25. Juli 2022

Vergebung

D rei Monate zuvor: 25. Juli 2022, Maskwacis, Kanada.

Es ist kalt an diesem Julivormittag. Die Wolken hängen tief über der weiten, mit Gras bewachsenen Ebene. Zusammengesunken sitzt Papst Franziskus in seinem Rollstuhl und schaut auf das Feld, auf dem sein Albtraum auf ihn wartet.

Mehr als 150 Jahre lang, von 1850 bis 2000, misshandelten, vergewaltigten und töteten Ordensleute und Priester der katholischen Kirche in Kanada Tausende indigener Kinder, die in ihrer Obhut waren. Mehr als 6000 Kindergräber wurden seit 2021 zufällig entdeckt. Die Kinderleichen wurden auf den Äckern rund um die katholischen Internate verscharrt, in denen 150 000 Schüler interniert waren, auf Äckern wie dem, vor dem der Papst jetzt schweigt. Wegen der gefrorenen Erde wurden die Kinder nicht allzu tief vergraben. Die Gräber wurden nie markiert. Es gibt nichts, was einem Grabstein ähnelt, keine Tafeln mit Geburts- und Todesdatum, nicht einmal ein einfaches Holzkreuz. Die Eltern bekamen nie eine Chance zu erfahren, wo ihre Kinder, die die Polizei ihnen weggenommen hatte, zur letzten Ruhe abgelegt worden waren. Die Entdeckung dieser Gräber hatte die ganze Welt schockiert.

Der Papst kennt die Geschichten der Kinder, die dort vor ihm in den Gräbern liegen. Da war dieses Mädchen, es floh durch das ganze Internat, wenn es wieder einmal in das Zimmer gezerrt werden sollte, wo es von einem Priester vergewaltigt wurde. Das Mädchen stürzte sich auf der Flucht vor den Nonnen, die es packen wollten, die Treppe hinunter und brach sich das Genick. Ein anderes Mädchen liegt in einem Grab irgendwo in der Nähe. Die Achtjährige wurde ausgesperrt, im Winter, bei minus 40 Grad, weil sie nicht richtig gebetet hatte. Sie erfror unter dem Busch, unter dem sie sich vor der Kälte verkrochen hatte.

Er ist einen weiten Weg gegangen, dieser Jorge Mario Bergoglio aus Argentinien bis hierher auf dieses Feld in Kanada. Es kommt ihm jetzt wie Hohn vor, dass er zusammen mit anderen lateinamerikanischen Bischöfen darüber referierte, wie viel Gutes die katholische Kirche auf dem amerikanischen Kontinent in den Ländern getan hatte, in denen die Katholiken Politik und Gesellschaft dominierten, wie in Argentinien, Brasilien, den Ländern Mittelamerikas oder im französischen Kanada.

In den USA hatte die katholische Kirche viel weniger Einfluss gehabt. Es ist sehr bitter für den Papst, jetzt einzusehen, dass gerade die Tatsache, dass seine Kirche dort nicht viel zu sagen gehabt hatte, Tausenden Kindern der Ureinwohner unendliches Leid erspart hat.

So wird der Papst auf dem Rückflug nach Rom benennen, was hier in Kanada geschehen ist: »Völkermord durch die Mitglieder der katholischen Kirche«.

Dabei war die Triebfeder seines ganzen Lebens gewesen, dass er im Orden der Jesuiten, die sich als Soldaten Christi sehen, dafür kämpfen wollte, dass die katholische Kirche diese Welt in einen besseren Ort verwandelt.

Mit 85 Jahren sitzt er jetzt im Rollstuhl vor den Gräbern, die der eindeutige Beweis dafür sind, dass die katholische Kirche in diesem Teil der Welt gar nichts besser gemacht, sondern Kindern die Hölle auf Erden gebracht hat.

Oft hatte der Papst aus Argentinien gepredigt, dass Christus die Orientierungsrichtlinie für das ganze Leben sein müsse, dass er die Augen öffne. Aber hier hatte Christus kein Auge geöffnet und auch keine Orientierung geboten in der Frage, was mit den Kindern der Ureinwohner Kanadas geschehen solle, die die Polizei bei den Eltern abholte, damit sie in Internaten der katholischen Kirche erzogen würden. Statt sich von Christus die Augen öffnen zu lassen oder wenigstens das Offensichtliche zu sehen, nämlich dass es sich um wehrlose Kinder handelte, hatten die Ordensleute und Priester etwas ganz anderes gesehen: kleine Wilde, die mit aller Härte christianisiert werden mussten – sodass sie dabei ums Leben kamen.

Die Ureinwohner Kanadas, die an ihre eigenen Götter glaubten, hatten natürlich keine Chance gehabt, dass Gottes Sohn ihnen die Augen öffnete, aber sie wären nie auf die Idee gekommen, ihre Kinder umzubringen. Es waren die überzeugten Nonnen und Priester der katholischen Kirche, die hier jahrzehntelang Kinder misshandelten, und sie hatten geglaubt, das im Namen Gottes zu tun.

Papst Franziskus hat schon in viele Abgründe geschaut, die sich in der katholischen Kirche aufgetan haben, aber dieser hier ist wohl der tiefste. Natürlich hatte er gewusst, dass es Probleme in seiner Kirche gibt, und er wollte sie anpacken, als er im Frühjahr 2013 den Kardinälen signalisiert hatte: Ich würde es machen, ich traue mir das Amt des Papstes zu, ich kann der Nachfolger des so umstrittenen Benedikt XVI . werden.

Aber er hatte damals nicht geahnt, dass es so schlimm werden würde. Waren die Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester – so hatte sicher auch er einst gedacht – in Wirklichkeit nicht doch Einzelfälle, wie sie leider in allen großen Organisationen vorkommen? Er hatte als 21-Jähriger ein Jesuitenpater werden wollen, weil er für diesen Gott kämpfen wollte als sein Soldat. Aber was für eine schmutzige Schlacht war das geworden!

Er hatte begriffen, dass keineswegs die Guten gegen das Böse kämpften, gegen die Armut, die Ungerechtigkeit, die Gewalt der Mächtigen, sondern dass es viele Verbrecher in seinen eigenen Reihen gab, die sich nicht scheuten, sich an den Wehrlosesten zu vergehen.

Das Entsetzen über die Verbrechen der Priester und Ordensleute an Kindern und Jugendlichen hat die Kirche weltweit nicht in irgendeine Krise gestürzt: Sie steht vor einer Katastrophe.

Allein in Deutschland verlor die katholische Kirche im Jahr 2021 360 000 Mitglieder. Nur noch jeder vierte Bundesbürger gehört der katholischen Kirche an. 1990 war es noch mehr als jeder dritte gewesen. Auf jeden geweihten Priester kommen elf, die aufhören: Die Kirche blutet in einem sagenhaften Tempo aus. Um überhaupt noch Kandidaten zu finden, die sich zum Priester weihen lassen, wirbt die katholische Kirche in Deutschland inzwischen Quereinsteiger ohne Abitur an.

Die Menschen haben genug von dieser arroganten Kirche, die von oben herab bestimmt. Aber jetzt steht Papst Franziskus, der Rebell, der zum Entsetzen der Traditionalisten gefordert hatte, dass Schluss sein müsse mit der selbstverliebten und faulen Kirche, auf einmal auf der anderen Seite.

Er hat Reformen durchgepaukt, aber wenn er Änderungen zu schnell umsetzt, riskiert er die Kirchenspaltung. Und doch muss endlich etwas passieren, damit das, was hier geschehen ist, sich niemals wiederholt: Die kanadische Regierung hatte bei den Bemühungen, die indigenen Völker zu »zivilisieren«, entsetzliche Verbrechen begangen, und die katholische Kirche hat in all den Jahrzehnten nie gezögert, nicht nur mitzumachen, sondern die ausführenden Täter zu sein. Bis heute ist unklar, wie viele junge Menschen dabei ihr Leben durch Gewalt, Krankheiten und Hunger verloren.

Franziskus weiß, dass er handeln muss, um seinen Traum von einer Kirche an der Seite der Armen und Schwachen zu verwirklichen. Die Kirche muss aufhören, nur fromm zu sein, sie muss etwas tun. Und darum geht es diesem Papst, der versucht, seine Vision von einer besseren Kirche Schritt für Schritt umzusetzen.

Das beste Symbol dafür ist Kardinal Konrad Krajewski. Dieser Mann repräsentiert auf eine gewisse Art und Weise die neue Kirche des Papstes. Der Priester war nichts weiter gewesen als ein einfacher Zeremonien-Mitarbeiter, im Grund ein besserer Messdiener. Er war in der Amtszeit von Papst Johannes Paul II . aus seiner Heimat in Polen nach Rom gekommen. Er hatte an der erfolgreichen Papstreise des Jahres 1999 mitgearbeitet, sich in Rom eine bescheidene Wohnung in der Nähe des Vatikans gesucht. Dort kannten die Menschen den Polen mit dem betrübten Gesicht. Er war nicht glücklich gewesen während des Pontifikates von Papst Benedikt XVI . Er hatte immer wieder darüber geredet, dass er am liebsten nach Polen zurückgehen würde. Viele rund um den Vatikan kannten sein Geheimnis. Er benutzte sein Gehalt dafür, in einem der edelsten Lebensmittelläden einzukaufen, die es in der Nähe des Vatikans gibt, dem Feinkostgeschäft Castroni, und morgens und abends die Obdachlosen rund um den Vatikan mit den Spezialitäten zu versorgen.

Wenn man ihn fragte: »Warum kaufst du ausgerechnet in diesem teuren Geschäft ein, du könntest viel einfachere Lebensmittel viel billiger woanders bekommen?«, dann pflegte er immer zu sagen: »Für mich sind diese Obdachlosen rund um den Petersplatz Christus, und die haben nur das Beste vom Besten verdient«.

Dass Krajewski sich jeden Tag um die Armen kümmerte, fiel der Chefetage um Papst Benedikt XVI . nicht auf. Krajewski galt als ein bisschen versponnen, ein Mann ohne große theologische Ausbildung, gerade gut genug dazu, Kerzenleuchter zu halten, während andere komplizierte theologische Theorien besprachen. Aber dann kam Papst Franziskus, und alles wurde anders. Er hatte davon hörte, dass dieser einfache Priester sich seit Jahren ganz klein gemacht hatte, ein Diener Gottes gewesen war.

Für Franziskus symbolisierte dieser Mann die neue Kirche, und er hatte ihn befördert. Nicht nur ein wenig. Er hatte ihm Macht gegeben, er hatte ihn zum Kardinal gemacht. Er sollte sein Macher werden. Krajewski bekam den Spitznamen »der Elektriker«, seitdem er in einen Schacht einer Halle geklettert war, in der Papst Franziskus Emigranten hatte unterbringen lassen. Aber in der Halle gab es keinen Strom, kein Licht, keine Heizung. Der Vermieter hatte alles abgestellt. Kardinal Krajewski war einfach in den Versorgungsschacht geklettert und hatte die Stromversorgung wieder eingeschaltet. Dafür hatte er sich eine Strafanzeige wegen Diebstahls durch die Staatsanwaltschaft eingefangen.

Zuvor hatte er in einem anderen Auffanglager, in dem der Betreiber die Türen für die Waschräume verschlossen hatte, einfach die Türen aufgebrochen, um den Migranten Zugang zu den sanitären Einrichtungen zu verschaffen. Auch da hatte es Ärger gegeben, aber der Papst hatte Krajewski gesagt: »Wir können es uns leisten«.

Zuletzt war Kardinal Konrad Krajewski in der Ukraine mit Krankenwagen und Lebensmittel-Transportern unterwegs. Natürlich ist seine Aktion nur ein Tropfen auf den heißen Stein und natürlich wäre es viel besser gewesen, wenn ihm, Papst Franziskus, gelungen wäre, einen Waffenstillstand zu erreichen. Aber dem Papst geht es darum, es immer wieder zu versuchen, diese Welt zum Besseren zu verwandeln, auch wenn alle anderen wegschauen, auch wenn alle anderen sagen, es hat keinen Sinn, wenn alle anderen sagen, das Problem ist so groß, dass man es gar nicht angehen kann.

In seiner Jugend hatte es nicht danach ausgesehen, dass er sich jemals um das würde kümmern müssen, was Päpste im weit entfernten Rom angerichtet hatten. Der Sohn aus einer Eisenbahnerfamilie hatte nur ein guter Schüler sein wollen. Er hatte sich verliebt, gern getanzt, die Ideen des so widersprüchlichen Politikers Juan Perón aufgesogen, in einer Bar als Rausschmeißer gearbeitet und am Wochenende die Tore seines Lieblingsfußballvereins San Lorenzo bejubelt. Er hatte es geschafft, eine Stelle als Chemielaborant zu bekommen, als das Schicksal seinem Leben bereits ein Ende setzen wollte. Mit 21 Jahren erkrankte er an einer lebensgefährlichen Lungenentzündung, ein Teil des rechten Lungenflügels musste entfernt werden. Noch viel später erinnerte er sich an die Angst in den Augen seiner Mutter. Als er wieder auf die Beine kam, war er ein anderer. Sein Glaube an Gott spielte auf einmal eine sehr große Rolle.

Er war nicht blauäugig gewesen, er war keiner dieser Bürokraten des Heiligen Stuhls, die er verachtete und während der Weihnachtsansprache an die Kurie im Jahr 2014 regelrecht fertiggemacht hatte. Er wusste, dass man sich die Hände schmutzig machen konnte, wenn es richtig schwierig wurde. Er hatte die erste große Katastrophe seines Lebens erlebt, als er erfahren musste, dass man in einer Diktatur nicht unschuldig bleiben kann, wenn man beschlossen hat, sich nicht wegzuducken. Die Mörder in Uniform hatten sich in Argentinien 1976 erneut an die Macht geputscht und leiteten die blutigste und brutalste Militärdiktatur in der Geschichte des Landes ein: Zwischen 1976 und 1983 starben mehr als 30 000 Systemgegner: Wer dem Regime nicht passte, wurde ermordet und verschwand. Viele wurden gefangen genommen und gefoltert und später von Flugzeugen aus ins Meer geworfen. Auf eine dramatische Weise hatte Bergoglio jetzt das Thema seines Lebens erlebt: Reich gegen arm. Es gab Patres, die ihm unterstanden und sich radikal auf die Seite der Armen stellten. Sie besuchten sie in den Slums von Buenos Aires. Das war lebensgefährlich, denn in den Slums versteckten sich auch die größten Feinde der Militärjunta: die Kämpfer der Stadtguerilla, die Montoneros. Sie beriefen sich auf Juan Perón, der auch von Bergoglio verehrt worden war.

Als Jesuitenchef wäre es Bergoglios Aufgabe gewesen, die Militärs darüber zu informieren, dass die Patres in den Slums nur die Armen, nicht die Guerillakämpfer, unterstützen wollten, aber die Soldaten schlugen zu, nahmen zwei seiner Mitarbeiter fest und folterten sie wochenlang. Bergoglio verhandelte mit der Junta, um seine Leute freizubekommen, wohl wissend, dass die Militärs Mörder waren. Die Patres kamen nach entsetzlichen Wochen tatsächlich frei und beschuldigten ihren Vorgesetzten Bergoglio, sie verraten zu haben. War er schuld? Hat er mit der Junta kollaboriert? Nie mehr hörte es auf, dass irgendjemand, oft er selbst, diese Frage stellte.

Das alles war schlimm gewesen, so schlimm, dass er in psychiatrische Behandlung musste. Aber selbst in diesem katastrophalen Fall war es nicht im Ansatz um ein solches Ausmaß des Verbrechens gegangen wie hier in Kanada. Nie zuvor hatte ein Papst in der Geschichte eine Auslandsreise angetreten und erklärt, dass diese Reise einen einzigen Zweck habe, nämlich Buße zu tun. Die Cree hatten auf dem Feld, in dem die Kinder ihres Volkes begraben lagen, ihre Tipis aufgestellt, neben dem Platz, an dem der Papst in seinem Rollstuhl kauerte. Sie hatten ihm angeboten, eine Rede zu halten, aber er hatte zu ihrer Verwunderung abgelehnt. Er konnte angesichts dieses Leids, das auch ein Papst niemals wiedergutmachen würde können, nur schweigen. Dieses Schweigen war ihm so wichtig gewesen, dass er den Plan der Reise hatte umwerfen lassen. Kein offizieller Besuch in der Hauptstadt, im Sitz des Staatsoberhauptes wie sonst immer und seit Jahrzehnten üblich. Nein, er war gekommen, um auf diesem Friedhof zu schweigen. Seine Kirche hatte diese Frauen und Männer ausgebildet, die zugesehen hatten, wie Kinder in katholischen Internaten verhungert waren und an Krankheiten starben, die die weißen Priester und Ordensleute aus Europa in den Internaten einschleppten und gegen die fast keine Indigenen Abwehrstoffe entwickelt hatten – die gar nicht nötig gewesen wären, wenn die Weißen ihnen nicht ihr Land und ihre Freiheit genommen hätten. Er ist jetzt ein sehr alter Mann, weltberühmt und täglich gefeiert, bemitleidet und angegriffen. Er kann keinen einzigen Schritt mehr ohne Hilfe gehen, ohne sich abzustützen. Er ist auf Hilfe angewiesen, wenn er aus dem Rollstuhl aufstehen will. Er ist seinem Gott über weite Strecken und viele Jahre gefolgt und hatte im Namen dieses Gottes wie ein verzweifelter Bettler gestritten, mit den Mächtigen und den Gleichgültigen, damit sie nicht einfach wegsehen, wenn Menschen leiden, wenn sie zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken oder einfach ermordet werden im Dschungel von Myanmar. Er hatte von Anfang an gestritten, und jetzt verließen ihn seine Kräfte immer schneller. Sein Körper war nach und nach zum Gefängnis geworden für den einst so hageren, agilen Jorge Mario Bergoglio, der mit 22 Jahren Pater werden wollte bei den Jesuiten.

Es war keineswegs so gewesen, dass er angesichts der Abgründe der Kirche, in die er hatte schauen müssen, aufgehört hätte zu kämpfen. In den Jahren seines Pontifikates hatte er immer und immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, war an Orte gereist, die die Welt am liebsten vergessen wollte, weil sie es satt hatte zu erfahren, wie sehr die Menschen dort litten. Er hatte nie gekniffen, selbst wenn es lebensgefährlich gewesen war. Er flog zusammen mit seiner Delegation in den Irak, obwohl die islamistischen Terroristen sogar den Flughafen mit Raketen angegriffen hatten, auf dem er landen sollte. Die Zeit der angenehmen Papstreisen war mit diesem Franziskus vorbei. Statt in den Pausen zwischen Messen und Andachten in Paris auf der Champs-Élysées shoppen zu können oder während eines Papstbesuchs in New York über die Fifth Avenue zu schlendern, schleppte sich der päpstliche Tross jetzt durch Slums auf Lesbos in Griechenland, AIDS -Hospitäler in Mosambik oder Auffanglager für verletzte Flüchtlinge in Bangladesch.

Lange schon sitzt der Papst schweigend vor den Gräbern auf diesem Acker, als die kanadischen Organisatoren der Vatikan-Delegation das Zeichen geben, dass es Zeit wäre: Er will jetzt zu den Überlebenden des Horrors, den seine Kirche angerichtet hat, er will direkt mit vielen von ihnen sprechen, und es würde einer der schwersten Wege im Leben dieses alten Mannes werden.

Deswegen ist er hierhergekommen, auf diesen Acker voller Gräber in Kanada, weil er zeigen will, dass er wagt anzufassen, was niemand je hatte anfassen dürfen. Er hat das Siegel gebrochen, das auch sein Vorgänger wie alle 264 Päpste vor ihm gehütet hatte, und das Siegel hütete einen unantastbaren Satz: Die von Gott selbst gegründete katholische Kirche kann gar nicht schuldig werden, sondern nur ihre Mitglieder.

Aber hier in Kanada und in vielen anderen Ländern und in vielen Jahrhunderten ist die katholische Kirche schuldig geworden. Nicht nur einzelne Sünder machen der Kirche zu schaffen. Franziskus ist der erste Papst, der zugibt: In der Kirche Gottes selbst steckt der Wurm.