Was zum Teufel macht sie denn jetzt hier? Wie viel hat sie mitbekommen und wie viel davon wird sie ihrem Daddy erzählen? Wird er es gegen uns verwenden? Haben die Mexikaner auch etwas mit Aarik Wolkov zu tun?
Trotz all der Bedenken darf ich allerdings nicht aus meiner Rolle fallen. Also deute ich ihr, die Tür zu öffnen. Clarissa tut, wie ihr geheißen und lässt sich einfach in ihrem schwarzen Kleid auf meinen Beifahrersitz sinken. Ich kann sie nur anstarren. Was wird das denn jetzt? Ich verkrampfe meine Finger am Lenkrad und mahle intensiver mit meinen Zähnen.
»Was machst du?«, fragt sie besorgt. Mit einem Mal kann ich ihr keine einzige Gefühlsregung mehr abkaufen und ganz sicher werde ich diese kleine Spionin nicht in unser Geheimnis einweihen. Ab sofort werde ich sehr genau darauf achten, was ich ihr erzähle. Allerdings muss ich auch aufpassen, dass sie mir weiterhin verfallen bleibt und keinen Verdacht schöpft. Nach dem letzten Nachmittag ist es besonders wichtig. Denn seit ich weiß, wer sie ist, fällt es mir nicht mehr so leicht, den perfekten Romeo zu spielen.
»Ich muss noch was erledigen und kann dich nicht mitnehmen«, sage ich sanft, obwohl ich so aufgewühlt bin. Ich schaffe es sogar, bedauernd zu lächeln. Was mich am meisten ärgert? Obwohl ich mich so verarscht fühle, verstehe ich sie. Immerhin tue ich für meine Familie das Gleiche wie sie anscheinend für ihre. Und noch schlimmer? Obwohl ich es weiß, will ich sie noch.
»Du meinst, du musst Maddox Moreno entsorgen?«, gibt sie mir zu verstehen, dass sie genauestens im Bilde ist. Alles in mir erstarrt zu Eis. Sie weiß es also. Woher? Hat sie gelauscht? Lauscht sie öfter? Was wird sie jetzt tun? Arbeitet ihr Vater wirklich mit den Sanchez’ zusammen? Was passiert, wenn er erfährt, dass wir einen der Morenos umgebracht haben? Wie tief stecken die Mexikaner mit drin?
Ich muss mich davon abhalten, Clarissa einfach das Genick zu brechen – schlichtweg um der Gefahr vorzubeugen, dass sie reden könnte. Aber das wäre natürlich auch nicht förderlich, wenn man keinen Krieg riskieren will.
Ihre Schultern spannen sich etwas an, als sie wohl meine Schwingungen empfängt.
»Ich bin deiner Schwester gefolgt, als sie in den Wald verschwunden ist, und habe alles gesehen. Bevor ich etwas tun konnte, war Donovan da. Maddox hat es verdient«, erklärt Clarissa leise. »Ich sage es keinem.« Aber wie soll ich einer Wolkov-Brut vertrauen? Wie soll ich ihr je wieder was glauben? Was macht sie wirklich in Chicago? Was will Aarik Wolkov von uns?
Immer noch bin ich angespannt und nehme den Blick nicht von ihren dunklen Augen. »Was hast du denn gesehen, Clara?« Was für ein Hohn, sie mit diesem Namen anzusprechen, der nicht ihrer ist. Hat sie deswegen in den letzten Tagen zweimal am Pool nicht reagiert, als einmal Ana Sanchez und einmal Eugen Terekov nach ihr gerufen haben? Weil sie diesen Namen eigentlich nicht gewohnt ist.
»Ich habe gesehen, wie dieser widerliche, kleine Wichser deine Schwester angefasst und Donovan ihn erschossen hat«, erklärt sie klar und deutlich. In ihren Augen blitzt es. Mit jedem Wort erstarrt es mehr in mir. Mit jedem Wort balle ich meine Faust fester.
»Ich wollte ihn eigentlich selber erschießen, aber dann war Donovan schon da«, endet sie. Und jetzt? Das soll ich ihr glauben? Oder sagt sie das nur, um sich einzuschmeicheln? Sollte mir das nicht scheißegal sein?
In Ordnung.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder nehme ich sie mit und lulle sie etwas ein, beschwichtige sie, vermittle ihr Sicherheit, damit sie nicht redet. Oder ich lasse sie hier und riskiere, dass sie gleich bei ihrem Daddy anruft und wir in Chicago mit Kalaschnikows begrüßt werden.
Die Entscheidung ist nicht schwer. Ich muss einfach dafür sorgen, dass sie die Klappe hält, denn diese Leiche in meinem Kofferraum wird bald steif werden, also muss ich jetzt handeln. Ich werde Clarissa mitnehmen.
»Wenn jemand fragt, ist Maddox spazieren gegangen. Keiner weiß, wo er ist. Verstanden?«, frage ich hohl und starte den Motor. Clarissa zieht die Tür hinter sich zu, legt ihre Hand einfach auf meine und verschränkt unsere Finger.
»Verstanden«, meint sie entschlossen. Ich sehe zwischen ihren dunklen Augen hin und her, während ich ihre Hand etwas zu fest halte.
Nein, ich werde sie nicht brechen.
Weder ihre Finger noch ihr Herz. Nicht jetzt.
Also lächle ich und ziehe den Schalthebel nach unten.
»Schnall dich an.«
Was für ein Hohn.