2014

Die Israel-Reise

D er Beginn des Jahres 2014 versetzte den Vatikan in helle Aufregung. Es drohte ein Ereignis, das zeigen sollte, wie tief gespalten die Positionen innerhalb der katholischen Kirche waren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte im Vatikan jeder verstanden, dass Papst Franziskus einen radikalen Kurswechsel gegenüber seinem Vorgänger durchsetzen würde. Aber außerhalb der Kirche hatte das noch niemand wahrgenommen. Im Gegenteil: Das Treffen der beiden Päpste in Castel Gandolfo hatte zu dem Mythos geführt, dass die beiden alten Männer wie zwei Kumpels im Vatikan leben würden. Ein Kinofilm sollte später diesen Eindruck noch verstärken. Bisher hatte sich also der Riss zwischen den Fraktionen der Traditionalisten und der Anhänger des Franziskus noch verbergen lassen, aber damit würde jetzt Schluss sein.

Papst Franziskus musste nach Israel reisen, und wie immer er sich positionieren würde, das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum war so heikel, dass auf der ganzen Welt Beachtung finden würde, was der neue Papst dachte.

Würde Franziskus aus Respekt vor dem Theologieprofessor Joseph Ratzinger an dessen theologischen Entscheidungen festhalten? Oder würde er einen neuen Weg gehen? Sollte er Letzteres tun, würde die ganze Welt mitbekommen, dass die Geschichte der beiden Päpste, die wie zwei eng Vertraute im Vatikan lebten, ein Märchen war.

Normalerweise neigen Päpste dazu, eine Reise nach Israel nicht zu Beginn ihrer Amtszeit anzutreten. Das geschieht aus Hochachtung. Für den Papst ist das Heilige Land mit der Stadt Jerusalem natürlich der heiligste Ort der Welt.

Johannes Paul II . hatte ganze 22 Jahre gewartet und 90 Auslandsreisen hinter sich gebracht, bis er im Jahr 2000 das Gefühl hatte, »reif« genug zu sein, um nach Israel reisen zu können. Franziskus hatte diese Chance nicht. Er musste schon im Jahr nach seiner Wahl eine Reise nach Israel antreten, denn das historische Treffen zwischen Papst Paul VI . und dem Oberhaupt der orthodoxen Kirche Athenagoras jährte sich zum 50. Mal und sollte mit einer Zusammenkunft von Franziskus und dem Patriarchen Bartholomaios I. in Jerusalem begangen werden. Ein Treffen zu einem solchen Anlass auszuschlagen, wäre grob unhöflich gewesen. Schließlich war die katholische Kirche maßgeblich schuld daran gewesen, dass die Kirchenteilung im Osten so lange gedauert und auf so erbitterte Weise geführt worden war.

Am 16. Juli 1054 hatte Humbert von Silva Candida auf den Altar der Hagia Sophia in Konstantinopel die Exkommunizierung des Oberhaupts der Ostkirche gelegt. Im Jahr 1204 kam es zur Katastrophe. Die Soldaten des von den Päpsten geforderten vierten Kreuzzugs plünderten Konstantinopel, setzten die Stadt in Brand, raubten, mordeten und vergewaltigten. Die Lateiner versuchten die Identität der Ostkirche auszulöschen. Denn die Kirche in Konstantinopel verehrte die Gebeine des heiligen Andreas, des Bruders von Petrus, so wie die Römer die Gebeine von Petrus. Also stahlen sie die sterblichen Überreste des Andreas und brachten sie nach Amalfi, die damalige Supermacht im Mittelmeer. Damit hatte die Kirche des Ostens ihren Bezugspunkt verloren. Bis heute verweisen die Mitglieder der orthodoxen Kirchen auf dieses Verbrechen der Kirche im Westen, und die Päpste haben sich immer wieder dafür entschuldigen müssen. Franziskus blieb also keine andere Wahl, als diese Reise anzutreten.

Immerhin gab es ein großes Problem weniger. Franziskus konnte vollkommen unbelastet im politischen Hexenkessel des Nahen Ostens auftreten. Der Mann aus Argentinien hatte jahrelang engste Beziehungen zu jüdischen Rabbinern in Buenos Aires gepflegt. Dass er äußerste Hochachtung vor dem Judentum hatte, war vollkommen unbestritten. Der Zufall oder, wenn man so will, die Vorsehung hatten dafür gesorgt, dass seine beiden Vorgänger schwierige Gespräche in Israel zu führen hatten. Papst Johannes Paul II . war zwar ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen, hatte als Zwangsarbeiter in einem Steinbruch schuften müssen, war von einem Lkw der Wehrmacht angefahren und schwer verletzt worden und hatte sein Leben riskiert, weil er in Krakau trotz des Verbots der Nazis Theologie studierte. Aber er war ein Pole, und Israel sah die Position der polnischen Regierungen, die nichts mit dem Holocaust zu tun gehabt haben wollten, ausgesprochen kritisch. Die große Bitte um Vergebung von Papst Johannes Paul II . im Jahr 2000 an der Klagemauer hatte aber dafür gesorgt, dass die Reise als ein Triumph der Aussöhnung galt.

Aber der Fall Ratzinger lag anders. Das hatte mit seiner Rede in Auschwitz vom 28. Mai 2006 zu tun. Ratzinger hatte dort die Schuldigen des Holocaust benannt und behauptet, dass »eine Gruppe von Kriminellen« Deutschland mit Hilfe ihrer Versprechungen einer nationalen Größe in den Abgrund geführt habe. Aus jüdischer Sicht war diese Beschreibung des Nationalsozialismus absolut unakzeptabel. Der Völkermord, den Holocaust, hatten nicht einige wenige Verbrecher möglich gemacht. An der Mordmaschine der Deutschen war ein Großteil der Bevölkerung beteiligt gewesen.

Israel war über die Schilderungen Joseph Ratzingers, der gegen seinen Willen in die Hitlerjugend gezwungen worden war, enttäuscht. Aus einem einfachen Grund: Es würde sich historisch nie wieder die Situation ergeben, dass ein Papst aus Deutschland, der die Nazis noch mit eigenen Augen gesehen hatte, über das sprechen könnte, was die Christen in Deutschland den Juden angetan hatten. Die Schuld im Nachhinein einigen wenigen Verbrechern in die Schuhe schieben zu wollen, ist aus der Sicht der meisten Historiker barer Unsinn. Der Horror, den die SS und die Wehrmacht über Europa gebracht hatten, ließ sich sicher nicht darauf zurückführen, dass es einige wenige Verbrecher gegeben hatte.

Auch die Rede Joseph Ratzingers im Holocaust Memorial Yad Vashem in Jerusalem vom 11. Mai 2009 war äußerst kritisch aufgenommen worden. Joseph Ratzinger sprach an dem Ort, an dem der sechs Millionen Opfer des Holocaust gedacht wird, kein einziges Mal von der deutschen Schuld. Die Israelis schmerzte, dass Joseph Ratzinger nicht darauf eingegangen war, dass es Christen gewesen waren, die Juden in den Tod getrieben hatten, dass es Christen gewesen waren, die ihre jüdischen Nachbarn verraten hatten, und dass es Christen gewesen waren, die keinen Finger gerührt hatten, als Juden abgeführt und in den Tod getrieben wurden.

Franziskus dagegen ist am anderen Ende der Welt aufgewachsen, in der gleichen Stadt, in die sich Adolf Eichmann geflüchtet hatte. Aber ihm selbst und der Generation der italienischen Auswanderer, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien durchschlugen, ist beim besten Willen keine Verantwortung für den Holocaust anzulasten.

Franziskus hielt sich an die traditionellen Etappen, die Päpste einschlagen, wenn sie das Heilige Land besuchen. Der Besuch sollte in Amman beginnen, in Jordanien. Dort, vom Berg Nebo aus, hatte Gott Moses das Heilige Land gezeigt, ihm aber nicht mehr erlaubt, es zu betreten. Danach wollte der Papst die palästinensischen Gebiete besuchen und natürlich den Ort, an dem alles angefangen hatte: die Stadt Bethlehem. Anschließend wollte er nach Israel weiterreisen.

Der Auftakt in Jordanien verlief erwartungsgemäß reibungslos. Der Papst bat die internationale Staatengemeinschaft, Jordanien angesichts des Flüchtlingsstroms, den das Land zu bewältigen hatte, nicht alleinzulassen. Der Besuch am Jordan, an der mutmaßlichen Stelle, an der Jesus Christus getauft worden sein soll, war mit Spannung erwartet worden.

Würde Papst Franziskus wie sein Vorgänger Joseph Ratzinger den Ort links liegen lassen und damit zeigen, dass der Glaube keine wundersamen Orte brauchte? Während Johannes Paul II . sich an der Taufstelle niedergelassen hatte, hatte sich Joseph Ratzinger im Golfcart nur vorbeifahren lassen. Papst Franziskus bestand darauf, aus dem Auto zu steigen, das der jordanische König Abdullah II . selbst gelenkt hatte, um die Stelle zu berühren, an der Christus mit dem Wasser des Jordan getauft worden sein soll.

Auch die Ankunft in den palästinensischen Gebieten, also in Bethlehem, verlief reibungslos. Das hatte auch damit zu tun, dass Papst Franziskus nicht an die Traditionen Johannes Pauls II . anknüpfte und darauf verzichtete, den Boden eines Landes zu küssen, das er zum ersten Mal besuchte. Als Karol Wojtyła im Jahr 2000 nach Bethlehem kam, verlangte der Staat Israel, dass er darauf verzichten müsse, den Boden zu küssen, weil Israel einen autonomen Palästinenserstaat nicht anerkenne und es einen solchen Staat nicht gebe, daher könne der Papst auch nicht den Boden küssen.

Der damalige Papstsprecher Joaquín Navarro-Valls hatte lapidar geantwortet, dass es für einen Papst schlicht und einfach unmöglich sei, den Boden der Stadt, in der Jesus von Nazareth das Licht der Welt erblickt haben soll, nicht zu küssen. Es war ein heißer Tag, als der Papst auf den Krippenplatz vor der Geburtskirche in Bethlehem kam. Es herrschte eine ausgesprochene Festtagsstimmung. Der berühmte Hähnchengrill in einer Ecke des Platzes hatte alle Hände voll damit zu tun, die Kunden zu bedienen. Hinter dem Altar waren Bilder der Heiligen Drei Könige aufgebaut worden. Bethlehem feierte seine eigene Geschichte. An diesem Tag kam auch einer der seltsamsten Menschen der modernen Geschichte Bethlehems in Spiel. Die Geistlichen der Omar-Moschee, die direkt am Krippenplatz liegt, pflegen exakt in dem Augenblick, in dem der Papst zu sprechen beginnt, ihre Gebete in die Lautsprecher zu singen.

Das war schon beim Besuch Papst Johannes Pauls II . so und ebenso beim Besuch Papst Benedikts XVI . Das Erstaunliche daran ist, dass dieser muslimische Störgesang der päpstlichen Messe immer genau in den Momenten einsetzt, die in einer katholischen Messe als besonders feierlich gelten, zum Beispiel während des päpstlichen Segens. Irgendjemand, der in katholischer Liturgie relativ gut ausgebildet ist, gibt ganz offensichtlich den muslimischen Geistlichen in der Omar-Moschee den Tipp, wann sie beginnen sollen, lautstark über Lautsprecher zu beten und besonders wirksam den päpstlichen Gottesdienst zu stören. Da sich das Ganze schon zum dritten Mal abspielte, regte sich aber in der päpstlichen Delegation niemand ernsthaft darüber auf. Im Gegenteil, als der Papst zu sprechen begann, wartete die vatikanische Delegation schon darauf, dass der muslimische Gesang einsetzen würde. Auch der Auftakt des Besuchs in Israel gelang ohne Zwischenfälle. Die Rede in Yad Vashem nahm die israelische Bevölkerung positiv auf. Ebenso das Treffen mit dem orthodoxen Patriarchen in der Grabeskirche verlief reibungslos. Am 26. Mai kam es im Heichal Shlomo Center neben der großen Synagoge von Jerusalem zum entscheidenden Moment.

Joseph Ratzinger hatte seine Position im Streit um die Wiedereinführung der sogenannten vorkonziliaren, der Tridentinischen Messe, klargemacht. Der jüdischen Seite war dabei bitter aufgestoßen, dass diese Form der Messe überhaupt wieder erlaubt werden konnte, in der vor den »hinterhältigen Juden« gewarnt wird. Dieser Satz war zwar im Jahr 1959 von Papst Johannes XXIII . gestrichen worden, hatte aber zum alten Messbuch gehört. Joseph Ratzinger ließ jetzt an der Stelle beten, dass Gott doch »den Schleier, der die Herzen der Juden bedecke«, wegziehen solle, sodass sie »unsern Herrn Jesus Christus anerkennen«.

Auf jüdischer Seite hat es nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung Ratzingers Proteste gehagelt. Denn dieser Satz schien an die übelsten katholischen Traditionen anzuknüpfen. Alles das, was Christen den Juden in den vergangenen Jahrtausenden angetan hatten, hing damit zusammen, dass die jüdische Religion aus christlicher Sicht falsch und unvollständig sei. Das Leid, das über die vielen Millionen Juden vor allem in Europa gekommen war, hatte immer mit dem Vorwurf der Christen zu tun gehabt, dass die Juden nicht anerkannten, dass Jesus von Nazareth, der Messias, gekommen sei, um die Menschen zu erlösen.

Millionen Juden hatten im Laufe der Geschichte schwören müssen, diesen Christus als Erlöser anzuerkennen, um ihr Leben zu retten, und jetzt, zu Beginn des dritten Jahrtausends, betonte wieder ein Papst, dass die Religion der Juden nicht vollständig sei, solange sie nicht anerkannten, dass Jesus Christus der Erlöser war.

Die Frage war, ob Franziskus diese Linie unterstützen oder eine andere einschlagen würde.

Papst Franziskus ließ die Bombe gegen Ende seiner Rede vor den beiden Großrabbinern Israels platzen. Er sagte, auf katholischer Seite bestehe natürlich die Absicht, »den Sinn der jüdischen Wurzeln des eigenen Glaubens voll in Betracht zu ziehen«.

Diese gestelzte Formulierung war eine Sensation. Papst Franziskus brach mit der Linie Joseph Ratzingers. Kein Wort mehr davon, dass die Christen den Juden beibringen mussten, Jesus Christus als Herrn anzuerkennen. Kein Wort mehr davon, dass Juden bekehrt werden mussten. Im Gegenteil, er betonte, dass die katholische Kirche ihre jüdischen Wurzeln anerkenne. Das bedeutete, die Juden waren schon bei ihrem Gott und durch ihn erlöst. Dann sagte der Papst: »Ich vertraue darauf, dass mit Ihrer Hilfe auch auf jüdischer Seite das Interesse für die Kenntnis des Christentums erhalten bleibt und wenn möglich zunimmt, speziell bei den jungen Generationen gerade in diesem gesegneten Land, in dem dieser Glaube seinen Ursprung erkennt.«

Auch hier warb der Papst lediglich darum, dass die Bewohner Israels, die Juden, insgesamt ein Interesse am christlichen Glauben bewahren mochten, der schließlich in ihrem Land den Anfang genommen hatte. Aber der Unterschied zwischen einer Bitte darum, Interesse am christlichen Glauben zu bewahren, und der Forderung, die Juden müssten den Herrn Jesus Christus anerkennen, ist riesig. Ab diesem Tag hatte die ganze Welt verstanden, dass in Rom eine Revolution im Gange war, ein Aufbegehren gegen das Alte, gegen den Weg in die Vergangenheit, den Joseph Ratzinger eingeschlagen hatte.

Kurienkrankheiten

Ich glaube, wenn es der katholischen Kirche gelingen sollte, ihre existenzbedrohende Krise zu überstehen, wird noch in Jahrhunderten davon die Rede sein, was an diesem 22. Dezember 2014 im Vatikan geschah. Ich bekam das damals zufällig von Anfang an mit. Ich hatte einen Freund angerufen, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen und wollte ihn fragen, ob er zumindest einen Teil des Festes mit meiner Familie verbringen wollte. Das mache ich eigentlich jedes Jahr. Er nahm auch sofort ab, und ich legte los mit meinen Weihnachtsgrüßen. Aber er schnitt mir schon nach wenigen Sekunden das Wort ab und flüsterte: »Leg bitte auf! Ich will nicht, dass mein Chef mitbekommt, dass ich, nach dem, was passiert ist, ausgerechnet mit dir rede. Du gehörst doch auch zu denen, die die Kurie immer mal schlechtmachen.« Dann legte er auf.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, ich hatte eine auf den Deckel bekommen. Das war im Vatikan nicht unüblich, aber nicht zu Weihnachten. Natürlich hatte ich in meinen Büchern die Kurie kritisiert, und natürlich hatte ich auch betont, dass es ganz offensichtlich Spannungen zwischen dem Papst und der Kurie gab, aber dass es so ernst war, dass mein Freund sich nicht mehr traute, mit mir Weihnachtsgrüße auszutauschen, bedeutete, dass irgendetwas sehr Schwerwiegendes vorgefallen war. Ich schaute auf den Kalender des Tages. Es war der 22. Dezember 2014. An dem Tag sollte eigentlich gar nichts passieren.

Nur die Weihnachtsansprache des Papstes vor der Kurie stand auf dem Programm. Seit meinen Anfängen im Vatikan, seit 1987, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt 26 Weihnachtsansprachen von Päpsten gehört. Sie alle waren von einer gähnenden Langeweile gewesen. Dabei kann der Papst nichts dafür. Was bitte soll er in einer Weihnachtsansprache auch sagen? Alle Päpste betonten, dass Christus Mensch geworden sei, dass Weihnachten ein Fest der Freude und des Friedens sei. Das war alles nett und freundlich, weil eben Weihnachten war. Aber natürlich waren diese Ansprachen nicht unbedingt interessant. Dass ein Papst etwas Ungewöhnliches während des Weihnachtstreffens mit der Kurie sagen würde, schien mir völlig unmöglich.

Wenige Augenblicke später klingelte mein Telefon, und ein Freund war am Handy, von dem ich lange nichts gehört hatte. Er war ein verheirateter orthodoxer Priester aus Rumänien. Wir hatten uns im Jahr 1999 kennengelernt, vor dem historischen Besuch von Papst Johannes Paul II . in Rumänien. Zum ersten Mal hatte damals ein Papst ein mehrheitlich orthodoxes Land betreten, was zu erheblichen Spannungen mit dem orthodoxen Patriarchat in Moskau geführt hatte. Weil ich mich mit der Orthodoxie nur sehr oberflächlich auskannte, hatte ich diesen Priester gebeten, mir zu helfen, mich in die ganze Sache einzuarbeiten. Wir hatten uns in Rom getroffen und waren Freunde geworden, und er war auch damals bei dem Besuch des Papstes in Bukarest dabei gewesen. Ich wusste, dass er jetzt in einem Büro für einen der einflussreichsten Bischöfe in der rumänisch-orthodoxen Kirche arbeitete.

Er schrie regelrecht in das Telefon: »Ciao, Andreas. Ist das ein Fake?«

Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was er wollte.

»Der Text. Die Ansprache des Papstes, die gerade eben verbreitet worden ist, ist das gefälscht?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich.

»Ich muss das sofort wissen. Mein Chef steht vor der Tür und macht mir die Hölle heiß. Hat der Papst das wirklich gesagt?«

Ich fühlte mich jetzt mies. Ein Priester aus dem fernen Rumänien wusste offensichtlich weit mehr als ich selbst, der ich nur wenige Kilometer vom Vatikan entfernt wohne.

Ich klickte mich eilig durch meine E-Mails. Diese Rede, die der Papst heute gehalten hatte, hatte ich natürlich geschickt bekommen, aber ich hatte sie überhaupt nicht gelesen, weil ich sie für eine der üblichen Weihnachtsansprachen hielt. Ich klickte den Text an, überflog ihn, und plötzlich war mir klar, warum so eine unglaubliche Aufregung herrschte.

»Also, ist das ein Fake?«, fragte mein Anrufer.

»Nein«, sagte ich. »Das ist kein Fake. Der Papst hat wirklich von Alzheimer gesprochen.«

Die Schockwelle dieser Rede erfasste später die ganze katholische Welt, aber zunächst war der innere Kern in einem ganz kleinen Kreis explodiert und hatte eine verheerende Wirkung gehabt. Das lag an den Gepflogenheiten am päpstlichen Hofe. Die Kardinäle der Kirchenregierung, der Kurie, waren an diesem Morgen bester Laune in den eleganten Clementina-Saal im Inneren des Vatikans spaziert. Sie hatten Platz genommen und erwarteten den ganz gewöhnlichen Ablauf. Der Papst würde zu ihnen sprechen. Danach würden sie in ihre Büros gehen zu ihren Mitarbeitern, die voller Spannung auf sie warteten und sie mit Fragen bestürmen würden, weil sie wissen wollten: Was hatte der Papst gesagt? Wie hatte er sich verhalten? Was war für das nächste Jahr zu erwarten? Die Kardinäle hatten darauf Jahr für Jahr salbungsvoll und ausführlich geantwortet. Das war ein Ritual. Das bedeutete: Wir, die Mitglieder der Kurie, haben einen direkten Draht zum Papst. Er empfängt uns zu Weihnachten, und wir informieren euch, die ihr dort nicht teilnehmen dürft, darüber, was dort geschehen ist. Nach solchen Treffen mit dem Papst feierten die Kardinäle einfach das Privileg, das sie besaßen, und gewährten gönnerhaft die Teilhabe an ihrem Wissen. Das unterstrich, welch herausgehobene Position sie bekleideten.

Doch an diesem Tag war alles anders gelaufen. Statt ihren Mitarbeitern sagen zu können, wie sehr der Papst sie schätzte, mussten sie einräumen, dass der Papst sie als vollkommen unfähig beschimpft hatte. Das war noch nie passiert. Das war im Grunde auch undenkbar, aus einem einfachen Grund.

Das Kirchenrecht sieht vor, dass die Kurie den Papst in der Ausübung seiner Aufgaben unterstützt. Es ist ihr Job, dem Papst zuzuarbeiten. Deswegen ist ein Papst auf die Kurie angewiesen. Es sind seine wichtigsten Mitarbeiter in der Verwaltung einer Kirche mit mehr als 1,3 Milliarden Mitgliedern. Allein die Idee, dass ein Papst alle, aber wirklich alle Topmitarbeiter beleidigen könnte, schien vollkommen abwegig zu sein. Es wäre geradezu selbstzerstörerisch, in einer so großen Organisation wie der Kirche die entscheidenden Mitarbeiter gegen sich aufzubringen. Aber genau das war geschehen. Ich verstand jetzt auch, warum mein Freund, den ich nur zum Weihnachtsessen hatte einladen wollen, so harsch reagiert hatte. Das Thema der Spannungen zwischen Papst Franziskus und der Kurie war von Anfang an heikel gewesen, und als Journalist konnte man sich leicht die Finger daran verbrennen und seine Kontakte verlieren. Aber was da passiert war, war nicht mehr heikel, das war ein Orkan, der durch die heiligen Hallen gefegt war.

Begonnen hatte diese päpstliche Ansprache wie immer. Nichts deutete auf eine Katastrophe hin, und die Kardinäle machten es sich in ihren Sesseln gemütlich. Der Papst erinnerte freundlich daran, dass er sich mit den Brüdern »am Ende des Advents treffe«, um »die traditionellen Grüße auszutauschen«. Er fuhr vollkommen harmlos fort:

»In einigen Tagen werden wir die Freude haben, die Geburt des Herrn zu feiern; das Ereignis Gottes, der Mensch wird, um die Menschen zu retten; die Offenbarung der Liebe Gottes, der sich nicht darauf beschränkt, uns etwas zu geben oder uns irgendeine Botschaft oder einige Boten zu senden, sondern der uns sich selber schenkt; das Geheimnis Gottes, der unsere menschliche Verfasstheit und unsere Sünden auf sich nimmt, um uns sein göttliches Leben, seine unermessliche Gnade und seine unentgeltliche Vergebung kundzutun.«

Dieser Satz war so lang, so verschachtelt und sagte etwas so Offenkundiges, dass er schon als nichtssagend gelten konnte. In jedem Fall war der Satz perfekt, um das Interesse der Kardinäle in der Sala Clementina vollkommen einzuschläfern. Auf den Bildern, die später von diesem Moment verbreitet wurden, schien es so, als müsste der eine oder andere der älteren Herren gegen ein Nickerchen ankämpfen. Ebenso ereignislos ging es weiter. Der Papst sagte:

»Zunächst möchte ich euch allen, den Mitarbeitern, Brüdern und Schwestern, päpstlichen Vertretern in aller Welt und euren Lieben ein gnadenreiches Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr wünschen. Ich möchte euch herzlich danken für euren täglichen Einsatz im Dienst des Heiligen Stuhls der Katholischen Kirche der Teilkirchen und des Nachfolgers Petri.«

Das war genau der Satz, den sie hören wollten. Sie konnten nach diesem Treffen mit dem Papst ihren Mitarbeitern sagen, wie sehr der Papst ihnen gedankt hatte für den täglichen Einsatz, den unermüdlichen Dienst. Die Plackerei des vergangenen Jahres war nicht umsonst gewesen. Der Papst hatte erkannt, dass er sich auf die hart arbeitende Kurie und ihre vielen Mitarbeiter verlassen konnte. Ab diesem Zeitpunkt rauschte die Anspannung vollkommen in den Keller. Die Kardinäle erwarteten jetzt noch weitere theologische Ausführungen. Aber das Wichtigste war schon geschehen. Er hatte sich bedankt.

Das Erstaunliche an dem, was dann geschah, ist eigentlich nicht das, was geschah, sondern dass es erst im Jahr 2014 geschah. Die Bombe, die der Papst platzen ließ, sprach einen Missstand an, der im Vatikan seit Jahrhunderten bekannt war. Es hatte sich nur nie jemand getraut, das auszusprechen. Es hatte erst ein Mann vom anderen Ende der Welt den Mut aufbringen müssen, das zu sagen, was der größte Teil des Vatikans, nämlich all diejenigen, die der Spitze zuarbeiten mussten, schon seit sehr langer Zeit dachte.

Los ging es damit, dass der Papst der Kurie unterstellte, dass sie sich nicht mehr von der wichtigsten Speise nähre, einer stabilen Beziehung zu Christus. Der Papst sagte den Kurienmitgliedern: »Wer sich nicht täglich von dieser Speise ernährt, wird ein Bürokrat, ein Formalist, ein Funktionalist, ein bloßer Angestellter, eine Rebe, die austrocknet und allmählich stirbt und weggeworfen wird.«

Ab diesem Zeitpunkt wachte auch der Letzte aus seinem vormittäglichen Frieden auf. Sie glaubten, nicht richtig gehört zu haben. Sie waren was? Bürokraten, eine Rebe, die austrocknet und weggeworfen wird? Was bildete Franziskus sich eigentlich ein? Dann legte der Papst erst richtig los. Langsam wurde der Kurie klar: Da drohte keine Kritik, da drohte eine Katastrophe, denn der Papst sagte, die Kurie sei »wie jeder menschliche Leib auch Krankheiten, Funktionsstörungen und Gebrechen ausgesetzt. Und hier möchte ich einige dieser möglichen Krankheiten, ›Kurienkrankheiten‹, erwähnen.«

Wie bitte? Was hatte er gesagt? Kurienkrankheiten?

Der Papst begann jetzt, diese Krankheiten aufzulisten: »Die Krankheit, sich ›unsterblich‹, ›immun‹ oder sogar ›unentbehrlich‹ zu fühlen«, nannte der Papst als Erstes. »Eine Kurie, die keine Selbstkritik übt, die sich nicht fortbildet, die nicht versucht sich zu bessern, ist ein kranker Leib.«

Das war eine echte Unverschämtheit in den Augen der meisten Kardinäle. Um sich vorzustellen, wie das Verhältnis zwischen dem Papst und den Kardinälen bis zu diesem Zeitpunkt aussah, muss man sich nur an ein Bild erinnern.

Nach der Wahl zum Papst beginnt in der Sixtinischen Kapelle die sogenannte Huldigung. Das bedeutet schlicht und einfach, dass die Kardinäle, die den neuen Papst gewählt haben, ihm gratulieren. Dabei sitzt der soeben gewählte Papst normalerweise, und die Kardinäle müssen vor ihm auf die Knie gehen.

Johannes Paul II . hatte das abgeschafft. Um zu zeigen, wie sehr er die Kurie schätzte und wie wichtig die Versammlung der Kardinäle für ihn war, hatte er sich geweigert, sitzen zu bleiben. Während der Huldigung war er aufgestanden und hatte jeden der Kardinäle wie einen Bruder im Stehen umarmt. Und jetzt das!

Im Punkt zwei warf der Papst der Kurie Arbeitswut vor, Stress und Rastlosigkeit, sodass sie vergessen würden, sich Jesus zu Füßen zu setzen. In Punkt drei warf er ihnen eine geistige und geistliche Versteinerung vor, sie seien »Aktenbearbeitungsmaschinen« statt »Gottesmänner« und würden »die Gesinnung Jesu verlieren (…), weil ihr Herz sich im Laufe der Zeit verhärtet« habe. Im Punkt vier warf er ihnen Planungswut und Funktionalismus vor, in Punkt fünf die Krankheit der schlechten Koordination. Die Glieder seien nicht mehr »gemeinschaftlich miteinander verbunden«. Der Papst sprach von »einem Orchester, das nur Lärm hervorbringt, weil seine Glieder nicht zusammenspielen und keinen Gemeinschafts- und Teamgeist leben«.

Punkt Nummer sechs konnte man selbst beim besten Willen nicht mehr anders sehen als eine Beleidigung. Der Papst sagte:

»Es gibt auch die Krankheit des ›geistlichen Alzheimer‹: das Vergessen der eigenen ›Heilsgeschichte‹, der persönlichen Geschichte mit dem Herrn, der ›ersten Liebe‹ (…). Es handelt sich um einen fortschreitenden Verfall der spirituellen Fähigkeiten, der früher oder später zu schweren Behinderungen des Menschen führt und ihn unfähig werden lässt, autonom zu handeln, da er in einem Zustand absoluter Abhängigkeit von seinen oft unwirklichen Vorstellungen lebt. Das sehen wir bei denen, (…) die völlig von ihrer Gegenwart, von ihren Leidenschaften, Launen und Fixierungen abhängen; bei denen, die sich mit Mauern umgeben und sich in Gewohnheiten verschließen und so immer mehr zu Sklaven der Götzenbilder werden, die sie mit eigener Hand geschaffen haben.«

Das war kaum mehr zu ertragen. Sie, die Kurienkardinäle, die sich einst stolz die Fürsten der Kirche nennen durften, sollten unter »geistlichem Alzheimer« leiden? Sie sollten von Launen und Fixierungen abhängen, Sklaven von Götzenbildern werden?

Diese Sätze wirkten wie Peitschenschläge und schockierten vor allem deswegen so sehr, weil nahezu alle im Vatikan wussten, dass der Papst vollkommen recht hatte. Die Kurienkardinäle sahen sich als Chefs einer großen Behörde, natürlich waren sie Bürokraten des Heiligen geworden, und selbstverständlich spielte bei vielen von ihnen ihre persönliche Beziehung zu Christus keine große Rolle mehr.

Beispiele dafür gab es mehr als genug. So hatte zum Osterfest 2010 ausgerechnet der langjährige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano das Volk der Gläubigen aufgerufen, sich nicht durch das Gequatsche über sexuelle Übergriffe von Priestern verunsichern zu lassen. Wenn dieser Mann ein Kirchenmann war, der eine Beziehung zu Christus hatte, wie war es ihm dann möglich, die Leiden der Opfer sexuellen Missbrauchs derart zu verhöhnen? Wenn er eine Beziehung zu Christus hatte, musste er dann nicht demütig sein und die Sünden seiner Kirche zugeben, statt sie in Gutsherrenart wegzubügeln?

Auch Punkt sieben war noch einmal starker Tobak. Der Papst warf der Kurie die »Krankheit der Rivalität und der Eitelkeit« vor, »wenn die äußere Erscheinung, die Farbe der Talare und die Ehrenabzeichen zum vorrangigen Lebensziel werden«. Jeder im Vatikan kannte das. Bei einem Abendessen mit etwas zu viel Wein kam immer wieder die Liste der Namen der Priester auf den Tisch, die bereit waren, alles zu tun, um auf der Karriereleiter aufzusteigen. Sie wollten es schaffen, wenigstens zum Weihbischof oder aber zum Erzbischof oder gar zum Kardinal aufzusteigen. Punkt acht war wieder besonders verletzend. Der Papst sprach von der »Krankheit der existenziellen Schizophrenie«:

»Es ist die Krankheit derer, die ein Doppelleben führen, Frucht der typischen Heuchelei des Mittelmäßigen und der fortschreitenden spirituellen Leere, die durch Diplome und akademische Titel nicht gefüllt werden kann. Eine Krankheit, die häufig diejenigen befällt, welche den pastoralen Dienst aufgeben, sich auf die bürokratischen Angelegenheiten beschränken und so den Kontakt zur Wirklichkeit, zu den konkreten Menschen verlieren. Auf diese Weise schaffen sie sich eine Parallelwelt, in der sie alles beiseiteschieben, was sie in Strenge die anderen lehren, und beginnen, ein verborgenes, oft ausschweifendes Leben zu führen. Für diese äußerst schwere Krankheit ist die Umkehr ziemlich dringend und unumgänglich (…).«

Dieser Punkt Nummer acht war nicht die Attacke des Papstes Franziskus, das war die Attacke des Jorge Mario Bergoglio, des Jesuitenpaters aus Buenos Aires. Dieser Pater hatte jahrzehntelang unter der Bürokratenmaschine des Vatikans gelitten. Er hatte immer wieder beklagt, dass die Kardinäle, die sich nicht mehr die Hände schmutzig machen, die nicht mehr den Stallgeruch haben, die nicht mehr nach ihren Gläubigen riechen und schmecken, aufhören, echte Pastoren der Kirche zu sein. Aber viele der eleganten Kardinäle wollen mit den schlecht gekleideten, nicht sonderlich vorteilhaft wirkenden Gläubigen definitiv nichts zu tun haben. Sie fühlen sich im Umfeld eleganter Säle von Hochschulen oder Botschaften wohl. Das war es, was Bergoglio kritisiert hatte. Damals hatte ihm keiner zugehört, aber jetzt mussten sie ihm zuhören. Jetzt mussten sie das ertragen.

Auch Punkt neun konnte man schwerlich als etwas anderes sehen als eine Beleidigung. Der Papst sprach von der »Krankheit des Geredes des Gemunkels und des Tratschens. (…) Es ist die Krankheit der Feiglinge, die nicht den Mut besitzen, etwas unmittelbar anzusprechen und daher hinter dem Rücken reden.« Er sprach von Fällen, in denen diese Kirchenmänner der Kurie zum kaltblütigen Urheber von Rufmord der eigenen Kollegen und Mitbrüder würden.

In Punkt zehn sprach der Papst eine besondere Krankheit an. Papst Franziskus beklagte: Da gebe es die »Krankheit, die Vorgesetzten zu vergöttern: Es ist die Krankheit derer, die ihre Oberen hofieren in der Hoffnung, deren Gunst zu erlangen. Sie sind Opfer des Karrierismus und Opportunismus; sie ehren Menschen und nicht Gott (…).«

Der Papst beklagte:

»Es sind die Menschen, die ihren Dienst einzig im Gedanken daran verrichten, was sie dafür bekommen, und nicht, was sie geben müssen. Es sind kleinliche, unglückliche Menschen, die nur von ihrem fatalen Egoismus geleitet sind (…). Diese Krankheit könnte auch die Oberen befallen, wenn sie einige ihrer Mitarbeiter hofieren, um ihre Unterwerfung, Treue und psychologische Abhängigkeit zu erlangen, doch das Endergebnis ist eine wirkliche Komplizenschaft.«

Das war der Gipfel.

Jetzt herrschte eine eisige Stille in der Sala Clementina. Das konnte man kaum anders verstehen als eine vernichtende Kritik des Papstes Franziskus an seinem Vorgänger Joseph Ratzinger. Das war mehr als eine Ungeheuerlichkeit. Das war aus Sicht der Kurienkardinäle eine unfassbare Entgleisung eines Papstes. Er hatte also jetzt gerade hier in der Sala Clementina den großen Theologen Papst Benedikt XVI . in die Pfanne gehauen. Wer anders konnte gemeint sein als Joseph Ratzinger, wenn er davon sprach, dass diese Krankheit auch die »Oberen« befallen konnte, die einige »ihrer Mitarbeiter hofierten«?

Joseph Ratzinger hatte zweifellos einen Mitarbeiter hofiert. Er hatte sogar eine Kardinalernennung durchgepaukt, um seinen Privatsekretär Georg Gänswein zum Erzbischof und Präfekten des päpstlichen Hauses machen zu können. Den Amtsinhaber James Michael Harvey hatte er zuvor wegloben müssen in einem für den Vatikan äußerst ungewöhnlichen Manöver. Jeder im Vatikan wusste zudem, dass Papst Franziskus zutiefst empört gewesen war über die Bilder des Vatikan-Fernsehens, das den Moment festgehalten hatte, als Benedikt XVI . mit seinem Sekretär Erzbischof Georg Gänswein die päpstliche Wohnung für immer verlassen hatte. Gänswein hatte geweint, und Franziskus hatte beklagt, dass diese Tränen die Trauer über den Machtverlust ausdrückten.

Meinte er also das, wenn er von »Opfern des Karrieremissbrauchs« sprach, von den Männern, die ihren Oberen verehren statt Gott? Das konnte man kaum anders verstehen. Er sprach von denen, die von einer Karriere träumten, und von den Oberen, die sie durch Gunstbeweise sie an sich banden. Das traf zu 100 Prozent auf Erzbischof Georg Gänswein und Joseph Ratzinger zu, und das bedeutete einen regelrechten Skandal.

In Punkt elf kritisierte der Papst die »Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen« und in Punkt zwölf die »Krankheit der Totengräbermiene«. Er sagte:

»Es ist die Krankheit der Mürrischen und Griesgrämigen, die meinen, um seriös zu sein, müsse man ein trübsinniges, strenges Gesicht aufsetzen und die anderen – vor allem die, welche man niedriger einstuft – mit Strenge, Härte und Arroganz behandeln. In Wirklichkeit sind theatralische Strenge und steriler Pessimismus oft Symptome von Angst und mangelndem Selbstvertrauen. (…) Ein von Gott erfülltes Herz ist ein glückliches Herz, das Freude ausstrahlt und alle in seiner Umgebung damit ansteckt: Das sieht man sofort!«

Dieser Punkt zwölf war sehr seltsam, denn er betraf den Papst persönlich. Hier haute er nicht die Kurie, sondern sich selbst in die Pfanne. Er war es gewesen, der mit einer ausgesprochenen, mürrischen Miene jahrelang die Diözese Buenos Aires geleitet hatte. Seine Priester hatten sogar gegen ihn aufbegehrt, als er zum Papst gewählt worden war und in einem Brief geschrieben hatte: »Warum hast du uns jahrelang dein Lächeln verwehrt?«

Jorge Mario Bergoglio hatte keineswegs Freude ausgestrahlt. Wenn der Papst jetzt von einem Menschen sprach, der eine mürrische und griesgrämige Miene aufsetzte, dann meinte er auch sich selbst. Er hatte eine mürrische und griesgrämige Miene aufgesetzt, er hatte eine theatralische Strenge und einen sterilen Pessimismus verbreitet, und vielleicht sprach er deswegen auch davon, dass es Symptome seien von Angst und mangelndem Selbstvertrauen. Er hatte sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen müssen, und er hatte sicher an mangelndem Selbstvertrauen gelitten, weil die Affäre um die Patres, die er angeblich an die Militärjunta verraten hatte, ihm schwer zugesetzt hatte. Von all den Punkten, die der Papst der Kurie vorwarf, war dieser Punkt zwölf ein Punkt, in dem er zweifellos zugab, dass er selbst diesen schweren Fehler begangen hatte.

In den Punkten 13 und 14 warf der Papst der Kurie die »Krankheit des Hortens« vor, das Anhäufen materieller Güter und schließlich die Krankheit, geschlossene Zirkel zu bilden, »wo die Zugehörigkeit zu Grüppchen stärker wird als die zum Leib und – in einigen Fällen – zu Christus selbst«.

Die letzte Krankheit, Nummer 15, hatte es wirklich in sich, weil sie einen ganz konkreten Fall betraf:

»Und die letzte Krankheit, die des weltlichen Profits, der Zurschaustellung, wenn der Apostel seinen Dienst in Macht und seine Macht in Ware verwandelt, um weltlichen Nutzen oder mehr Einfluss zu gewinnen. Es ist die Krankheit der Menschen, die unersättlich danach streben, Machtbefugnisse zu vervielfältigen, und die fähig sind, zu diesem Zweck die anderen zu verleumden, zu diffamieren und zu diskreditieren sogar in Zeitungen und Zeitschriften.«

Dann sagte der Papst:

»Und hier erinnere ich mich an einen Priester, der die Journalisten kommen ließ, um ihnen private und vertrauliche Angelegenheiten seiner Mitbrüder und Gemeindemitglieder zu erzählen – und zu erfinden. Ihm ging es nur darum, sich auf den Titelseiten zu sehen, denn auf diese Weise fühlte er sich mächtig und interessant – und richtete so viel Unheil an für die anderen und für die Kirche. Der Arme!«

Auch dieser Punkt schockierte die hohen Herren der Kurie, weil er stimmte. Sie alle kannten Beispiele von Kollegen, die bereitwillig Interviews gaben, um ihren Einfluss und ihre Macht zur Schau zu stellen, vor allem, wenn sie im Fernsehen auftraten, um öffentlich ihre Kompetenz zu beweisen. Diese Krankheit, die der Papst da anprangerte, lag aber auch im System Vatikan begründet. Der Staat des Papstes produziert vor allem Papier. Kardinäle schreiben vor allem Predigten und Reden, bereiten sich auf Gottesdienste, Diskussionen und Symposien vor. Sie sammeln ein enormes Fachwissen an, das nur selten abgefragt wird. Häufig arbeiten sie wochenlang an Texten, die von der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht wahrgenommen werden. Dadurch entsteht natürlich das Verlangen, endlich einmal zeigen zu können, wie gebildet sie sind.

Zum Schluss versuchte der Papst, durch einen Witz die Heftigkeit dieser Attacken abzumildern:

»Liebe Brüder. Ich habe einmal gelesen, dass Priester wie Flugzeuge sind. Schlagzeilen machen sie nur, wenn sie abstürzen – doch sehr viele gibt es unter ihnen, die fliegen. (…) Es ist ein recht amüsanter, aber auch sehr wahrer Satz, denn er beschreibt die Bedeutung und die Zerbrechlichkeit unseres priesterlichen Dienstes und welchen Schaden ein einziger Priester, der ›fällt‹, für den ganzen Leib der Kirche verursachen kann.«

Vielen Kardinälen schienen die abschließenden Glückwünsche wie blanker Hohn. »Euch allen, euren Familien und euren Mitarbeitern meine Glückwünsche für ein gesegnetes Weihnachtsfest«, sagte der Papst.

Aber dieses Weihnachtsfest 2014 wurde kein gesegnetes Weihnachtsfest. Diese Generalattacke gegen die Kurie schlug sehr tiefe Wunden, zerriss viele Verbindungen und machte diesen Papst sehr einsam. Die Auswirkungen dieser Rede spürte er während seines gesamten weiteren Pontifikates.

Eines aber war ab diesem Tag glasklar. Dieser Papst würde sich auf keinen Fall von der Kurie entmachten lassen. Er hatte derart auf den Tisch gehauen, dass auch der Letzte verstehen musste, wer hier der Chef war. Die Übermacht der Kurie existierte nicht mehr. Jetzt musste sie um alles fürchten, sogar um ihre schwarzen Kassen.