G egen 13.00 Uhr beginnen Polizisten, die Via dei Fori Imperiali am Kolosseum abzusperren. Sogar die Fußgängerwege werden mit gepanzerten Autos blockiert. Touristen wundern sich, dass an diesem herrlichen Herbsttag auch die U-Bahnstation am Kolosseum geschlossen ist. Währenddessen verkünden Anzeigetafeln, dass das Kolosseum erst am nächsten Tag wieder öffnen wird.
In der Via Labicana, nahe dem Eingang zur ehemaligen Villa des Kaisers Nero, stehen Sondereinheiten der besonders trainierten Grenzschutzgruppe des Zolls. Sie bewachen die Hauptzufahrtswege zum größten Amphitheater der Welt. Es herrscht höchste Alarmstufe.
Der Papst will mit Religionsführern aus der ganzen Welt, Muslimen, Juden, Hindus und Buddhisten, im Kolosseum für den Frieden beten. Die Veranstaltung genießt an diesem Tag absolute Priorität. Eine Einsatzgruppe der Polizei sammelt sich am Anfang der Via San Giovanni in Laterano gegenüber dem Kolosseum.
Hier liegt das römische Gay Village. Seit vielen Jahren haben sich hier Cafés und Lokale etabliert, die spezialisiert sind auf ein homosexuelles Publikum. Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, die sogenannte LGBT -Gemeinde, haben hier einen geschützten Treffpunkt in Rom. Ganz am Beginn der Straße, nur einen Steinwurf vom Kolosseum entfernt, liegt das berühmteste LGBT -Café mit dem Namen »Coming Out«. Weil es in der Vergangenheit zu Übergriffen gegen Besucher des Gay Village kam, kontrolliert hier abends die Polizei die Umgebung, um die Gäste zu schützen.
An diesem warmen Nachmittag versammelt sich eine Gruppe Polizisten am Eingang der Straße. Einige der Beamten haben noch gut in Erinnerung, wie es im Juli 2000 zu Ausschreitungen zwischen Unterstützern und Gegnern der LGBT -Bewegung kam, nachdem Papst Johannes Paul II . versucht hatte, die römische Gay Pride Parade im Heiligen Jahr um jeden Preis zu verhindern. Den Demonstrationszug der LGBT -Gemeinde hatte der Papst als »eine Beleidigung« der Stadt Rom bezeichnet und Homosexuellen immer wieder vorgeworfen, gegen Gottes Gesetze zu leben.
Sein Nachfolger Papst Benedikt XVI . hatte den vollen Zorn der LGBT -Gruppen gespürt, als er im Januar des Jahres 2014 eine der ältesten Universitäten der Welt, die Sapienza in Rom, besuchen wollte. Der Papst aus Deutschland hatte homosexuelle Menschen als Frauen und Männer bezeichnet, denen Gott »eine schwere Prüfung« auferlegt habe. Der Zorn der LGBT -Gemeinde vermischte sich mit der Ablehnung einiger Wissenschaftler, die nicht akzeptieren konnten, dass Joseph Ratzinger der Meinung war, der Prozess der Kirche gegen Galileo Galilei sei vollkommen in Ordnung gewesen. Auf dem Universitätsgelände war es zu Ausschreitungen mit der Polizei gekommen.
An diesem Nachmittag am Kolosseum wartet eine Gruppe Polizisten auf die Anweisung, eine Barriere zu bilden, um zu erwartende Proteste der LGBT -Gemeinde gegen den Besuch des Papstes abzuwehren. Doch der Kommandant winkt ab. Die Zeiten haben sich geändert. Angesichts der Veränderungen im Vatikan, die Papst Franziskus durchgesetzt habe, sei von lauten Protesten im Gay Village nicht mehr auszugehen.
Die Cafés und Restaurants im Gay Village sind an diesem Nachmittag gut besucht. Die Menschen genießen das warme Wetter, und in der Tat gibt es noch nicht einmal einen Ansatz von Protest gegen diesen Papst, als er im Kolosseum eintrifft. Es ist ein leiser Erfolg für Franziskus, der in der Berichterstattung über das Friedensgebet jedoch keine Beachtung findet. Aber er hat etwas verändert, als er in der Papstmaschine vor Journalisten verkündete, dass die katholische Kirche sich bei homosexuellen Menschen entschuldigen müsse für das, was sie ihnen angetan hat. Er hatte etwas verändert, als er in der Botschaft in Washington einen ehemaligen Studenten segnete, der mit seinem Partner gekommen war. Er hatte etwas verändert, als er dem Chef der Glaubenskongregation seine Unterstützung verweigerte, als dieser das Segnen homosexueller Paare verbot. Welche Sünde, so wollte der Papst wissen, hätten Homosexuelle bitte schön begangen, dass man sie so schwer bestrafen müsse?
Natürlich gibt es viele Menschen, denen das, was der Papst für die LGBT -Bewegung getan hat, absolut nicht weit genug geht. Noch immer dürfen homosexuelle Menschen nicht in Kirchen heiraten. Noch immer wurde der Katechismus der katholischen Kirche, der von einer Unregelmäßigkeit bei homosexuellen Menschen spricht, nicht geändert. Das gehört zum Schicksal dieses Papstes. Das ist der Vorwurf, der ihn seit seiner Wahl im Jahr 2013 verfolgt: nicht genug getan zu haben.
Die Reformbewegung der deutschen Katholiken des Synodalen Wegs verlangt weit mehr, als dieser Papst gegeben hat. Noch immer gibt es keine Antwort darauf, wieso die Ehelosigkeit der Priester, der Zölibat, überhaupt nötig ist und warum man ihn nicht einfach abschafft. Noch immer gibt es keine Antwort auf die Frage, warum Frauen durch das System der katholischen Kirche diskriminiert und von Ämtern ausgeschlossen werden. Noch immer verärgern die Machtstrukturen der Kirche die Menschen, die den Synodalen Weg in Deutschland begleiten, und sie werfen dem Papst vor, die Reformbemühungen zu behindern oder einfach zu wenig zu tun.
Auch heute, an diesem Dienstag, dem 22. Oktober 2022, steht dieser Vorwurf im Raum. Ja, es würde ein Friedensgebet geben im Kolosseum. Der Papst würde einen eindringlichen Appell an die Welt richten:
»In diesem Jahr ist unser Gebet ein Schrei geworden, weil der Frieden auf das Schwerste gebrochen, verletzt, niedergetrampelt wurde, und das in Europa, also dem Kontinent, der im vergangenen Jahrhundert die Tragödie von zwei Weltkriegen erlebte, und jetzt sind wir im Dritten Weltkrieg, leider haben seitdem die Kriege nie aufgehört, die Erde in ein Blutbad zu verwandeln und verarmen zu lassen, aber dieser Moment, den wir jetzt erleben, ist ganz besonders dramatisch. Heute tritt ein, was wir befürchtet haben und von dem wir hofften, es nie zu hören. Ich meine die Nutzung von Atomwaffen, die nach Hiroshima und Nagasaki immer noch produziert und getestet werden und mit deren Nutzung nun offen gedroht wird.«
Natürlich sollte dieser Tag ein eindrucksvoller Appell werden. Papst Franziskus hatte die Forderung also erfüllt, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine von verschiedensten Seiten an ihn gerichtet worden war: möglichst viele Religionsführer der Welt zu versammeln, um eindringlich den Frieden einzufordern. Doch gleichzeitig symbolisierte auch dieser Tag wieder das Drama dieses Papstes. Denn vielen war dieses Gebet absolut nicht genug.
Der Papst war nicht nach Kiew gefahren, obwohl der Vatikan das mehrfach angekündigt hatte. Die Kirche hatte auf diesen Krieg bisher nicht einwirken können, keinen Waffenstillstand erreichen, ihn nicht stoppen können.
Dabei hatte Papst Franziskus die Hände gar nicht in den Schoß gelegt. Er hatte am 25. Februar 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sofort seinen Staatssekretär im Vatikan darüber informiert, dass er auf der Stelle den russischen Botschafter sprechen wolle. Sie hatten ihm die übliche Antwort gegeben. Die Einberufung eines Botschafters dauert normalerweise Tage, vor allem, wenn der Botschafter eigentlich keine Lust hat zu kommen. Aber sie hatten den Papst falsch verstanden. Der Papst wollte den Botschafter gar nicht einberufen, er wollte hinfahren, und zwar sofort. Er wollte sein Auto nehmen, den Fiat 500, der in der Nähe des Gästehauses im Vatikan geparkt war, einsteigen, zwischen den ganzen Touristen die Via della Conciliazione hinunterfahren bis zu dem etwa 600 Meter entfernten Eingang der russischen Botschaft. Er wollte einfach hingehen, um es hinauszuschreien, dass ein Angriffskrieg die Missachtung alles dessen war, was dieser Jesus von Nazareth je gewollt hatte und auf den sich die russisch-orthodoxe Kirche mit ihren 150 Millionen Mitgliedern beruft.
Aber so etwas war noch nie passiert.
In der fast zweitausendjährigen Geschichte der Päpste gibt es eigentlich gar nichts, was nicht schon einmal passiert war. Päpste hatten selbst die außergewöhnlichsten Dinge schon einmal getan, sie hatten in Kampfmontur die Mauern einer Stadt überstiegen, um sie einzunehmen, oder persönlich Kriegsflotten befehligt, und einer hatte den deutschen Kaiser in Canossa im Schnee stehen lassen, aber dass ein Papst zum Botschafter fuhr, statt ihn kommen zu lassen, das war noch nie passiert.
Das Staatssekretariat informierte sofort die russische Botschaft, und die glaubte an einen Scherz. Dass der Papst persönlich spontan vorbeikommen könnte, schien so lange so vollkommen ausgeschlossen, bis er tatsächlich vor der Tür stand. Das Auto von Franziskus war nahezu unbemerkt zwischen den Tausenden von Touristen die Via della Conciliazione hinuntergefahren und in den Torbogen des Palastes der Botschaft eingebogen. Der vollkommen überraschte Botschafter beobachtete gerade vor dem Fernsehschirm die Entwicklung des Krieges, als Franziskus in sein Büro trat.
Der Papst forderte einen sofortigen Waffenstillstand. Der Botschafter antwortet lediglich, dass er ebenfalls »sehr besorgt sei« angesichts der Lage. Franziskus bot sich bei dem Treffen auch als Vermittler an, sofern das beide Seiten akzeptierten.
In den Jahren zwischen 1979 und 1984 hatte schon einmal ein Papst einen Krieg verhindert. Papst Johannes Paul II . hatte sich in den sogenannten Beagle-Konflikt eingeschaltet. Es war um die Inseln bei Feuerland gegangen und den Zugang zur Antarktis, was zu einem Krieg zwischen Chile und Argentinien zu führen drohte, den der Papst in zähen Verhandlungen verhindern konnte.
Franziskus hatte in dieser Botschaft gesessen, und der Botschafter wusste, dass er ihn vermutlich sehr ernst nehmen musste, denn Franziskus hatte zuvor einen sensationellen Erfolg zu verzeichnen gehabt. Deswegen schien die katholische Kirche in diesem so dramatischen Moment eines Krieges in Europa überhaupt mit im Spiel zu sein. Sie saß nicht am Rand als Zuschauer, handlungsunfähig und ohne dass sie überhaupt jemand wahrnahm.
Papst Franziskus hatte im Februar des Jahres 2016 ein Treffen mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen auf Kuba erreicht. Es musste Kuba sein, denn noch immer sah der russisch-orthodoxe Patriarch Kuba als einen Teil des Sowjetstaates an und glaubte, dass dessen Einfluss noch existierte. Nur auf Boden unter russischem Einfluss wollte der Patriarch den Papst treffen.
Seit der Trennung zwischen der katholischen Kirche Roms und den orthodoxen Kirchen im Jahr 1054 hatte kein Papst je mehr das Oberhaupt dieser Kirche getroffen.
Franziskus hatte ihn damals überschwänglich als seinen »Bruder« begrüßt und davon gesprochen, dass dieses Treffen ein »Geschenk Gottes« sei. Es war das erste Mal, dass die Oberhäupter dieser beiden Kirchen ein friedliches Abkommen unterzeichneten. Ausgerechnet Raúl Castro, der Bruder Fidels, hatte seine Begeisterung für den Papst erklärt und angekündigt, dass er katholisch werden wolle, wenn dieser so weitermache.
Diesem herausragenden Erfolg hatte es der Papst zu verdanken, dass er jetzt als eine Figur der Hoffnung galt. Er hatte einen Kontakt aufgebaut zu einem der ganz wenigen Männer, auf die Wladimir Putin wirklich hörte, den Patriarchen Kyrill. Das wusste auch der Bürgermeister von Kiew, der ehemalige Box-Weltmeister Vitali Klitschko. Auch er setzte Hoffnung auf Papst Franziskus. Er wandte sich direkt per Telefon und in Videobotschaften an Journalisten, von denen er glaubte, dass sie im Vatikan Gehör finden würden. Er lud den Papst in einer flehentlichen Bitte ein, nach Kiew zu kommen. Zusammen mit anderen religiösen Oberhäuptern sollte er von dort aus einen Appell an Wladimir Putin richten, um diesen Krieg zu stoppen.
Der Papst hatte diesen Besuch nach Kiew vorbereiten lassen und gleichzeitig versucht, seinen Kontakt zu Kyrill in Moskau zu nutzen. Auf keinen Fall sollte die russische Seite verschreckt werden. Er wollte versuchen, so neutral wie möglich zu bleiben, um über Kyrill einen Waffenstillstand zu erreichen. Monatelang versuchte der Papst immer wieder, diese Reise nach Kiew durchzusetzen, aber sie musste immer wieder verschoben werden, bis es Zweifel daran gab, ob eine solche Reise überhaupt einen Nutzen haben würde. Es hatte sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass der Draht zu Kyrill überhaupt nichts gebracht hatte.
Aber wie hätte dieser Papst ahnen können, dass noch im Jahr 2022 ein religiöses Oberhaupt wie der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche auf die Idee kommen könnte, den Soldaten zu versprechen, dass sie, falls sie im Eroberungskrieg in der Ukraine fallen sollten, direkt ins Paradies gelangen würden. So etwas hatten die Oberhäupter der Religionen im Ersten und Zweiten Weltkrieg versprochen. Das schien alles längst überwunden und lange her. Wer hätte sich vorstellen können, dass es jemals wieder dazu kommen würde?
Jetzt nannte der russisch-orthodoxe Patriarch den Kriegsherrn Wladimir Putin, der ein Land überfallen hatte, ein »Wunder Gottes«. Wie hatte der Papst ahnen können, dass es noch im Jahr 2022 möglich sein würde, dass eine Kirche einen Angriffskrieg als eine patriotische Notwendigkeit in Gottes Namen segnen würde?
Der Papst weiß, dass seine Versuche, diesen Krieg zu stoppen, ein Fehlschlag waren. Aber die Kirche des Franziskus ist keine Kirche, die Erfolge erzwingen will mit Geld oder Macht. Es ist eine Kirche, die bettelt, die auf die Menschen guten Willens hofft, die versucht, den langen, schwierigen Weg des Dialogs und der Versöhnung zu gehen.
Das ist unspektakulär, schwierig und manchmal auch völlig aussichtslos. Das weiß auch Papst Franziskus, das bedeutet aber nicht, dass man es nicht immer und immer wieder versuchen muss, auf dem guten, dem schwierigen, dem steinigen Weg.
Er ist kein Mann, der alles beim Alten belassen will, und deswegen zählt für seine Gegner der Vorwurf nicht, er tue zu wenig.
Seine wahren Gegner haben ein massives Problem mit diesem Papst, nicht, weil er zu wenig reformiert, sondern zu viel. Sie hassen ihn dafür, das zeigte sich seit seiner Wahl, sie warfen ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine und verfolgten ihn mit einer regelrechten Abscheu, bekämpften ihn so sehr, dass er zugab, dass seine Gegner sich wünschten, »dass er sterbe«, dass »sie das nächste Konklave schon vorbereiten«, weil sie nur eines wollen: dass er verschwindet.
Sie wollen ihn weghaben, weil er etwas angefasst hat, das niemand anfassen durfte, weil er ein Siegel aufgebrochen hat, das für immer verschlossen bleiben sollte.
Das ist das Geheimnis seines Pontifikates.