54. Meine Art der Liebe, Alyssa
(POWERS – Man On The Moon)
Rowan
Ich stehe auf der Galerie im Poolhaus, Alyssa.
Meine Hände habe ich auf das Fensterbrett gestützt und sehe hinüber zu dem dunklen Haus auf der anderen Seite des Sees. Dort bist du, Alyssa. Ein paar Schritte von mir entfernt und doch so weit weg.
Wie ist das eigentlich passiert?
Und wie kann ich es wieder rückgängig machen?
Mein ganzer Körper ist starr. Ein Teil von mir ist in dem Moment erfroren, als ich bemerkt habe, was dir in diesem Wald zugestoßen ist. Ich hätte besser aufpassen müssen. Das wird nicht noch einmal geschehen.
Langsam hebe ich die Hand, in der ich eine brennende Zigarette halte, und ziehe daran. Allein der Anwesenheit meines Bruders hast du es zu verdanken, dass ich jetzt nicht bei dir bin und dich auf Schritt und Tritt überwache. Ich weiß, dass ich nicht völlig durchdrehen darf. Aber die Tatsache, dass Donovan
Junior und seine gesamte Familie in den nächsten Tagen zu euch ziehen werden, macht es auch nicht leichter. Alyssa, was soll das überhaupt?
Das hat meine Mutter vorhin erzählt. Mir ist ihr lauernder Blick in meine Richtung natürlich nicht entgangen. Genau wie die Warnung in ihren Augen. Aber sie muss mich nicht warnen, Alyssa. Ich weiß, was ich tue. Ich weiß es ganz genau. In der Hütte wusste ich es nicht. Und jetzt hast du gesehen, was passiert, wenn ich nicht aufpasse. Wieder ziehe ich an der Zigarette und sehe über den aufgewühlten See.
Ich war nicht für dich da. Das wird nicht nochmal so sein. Gleichzeitig sage ich mir immer wieder, dass bei deinem Vater genug Männer herumlaufen, dass sie dort auf dich achten und ich mich etwas entspannen kann.
Ich kann mich aber nicht entspannen. Denn es hat dir jemand wehgetan. Niemand hat dir wehzutun. Niemand hat dich anzufassen. Niemand hat dich zu ficken. Niemand. Wirklich niemand, außer mir.
Wenn es noch einmal jemand versuchen sollte – ob verwandt oder nicht –, wird er sich wünschen, niemals geboren worden zu sein. Mir reicht es nämlich. Mir reicht es mit all diesen Männern – den Bodyguards, den Morenos oder den Donovans. Alyssa, willst du, dass ich durchdrehe? Willst du das Monster entfesseln? Ich denke nicht. Niemand will das. Wirklich niemand.
Donovan hat keine Ahnung, was er mit seiner kleinen Kampfansage in mir angerichtet hat oder wie gefährlich es jetzt für ihn ist. Aber ich halte mich zurück. Schließlich hat er dein Leben gerettet. Davon abgesehen, gehört er zur Familie, was ich nicht vergessen sollte. Rayen hat recht. Oder Dad? Irgendjemand hat so etwas zu mir gesagt, aber ich weiß nicht mehr, wer es war.
Ich bin durcheinander.
Ich bin müde.
Und gleichzeitig aufgekratzt.
Meine Gedanken sind extrem sprunghaft. In einer Sekunde denke ich darüber nach, ob Donovan dich wohl anfasst. In der nächsten frage ich mich, was Sienna wohl gerade macht. Ich verenge meine Lider, weil ich ihr Rätsel immer noch nicht entschlüsselt habe. Das geht einfach nicht. Ich bin neben Onkel Caden die schlaueste Person an der Seaside und ein ungelöstes Rätsel ist – um es in Salvas Worten auszudrücken – für mich ein Hohn.
Sie kostet nichts, aber du zahlst einen hohen Preis, wenn du sie verlierst.
Was soll das sein? Die Würde?
Man kann sie nicht sehen, aber sie begleitet einen überall hin.
Was zum Teufel meint Sienna Esteban? Die Leidenschaft? Aber diese begleitet nicht jeden Menschen. Manche wissen gar nicht, was wahre Leidenschaft ist.
Ich trommle mit den Fingern auf das Fensterbrett.
Du kannst sie für dich behalten oder mit jemandem teilen.
Deine Hingabe?
Deine Frau? Wohl eher nicht, außer man heißt Marcello de Luca und besitzt keinen Funken Ehre.
Ich komme einfach nicht darauf und das macht mich wirklich wahnsinnig. Also stoße ich mich vom Fenster ab und durchquere die Galerie mit fünf Schritten. Hart stütze ich mich auf die Brüstung und sehe nach unten, wo mein Bruder sich befindet. Rayen steht hinter der Bar und mixt uns etwas zu trinken. Er versucht, mich zu beschwichtigen, und ich muss sagen, dass mir das wirklich guttut, was ich ihm aber niemals mitteilen würde. Den letzten Tag war er unauffindbar und ich weiß nicht, ob es stimmt, was er mir vorhin am Auto gesagt hat. Hat er wirklich nicht sein Herz verloren? Ich hoffe für ihn, dass dies nicht der Fall ist. Ich hoffe, dass Rayen mich nicht zu weiteren Schritten
zwingen wird. Aber jetzt erst mal ist er hier. Ich bin hier. Du bist zu Hause und ich habe dieses verdammte Rätsel immer noch nicht gelöst. Vielleicht kann mein Bruder mir ja weiterhelfen.
»Sie kostet nichts, aber du zahlst einen hohen Preis, wenn du sie verlierst. Man kann sie nicht sehen, aber sie begleitet einen überall hin. Du kannst sie für dich behalten oder mit jemandem teilen. Sie ist stark und mächtig, aber wenn sie bricht, bricht sie für immer«, rufe ich. »Was ist das?«
Rayen stellt die Flasche ab und sieht zu mir hoch. Ein paar Sekunden starrt er mich nachdenklich an, ohne zu hinterfragen, wie ich auf die Idee komme, ihm jetzt dieses Rätsel zu stellen. Er ist es bereits gewohnt, dass meine Gedanken meist nicht nachvollziehbar sind. Für andere zumindest. Für mich nicht.
Schließlich blitzt es in seinen Augen auf. »Ist doch klar. Es ist die Liebe«, antwortet er locker. Ich erstarre, während er gelassen weiter die Drinks mixt.
Siehst du, Alyssa, das ist der Unterschied zwischen meinem Bruder und mir. Und wahrscheinlich auch zwischen Sienna und mir. Rayen hat nicht einmal eine Minute gebraucht, um dieses Rätsel zu lösen, weil er im Gegensatz zu mir weiß, wie sich die pure, reine Liebe anfühlt. Aber meine Liebe ist nicht pur und rein. Meine Liebe kostet dich alles. Sie begleitet dich nicht nur, sie vereinnahmt dich völlig. Ich behalte meine Liebe für mich, aber verlange sie gänzlich von dir. Meine Liebe kann nicht brechen, weil sie aus Eisen besteht.
Vielleicht sollte Sienna Esteban das wissen.
»Wie kommst du darauf?«, erkundigt mein Bruder sich nun doch, während er Zitronen schneidet.
»Nur so«, meine ich abwinkend, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und trete zurück ans Fenster. Ich werde Rayen nichts von Sienna erzählen. Niemand wird von ihr erfahren, bis ich sie nicht völlig gecheckt habe. Bis ich nicht alles
von ihr weiß.
Ich suche ihre Nummer aus meinem Telefonbuch, die mir Olson besorgt hat.
Ich öffne den noch leeren Chat.
Meine Liebe ist nicht pur und rein.
Meine Liebe kostet dich alles.
Sie begleitet dich nicht nur, sie vereinnahmt dich völlig.
Ich behalte meine Liebe für mich, aber verlange sie gänzlich von dir.
Meine Liebe kann nicht brechen, weil sie aus Eisen besteht.
Meine Liebe ist anders als deine.
Ich schicke die Nachricht einfach ab und drücke die Zigarette im Aschenbecher aus. Gerade, als ich mein Handy einstecken und nach unten gehen will, vibriert es und ich stocke.
Auch deine Liebe zu dir selbst?
Ich spüre, wie ein Lächeln meinen Mundwinkel hebt.
Die meisten Menschen lieben sich nicht selbst, tippe ich, während ich die Treppe im Poolhaus nach unten steige. Die meisten Menschen zerstören sich auf so viele Arten und wissen gar nicht, dass sie es tun. Sofort zeigt der Chat mir an, dass Sienna zurückschreibt. Kurz darauf erscheint die Nachricht.
Das sind diejenigen, die einsam sind.
Jetzt verstehe ich es. Deswegen ist sie nicht einsam – weil sie diese pure, reine Liebe in sich trägt und nicht diese vergiftende, alles verschlingende.
Dann solltest du lieber alleine bleiben, kleine Lady.
Sonst wird sie noch von irgendjemandem vergiftet und diese Selbstliebe, die sie beschrieben hat, zerstört. Ich tue das mit den Menschen in meinem Umfeld. Ich zerstöre jegliches Selbstwertgefühl und nehme jede Individualität. Ich mache mir
da nichts vor. Ich bin nicht nett und rein, aber ich bin wie gesagt auch kein Lügner.
Seufzend lasse ich mich auf die weiße Couch sinken, ohne den Blick von meinem Handy zu nehmen.
Okay, und was willst du für eine Belohnung?, fragt Sienna Esteban. Wieder muss ich lächeln. Ich werde ihr jetzt ein Geschenk machen und nichts von ihr verlangen. Erst mal. Aber bald wird sich das ändern. Immer erstmal in Sicherheit wiegen.
Gar nichts.
Als Antwort erhalte ich ein Foto. Auf diesem ist Sienna kopfüber zu sehen, anscheinend liegt sie auf einem Bett oder einem Sofa. Ihr dunkles Haar ist über ihrem Kopf ausgebreitet. Das Lächeln, was ihre vollen Lippen ziert, ist so natürlich und offen. Der Blitz der Kamera spiegelt sich in ihren dunklen Augen. Ich lege meinen Kopf schief, als ich das Foto betrachte. Diese Frau ist wirklich sehr hübsch, das kann ich nicht leugnen.
Menschen, die nichts einfordern, sollte man etwas schenken, steht darunter. In meiner Brust verkrampft es sich kurz. Was soll das? Will sie mich mit dieser Freundlichkeit einlullen, oder ist sie wirklich so?
Danke für dein Lächeln, schreibe ich und speichere das Foto in meiner Galerie. Das ist das erste freiwillige Geschenk, das ich ohne Erpressung, Manipulation oder eine Intrige erhalten habe und es fühlt sich gut an. Zu gut. Das ist gefährlich, wie ich sehr genau weiß.
Sienna schickt ein schwarzes Herz, dann geht sie offline und ich lehne den Hinterkopf an. Hinter meinen Schläfen pocht es dumpf.
So schlau, wie ich bin; so sehr, wie ich auch plane, und so heftig, wie ich auch grüble, es gibt einiges, von dem ich keine Ahnung habe. Allem voran, wer Sienna Esteban wirklich ist und was sie hier in Chicago macht. Ich weiß nur, dass sie einer gegnerischen Familie angehört und sich auf der anderen Seite des Schachbretts befindet, das sich mein Leben nennt.
Ist Sienna Esteban vielleicht eine schwarze Königin? Will sie uns alle schlagen? Was für eine Rolle spielt Clarissa Wolkov und welche Figuren werden noch auf dem Feld erscheinen?
Aber egal, was auch immer geschehen wird, ich kenne meine Seite. Sie ist weiß und rein. Du bist meine weiße Königin und du stehst neben mir, ob du willst oder nicht.
Ich werde alles vernichten, was dir schaden könnte.
Ich werde alles opfern. Egal, ob Kopf oder Herz.
Und dafür will ich genau das von dir.
Denn das ist meine Art zu lieben – und das solltest du besser niemals vergessen. Meine Schöne.