I m Frühjahr des Jahres 2021 teilte mir der Vatikan mit, dass der Papst trotz aller Widerstände an der Reise in den Irak festhalten wolle und ich mich jetzt vorbereiten könne. Mir war von Anfang an klar, dass das die umstrittenste Reise des kompletten Pontifikates sein würde. Eine ganze Reihe schwerwiegender Gründe sprachen dagegen, dass der Papst diese Reise antrat. Mittlerweile gab es keinen Zweifel mehr daran, dass die Ausbreitung des Virus Covid-19 sehr viel schwerer einzudämmen war als zunächst geglaubt.
Wenn der Papst in den Irak reisen würde, um dort eine heilige Messe mit Zehntausenden Gläubigen zu feiern, würde er sich dem Vorwurf aussetzen, die Pandemie noch verschärft zu haben, und das in einem Land mit nur unzulänglicher medizinischer Versorgung. Vor allem die Menschen mit geringem Einkommen besaßen im Irak kaum Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung. Sollte eine Messfeier des Papstes die Pandemie verschärfen, stünden weder ausreichend Betten in Intensivstationen noch Beatmungsgeräte zur Verfügung. Rechtzeitig alle möglichen Teilnehmer an Messfeiern zu impfen, war dem Irak nicht möglich. Spielte der Papst also mit dem Feuer?
Außerdem war diese Reise selbstverständlich auch aus Sicherheitsgründen enorm gefährlich. Nach wie vor gab es eine starke Präsenz der Kämpfer des Islamischen Staates im Irak. Diese Fanatiker sahen den Irak als Anteil eines Kalifats, als heiligen Boden, auf dem der Erzfeind, der Papst, der für die Massenmorde der Kreuzzüge verantwortlich gemacht wurde, nichts zu suchen habe.
Extremistische islamistische Gruppen hatten immer wieder betont, dass die größte Trophäe, die sie sich vorstellen könnten, der Kopf des Papstes sei. Deswegen galt in Rom auch schon seit Jahren die allerhöchste Alarmstufe, was mögliche Terrorangriffe anging. Wenn der Papst jetzt in die Höhle des Löwen reiste, musste das in den Augen der Extremisten nicht wie eine Provokation aussehen? Der Irak wurde seit Jahren durch ganze Serien schwerster Bombenattentate erschüttert. Sowohl Teile der ehemaligen irakischen Armee als auch Kämpfer des Islamischen Staates und vom Iran finanzierte Terrorgruppen führten einen brutalen Krieg gegeneinander und gegen Christen. Es konnte nicht den geringsten Zweifel daran geben, dass es im Irak reichlich Know-how, reichlich Sprengstoff und mehr als genug motivierte potenzielle Täter gab, die auf die Idee kommen könnten, die Präsenz des Papstes zu nutzen und ihn mit seiner Delegation in die Luft zu sprengen. Die Gendarmen des Vatikans und die Soldaten der Schweizergarde waren für eine solche Bedrohung weder ausgebildet noch ausgerüstet. Wenn es den irakischen Sicherheitskräften nicht gelang, die Attentatsserie in den Griff zu bekommen, wie sollten sie dann für die Sicherheit des Papstes garantieren können? Für die Delegation des Papstes gab es noch ein weiteres Hindernis. Im Flugzeug von Papst Franziskus würden sie dicht nebeneinandersitzen, ideale Voraussetzung, um sich mit dem Virus zu infizieren. Die Reise konnte eigentlich nur dann stattfinden, wenn in kurzer Zeit ausreichend Impfstoff für die komplette päpstliche Delegation beschafft und verabreicht werden konnte.
Papst Franziskus kannte selbstverständlich all diese Bedenken und wusste auch, dass er dabei war, mit dieser Reise ein erhebliches Risiko einzugehen. In Gesprächen verteidigte sich der Papst. Er wollte auf jeden Fall reisen, da er angesichts seiner Schmerzen in den Beinen möglicherweise im kommenden Jahr nicht mehr in der Lage sein würde, überhaupt irgendwohin zu fliegen. Und wann würde dann je wieder ein Papst den Irak betreten? Die geschundenen Christen dort, so sah es Franziskus, sollten nicht länger warten. Die Weltpresse sollte endlich durch eine spektakuläre Aktion wie einen Papstbesuch dazu gezwungen werden, über deren Schicksal zu berichten. Die Christen des Irak gehören zu den am stärksten verfolgten Gläubigen auf der ganzen Welt und hatten jahrelang vor allem in Mosul die Hölle auf Erden erlebt.
Ich hatte über eine Gruppe, die zum Neokatechumenalen Weg gehörte, einen losen Kontakt in den Irak und dadurch eine vage Vorstellung davon, unter welch katastrophalen Bedingungen die Christen dort leben mussten. Natürlich erschien mir persönlich die Gelegenheit, mir endlich ein eigenes Bild von den Christen im Irak machen zu können, ausgesprochen reizvoll. Ich hatte immer wieder über ihre Lage geschrieben, ohne sie je gesehen zu haben. Um ehrlich zu sein, überwog bei mir aber Angst.
Der Vatikan hielt an dem Plan der Reise trotz aller Bedenken ganz offensichtlich fest. Alle mitreisenden Journalisten bekamen – lange vor den ersten Bürgern unseres Alters in Italien – im Pressesaal des Heiligen Stuhls die erste Dosis des Impfstoffes, den uns Krankenschwestern des vatikanischen Kinderkrankenhauses verabreichten. Anschließend erhielten wir einen Termin in der irakischen Botschaft, um unsere Visa beantragen zu können.
Ich kannte die irakische Botschaft in Rom seit dem Besuch des irakischen Außenministers des Regimes unter Saddam Hussein, Tariq Aziz, in Italien. Dieser Außenminister des Irak, ein Christ, hatte in letzter Minute versucht, den Papst einzuschalten, um eine amerikanische Invasion seines Landes zu verhindern. Während der Pressekonferenz in der Botschaft hatte sich Tariq Aziz geweigert, meinem israelischen Freund und Kollegen Menachem Gantz eine Frage zu beantworten, weil er mit Juden grundsätzlich nicht sprechen wollte. Daraufhin hatte ich mit vielen Kollegen aus Protest die Pressekonferenz verlassen.
Jetzt kam ich wieder in diese Botschaft. Alle Bilder von Saddam Hussein waren abgehängt worden. Ich erhielt das Visum, musste mir aber eine eindringliche Warnung anhören. Deutsche Staatsbürger seien im Irak unerwünscht angesichts der starken Ausbreitung von Covid-19 in der Bundesrepublik Deutschland.
Als die Einzelheiten der Reise des Papstes in den Irak vorgestellt wurden, war ich bitter enttäuscht. Das dicht gedrängte Programm, die zahlreichen Treffen mit Politikern, den religiösen Führern, der kurze Aufenthalt und die weiten Entfernungen im Land sorgten dafür, dass der Papst gar keine Chance haben würde, tatsächlich mit den bitterarmen und verfolgten Christen zusammenzutreffen. Es gab nur eine Chance. Entweder ich reiste parallel mit Unterstützung des Vatikans in den Irak, zumindest zeitweise außerhalb des päpstlichen Trosses, oder ich würde ebenfalls keine Chance haben, Christen zu treffen. Zufälligerweise ging bei uns zu Hause ein junger irakischer Kurde ein und aus, der mit meinem Sohn befreundet ist. Er teilte mir eher beiläufig mit, dass sein Onkel ein General im Norden des Irak sei. Ich bat ihn, mir zu helfen, und es kam zu einem Telefongespräch mit diesem hohen Militär. Ich wollte einfach wissen, wie gefährlich es sein würde, wenn ich allein, ohne den Schutz durch den Vatikan, durch den Irak in das Gebiet der aus Mosul geflohenen Christen nach Erbil reisen würde. Ich würde dann nur an einigen offiziellen Terminen des Papstes wie zum Beispiel der Messe im Stadion von Erbil teilnehmen.
Das Gespräch mit dem General war nicht unbedingt beruhigend. Er erklärte mir unumwunden, dass ich auf den Straßen des Irak eine Art wandelndes dickes Geldbündel sei. Immer noch seien zahlreiche Mitglieder der Geheimpolizei, aber natürlich auch Kämpfer des Islamischen Staates, darauf trainiert, Ausländer einfach von der Straße abzugreifen, sie in Autos zu zerren und gefangen zu halten, um dann Lösegeld in Millionenhöhe zu erpressen. Er sagte zu mir wörtlich: »Wenn Sie ganz sichergehen wollen, nicht entführt zu werden, wenn Sie sichergehen wollen, dass man Ihrer Frau nicht Ihr abgeschnittenes Ohr schickt und die Nummer eines Kontos, auf das sie eine Millionen überweisen soll, wenn Sie also sichergehen wollen, dass Ihnen all das nicht passiert, dann kommen Sie bitte nicht in den Irak. Sollten Sie es doch tun«, fügte er hinzu, »sollten Sie fairerweise an Ihre Familie denken und ein Testament machen.«
Im Februar informierte uns der Vatikan darüber, dass wir rechtzeitig die zweite Dosis Impfstoff bekommen würden. Auf der Reise in den Irak konnten wir also davon ausgehen, soweit es menschenmöglich war, vor einer Infektion geschützt zu sein. Allerdings mussten wir zustimmen, dass im Falle einer Infektion, wenn es dem Vatikan nicht möglich sein würde, eine infizierte Person in der päpstlichen Maschine wieder mit zurückzunehmen, wir selber dafür verantwortlich sein würden, wie wir aus dem Irak zurück nach Italien kommen würden.
Dann kam der 15. Februar, und gegen Abend um 21.30 Uhr Ortszeit feuerte eine Gruppe Terroristen 14 Raketen auf den Flughafen von Erbil und die angrenzende US -Luftwaffenbasis. Dabei kam ein Angestellter der US -Luftwaffe ums Leben, und weitere acht Mitglieder der US -Streitkräfte wurden zum Teil schwer verletzt. Die USA kündigten sofort an, dass es zu einem Gegenschlag kommen werde. Mit Kampfflugzeugen sollten Ziele der Gruppe angegriffen werden, die für den Anschlag verantwortlich war. Damit war klar, dass rund um den Flughafen, auf dem der Papst in nur zwei Wochen landen sollte, derzeit Krieg herrschte. Das war eine schreckliche Nachricht, aber auf der anderen Seite war ich irgendwie erleichtert: Unter diesen Umständen würde die ganze Reise sicher abgesagt werden. Der Papst würde ja wohl kaum in ein regelrechtes Kriegsgebiet reisen.
Doch zwei Wochen später kam die endgültige Bestätigung. Der Papst wollte unbedingt vom 5. bis zum 8. März den Irak bereisen. Ich versuchte, die Frage für mich zu beantworten: Sollte ich mir die Gelegenheit entgehen lassen, endlich die Menschen in Fleisch und Blut zu treffen, über die ich schon oft geschrieben hatte, oder war es einfach nur dumm, eine Reise zu wagen, von der ich von vornherein wusste, dass sie gefährlich sein würde? Ich hatte noch mehrere Male mit dem General im Irak gesprochen, und er hatte mir angeboten, mir bewaffnete Leibwächter zu besorgen, sobald ich in Erbil gelandet sein würde. Aber gleichzeitig riet er mir davon ab, weil ich mit einem Leibwächter auffallen würde wie ein bunter Hund. Er riet mir: »Kleide dich einfach so, dass du ein Iraker sein könntest.« Ich unterhielt mich mit den Kollegen im Pressesaal des Vatikans, und sie versprachen mir, mich zu unterstützen. Ich sollte alle nötigen Passierscheine in meinem Hotel vorfinden. Also besorgte ich mir einen Flug über Istanbul nach Erbil und aktivierte den Kontakt über die Bekannten des Neokatechumenalen Weges. Sie standen in Kontakt mit dem Bischof von Erbil und versprachen mir, mich in den Tagen im Irak zu begleiten.
Ich packte alte Jeans und mehr oder weniger zerschlissene Hemden ein, besorgte mir ein Bündel mit kleinen Dollarnoten, weil ich wusste, dass ich jede Menge Trinkgeld brauchen würde, verabschiedete mich von meiner Familie und schrieb, weil ich so verunsichert war, tatsächlich ein kurzes Testament. Ich sollte in Istanbul gegen Mitternacht die Maschine nach Erbil im Irak besteigen, aber schon am Gate war Schluss. Die türkische Airline teilte mit, dass sie mich nicht mitnehmen könne. Die irakische Seite hätte sich geweigert, einen Passagier mit einem deutschen Pass in den Irak einreisen zu lassen. Angesichts der Covid-Welle in der Bundesrepublik seien Deutsche im Irak nicht willkommen. Ich stritt und schimpfte und konnte schließlich eine mittlerweile schon ziemlich müde gequatschte Angestellte der Turkish Airlines davon überzeugen, dass ich schließlich in Rom lebte und schon sehr lange nicht mehr in Deutschland gewesen war und deswegen auch keine Bedrohung für die irakische Bevölkerung darstellen würde. Sie winkte mich schließlich durch, und ich landete gegen 4.00 Uhr morgens auf dem Flughafen von Erbil. Die Schäden des Raketenangriffs waren unübersehbar. Die Amerikaner hatten die Luftwaffenbasis in eine Festung verwandelt. Überall standen Panzer herum. Auf dem Flughafen selbst konnte man noch sehen, wo die Raketen eingeschlagen hatten. Ich war froh, als ich im Hotel ankam.
Als ich am nächsten Morgen in die Hotelhalle hinunterkam, saßen dort die junge Frau und der junge Mann, die ich von Rom aus kontaktiert hatte, neben zwei Männern, die Kalaschnikows trugen und den Hoteleingang im Auge behielten. Alles das, was ich in den kommenden Tagen erlebt habe, hätte ich aus eigener Kraft niemals organisieren können. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich allein schon aus Korrektheit die Namen der beiden hier in diesem Buch aufführen soll, weil sie so hervorragende Arbeit geleistet haben und ich ihnen wirklich zutiefst dankbar bin. Aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob ich sie damit nicht in Gefahr bringen könnte. Deswegen habe ich mich schweren Herzens dazu entschlossen, ihre Namen nicht zu nennen. Ich werde diese Tage mit ihnen, ihre Gastfreundschaft, ihre profunde Kenntnis und die Abende mit den sagenhaften Fleischspießen auf dem Platz in Erbil nie vergessen. Es rührte mich zutiefst, dass es beiden darum ging, dass ich wirklich verstand, was in ihrem Land mit Christen passierte.
Sie wollten mich nicht überzeugen. Sie wollten mich nicht auf ihre Seite ziehen, sie wollten, dass ich verstand, dass ich selber sah und begriff, was passiert war. Wir fingen auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise an. Mir war eine Adresse in Erbil zugespielt worden, ein Ort, an dem ich die verfolgten Christen würde treffen können. Aber die beiden lehnten zunächst ab, dorthin zu fahren. Sie sagten mir, dass es wichtig war, dass ich verstand, was geschehen war, bevor ich mich mit den Christen traf.
Der Weg zum Verständnis war nicht weit. Wir gingen vom Hotel aus nur einige Hundert Meter die Straße hinunter bis zu einem kleinen Kiosk. Ein junger Mann verkaufte dort Spielzeug, Süßigkeiten und Ersatzteile für Computer. Ich hatte keine Ahnung, was wir da wollten, aber die beiden kannten den jungen Mann zweifellos gut und baten mich, mich hinzusetzen und zuzuhören.
Er stellte sich kurz vor und erzählte dann: »Ich bin aus Mosul, meine Familie hatte ein kleines Geschäft in der Stadt, als im Juni 2014 die Kämpfer des Islamischen Staates, des Daesh, kamen. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass so etwas passieren könnte. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass eine so große Stadt wie Mosul mit über 600 000 Einwohnern, mit so vielen Polizeistationen und Kasernen der Armee von einer extremistischen Terrororganisation wirklich überrannt und eingenommen werden könnte. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass die irakische Armee fliehen würde beim Kampf um Mosul. Wir haben uns nicht vorstellen können, dass wir von einem Tag auf den anderen in einer völlig anderen Welt aufwachen würden, einer Welt, in der wie im Mittelalter Frauen verkauft wurden, Christen geköpft, weil sie sich weigerten, zum Islam überzutreten, einer Welt, in der es im Kampf um Mosul über 40 000 Tote gab. Aber was uns Christen am meisten schockierte, das war, dass unsere Nachbarn zufrieden waren. Sie begrüßten den Daesh, feierten sie, sie gaben ihnen zu essen und zu trinken, luden sie in ihre Häuser ein. Die Kämpfer begannen, die Kasernen zu plündern, auch schwere Waffen, Panzer, Granatwerfer, sie raubten die Banken aus, es war ein unglaubliches Chaos, und dann bekamen wir das hier.«
Er zog die Schublade auf unter seiner Kasse und nahm einen Brief heraus. »Hier steht: Deine Familie und du steht bereits seit 13 Tagen unter Beobachtung. Jeder deiner Schritte wird genauestens beobachtet. Falls du versuchen solltest, uns zu hintergehen, werden wir uns auf die Scharia berufen und uns rächen. Wir werden dich bestrafen. Gott will, dass wir niemals unseren Kampf beenden. Die Ungläubigen werden kein gutes Ende nehmen.«
Er zeigte mir den Brief. Darunter stand sogar eine Handynummer, die die Christen anrufen sollten.
»Sie riefen uns auch über die Lautsprecher der Moscheen auf, uns zu melden, wenn wir Christen seien, um freiwillig zum Islam überzutreten. Wer sich weigerte, dem sollte der Kopf abgeschlagen werden. Wir sollten alle unsere Frauen ›abgeben‹, Mütter, Schwestern, Töchter. Sie sollten verkauft werden. Die Kämpfer konnten sich vom Imam segnen lassen für eine Heirat auf Zeit. Das bedeutete, dass sie diese Frauen kauften, um sie vergewaltigen zu können. Da begriffen wir, dass es um Leben und Tod ging. Alle, die konnten, die Christen, die in der Polizei oder der Armee gedient hatten, verschafften sich Waffen, und es kam zu Feuergefechten. Viele versuchen, sich den Weg frei zu schießen, und viele wurden dabei getötet, andere schwer verletzt. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Wir alle versuchten, lebendig aus Mosul herauszukommen und über den Tigris zu flüchten. Meine Familie und ich haben es geschafft, aber viele unserer christlichen Freunde nicht, und wir haben erst später erkannt, was für einen Horror die erwartete, die es nicht geschafft haben. Die Frauen der Christen vom Sklavenmarkt nahmen sich oft selbst das Leben. Wir haben Schilderungen von diesem Sklavenmarkt der Frauen gehört. Die Frauen, die entkommen konnten, versuchten, sich Plastiktüten über den Kopf zu ziehen und sich zu ersticken. Es war ein unglaublicher Horror. Wir sind nach Erbil geflüchtet, hatten aber Angst, dass der Daesh auch hierherkommen würde. Dann warteten wir darauf, dass die Armee zurückschlagen würde, dass das alles nach einigen Tagen vorbei wäre. Aber es dauerte nicht Tage, nicht Wochen oder Monate, es waren zwei lange Jahre. Erst im Oktober 2016 schlug die Armee den Daesh zurück. Die Amerikaner haben uns geholfen, und die Peschmerga, die kurdischen Truppen, aber erst im Sommer 2017 war der Daesh wirklich besiegt. Als wir nach Mosul zurückkamen, haben wir einen Albtraum gesehen, die Massengräber, die große Moschee des Propheten Jona gesprengt, die jahrtausendealten Mauern von Ninive zerstört. Wir hatten mit unseren muslimischen Nachbarn bis zu dem Zeitpunkt der Ankunft des Daesh gut zusammengelebt, zumindest haben wird das geglaubt. Aber wie haben sie diese Monster feiern und gemeinsame Sache machen können? Sie haben doch gemerkt, dass sie Christen abschlachteten, Frauen vergewaltigten. Uns Christen und den Jesiden, vor allem den jesidischen Frauen, drohte die schlimmste aller Höllen.«
Nach dem Gespräch verließen wir den kleinen Kiosk, und als meine Begleiter mir klarmachten, dass der Mann, mit dem wir gesprochen hatten, zu den glücklichsten Flüchtlingen zählte, schwante mir, welche Zeugenaussagen mich erwarteten.
Wenn ich an diese Tage zurückdenke, in diesem riesigen Gebäude am Basar von Erbil, dann schäme ich mich. Ich weiß, dass die meisten Menschen, die ich dort kennenlernte, mich in guter Erinnerung behalten haben. Einige haben mir E-Mails geschrieben, dem Mann, der aus dem fernen Rom gekommen war, um sich ihr Elend anzusehen, und der jeder Familie Geldgeschenke gab. Sie wissen nicht, dass ich sehr viel mehr hätte tun können und meiner Ansicht nach sehr viel mehr hätte tun müssen, aber ich habe es nicht getan. Ich bin nach den Tagen in dem Horror dieses Gebäudes wieder abgeflogen, und wenn mich jemand danach fragen würde, ob es etwas gibt, das für das Pontifikat von Franziskus typisch ist, dann würde ich sagen, es ist genau das. Wir haben mit Papst Franziskus so viele Orte gesehen auf dieser Welt, auf denen Menschen unter einer schlimmen, akuten Not litten. Wir haben das aus allernächster Nähe gesehen, haben mit ihnen gesprochen, unser Mitleid ausgedrückt und sind immer wieder abgereist, und jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass ich Menschen einfach so zurückließ. Wir haben viele zurückgelassen, und wir haben wohl geglaubt, dass wir dieses Elend irgendwann würden vergessen können, aber mir zumindest ist das nicht gelungen.
Als wir in Erbil in die Straße einbogen, in der das Gebäude lag, hatte ich das beklemmende Gefühl, angekommen zu sein. Hier waren also diese Menschen, über die ich so oft geschrieben hatte. Mehr als hundert christliche Familien, die geflohen waren, lebten unter dem Existenzminimum in dem Gebäude. Mir fielen Christinnen auf, die auf dem Markt das von den Ständen heruntergefallene matschige Gemüse aufsammelten und in dem Gebäude verschwanden. Vor dem Eingang sah ich Männer, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren und alle Zugänge bewachten. Angesichts der unglaublichen Armut in dem Haus hatten die Bewohner erstaunliche Summen für ihre Sicherheit ausgegeben. Als wir das Gebäude betraten, sahen wir, dass überall Kameras installiert worden waren, im Büro des Verwalters des Gebäudes hingen große Bildschirme, auf denen all die Bilder dieser Kameras zusammenliefen. Wer immer auch hier wohnte, hatte vor irgendetwas oder irgendwem eine panische Angst.
Der Verwalter empfing meine beiden Begleiter und mich sehr freundlich und unserer Bitte, ob wir mit den Bewohnern des Hauses sprechen könnten, stimmte er sofort zu. Ich versuchte einzuschränken, dass wir nicht einfach in die Wohnungen der Familien hineinplatzen wollten, sondern dass wir erfahren wollten, was ihnen zugestoßen war, und er nickte eifrig.
Er erklärte, dass es reichlich Familien gebe, die zu gerne darüber sprechen würden, was ihnen passiert sei. Hier seien noch nie Reporter gewesen. Überhaupt gab es kaum jemanden, der diesen Menschen je zugehört hatte, weder die Behörden noch die Polizei noch die Armee und schon gar nicht Journalisten. Der Verwalter versicherte uns aber vorher, die Familien zu fragen, ob sie mit einem Besuch einverstanden sein. Schon hinter der ersten Tür auf diesem langen Flur war der Anblick kaum zu ertragen. Ein älterer Mann lag so gut wie reglos auf einer Matratze auf dem Boden in dem einzigen Raum, den sich die ganze Familie teilte. Er hatte Kugeln einer Kalaschnikow abbekommen und war kaum in der Lage aufzustehen, geschweige denn arbeiten zu gehen. Ich habe in diesen Tagen eine Liste angelegt und eingetragen, was den Männern, die ich besuchte, zugestoßen war, und in der Liste stand zum Schluss immer das Gleiche:
Neben der Matratze des Mannes saß seine Frau und stellte mir die drei Kinder vor, die auf dem Boden hockten. Sie waren zwischen sechs und 14 Jahre alt, und ihre Augen waren auf eine eigenartige Weise leer. Die Frau schien zu spüren, dass ich mich wunderte, und erklärte mir gleich: »Wir haben kein Geld, um für die Schulen zu zahlen. Die Kinder können nirgendwohin gehen. Sie sind den ganzen Tag hier in dem Zimmer, sie trauen sich als Christen fast nicht auf die Straße. Wir haben nur ein Buch, und darin lesen sie zu dritt.« Das Fenster der Wohnung war verbarrikadiert. Es drang kein Außenlicht herein, eine nackte Glühbirne baumelte unter der Decke. Der schwer verletzte Mann in der Ecke erklärte mir mit gebrochener Stimme, dass sie die Fenster verhängen mussten, weil es immer wieder Brandanschläge gegen Christen gegeben habe. In einer Ecke des Zimmers stand ein kleiner Elektrokocher, daneben ein paar Plastikteller und ein paar sehr alte Gabeln und Messer. Dieser kleine Kocher war alles, was man eine Küche nennen konnte. Die Betten hatten sie auf die Seite geräumt. Es war unübersehbar, dass die Frau sich für die Behausung schämte. Offensichtlich schlief die Familie in diesem einzigen Raum, aß hier und versuchte irgendwie, den Tag zu überstehen. Ich glaube, das Schlimmste an diesen Tagen war, dass diese Menschen so vollkommen hoffnungslos waren.
Sie erzählten mir, dass die Behörden ihnen die Papiere verweigerten, dass sie keinen Pass besaßen. Alle Unterlagen, die sie für einen Antrag gebraucht hätten, waren verbrannt. Um Ersatz zu bekommen, mussten sie in ihre Geburtsstadt Mosul zurück. Aber sobald sie dort auftauchten, schlug ihnen offene Feindseligkeit entgegen. Man sagte ihnen, dass sie als Christen dort nichts verloren hätten. Die Behörden verweigerten ihnen einen Pass.
Natürlich war der Daesh immer noch dort. Die Kämpfer hatten sich einfach unter das Volk gemischt, sich als einfache Bürger ausgegeben, aber kontrollierten im Hintergrund noch immer einen Teil der Macht in der Stadt. Dass die Straßen in Mosul repariert worden waren, ausgerechnet aus Anlass eines Papstbesuchs in einer Stadt, aus der die Christen systematisch vertrieben worden waren, fanden die Vertriebenen zutiefst ungerecht. Aber selbst wenn sie einen Pass gehabt hätten, gab es auf dieser Welt kein Land, das irakische Flüchtlinge freiwillig aufnahm. Sie wussten, dass ihnen nur eine Fluchtroute blieb: über Syrien und die Türkei ins ferne Europa. Aber um das zu schaffen, waren die Männer viel zu krank und die Frauen mit ihren Kindern viel zu arm, um auch nur das erste Stück des Weges finanzieren zu können. Sie boten mir süßen Tee an und stellten mir eigentlich alle die gleiche Frage: Hat man vergessen, was mit uns passiert ist? Interessiert es in Europa und den USA niemanden, dass wir einen Krieg in Mosul erlebt hatten, dass wir vertrieben wurden, dass wir nur wenige Christen in einem riesigen Meer aus Muslimen waren? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Warum hatte niemand etwas für sie getan? Ich erklärte ihnen, dass ich seit vielen Jahren Päpste auf ihren Auslandsreisen begleitet hatte und auch jetzt im Kontakt mit dem Vatikan stand. Seltsamerweise schlug die Stimmung jetzt um.
Sie waren seltsamerweise stolz darauf, dass der Papst in den Irak gekommen war. Sie würden nicht einmal zu einem der Gottesdienste gehen können, sie konnten ihre Männer nicht allein lassen und hatten auch kein Geld für das Busticket übrig, um zum Stadion von Erbil zu gelangen. Aber sie sagten immer wieder, wie froh sie darüber seien, dass er gekommen war. Es würde bedeuten, dass zumindest einer, und zwar das Oberhaupt der Katholiken, sie doch nicht vergessen habe und dass es irgendwann vielleicht doch eine Rettung für sie gebe.
Ich habe vor allem diese mutigen Frauen in Erinnerung. Angesichts der Lage, in der sie sich befanden, wäre es nur zu verständlich gewesen, wenn sie einfach zusammengebrochen wären. Aber sie hielten diese kargen Räume penibel sauber, versuchten eine Ordnung in den Tag zu bringen, so schwierig das auch war. Sie versuchten, ihre Männer zu pflegen und ihre verzweifelten Kinder irgendwie doch zu ermuntern. Einigen, ganz wenigen, war es gelungen, einen Job bei einem christlichen Arbeitgeber zu bekommen. Ich erinnere mich an den Besuch bei einem Mann in dem Gebäude, der an einem schweren Krebsleiden erkrankt war, seine Frau versuchte, mit einem Job in einer Bar genug Geld zu verdienen, um die Medikamente bezahlen zu können.
Es war schwer, sie nach ihren Geschichten zu fragen, und meistens wartete ich einfach nur, bis sie begannen zu erzählen. So unterschiedlich diese Geschichten auch waren, so furchtbar war jede einzelne von ihnen. Die meisten christlichen Familien hatten ein ganz normales Leben in Mosul geführt. Sie hatten Geschäfte betrieben, einige von ihnen sogar ansehnliche Unternehmen. Sie hatten Lebensmittel verkauft oder Bekleidung, sie hatten mit Teppichen und Haushaltswaren gehandelt. Manchmal hatten sie so etwas wie eine Bedrohung gespürt, sie aber nicht ernst genommen.
Alle diese Familien, mit denen ich sprach, erzählten mir immer wieder, dass sie mit ihren muslimischen Nachbarn in all diesen Jahren in Mosul hervorragend ausgekommen seien. Es habe keine Spannungen gegeben, und man habe sie nie daran gehindert, am Sonntag in ihre Gottesdienste zu gehen. Im Gegenteil: Christen und Muslime hätten viele Familienfeste zusammen gefeiert. Die Stadt Mosul sei ein friedlicher Ort gewesen, an dem viele Religionen ohne Konflikte nebeneinander existiert hatten. Sie hätten sich auch nicht vorstellen können, dass sich das je ändern würde. Schließlich war die Jona-Moschee in Mosul ein Symbol des Zusammenlebens. Christen hatten auf dem Grab des Propheten Jona eine Kirche errichtet, in der auch der Zahn des Wals gezeigt wurde, der Jona verschluckt haben soll. Muslime bauten die Kirche in eine Moschee um, da Jona mit dem Namen Yunus auch im Koran vorkommt. Der Daesh sprengte die Moschee nach der Eroberung von Mosul.
Schon in den Jahren vor dem Angriff des Daesh im Jahr 2014 hatte es Anschläge auf christliche Geschäfte gegeben. Hinter einer weiteren dieser unendlich vielen Türen in dem großen Komplex wartete Suhair Nagit. Sie war eine Geschäftsfrau und hatte einen gut gehenden Laden für Damenbekleidung in Mosul betrieben. Sie hatte zu den angesehenen Familien in Mosul gehört, und es schmerzte mich zu sehen, dass sie sich jetzt ihrer Armut schämte. Auf dem Boden lagen nur ein paar alte Teppiche, es gab nur einen winzigen Kocher und völlig zerbeultes Kochgeschirr. Die Familie hatte hier in diesem kargen Raum Hunger erlebt, das war unübersehbar. Draußen war diese gefährliche Welt, in der immer noch die Monster des Daesh herumstreiften und viele, die Christen hassen, aber draußen war nicht nur Gefahr, sondern auch Essen, und deswegen musste sie hinausgehen für ihre Familie. »Sie haben Granaten auf unser Geschäft abgefeuert, schon im Jahr 2013. Ich dachte, das geht vorüber, das seien nur ein paar Verbrecher, aber dann kamen diese Tiere des Daesh.« Sie sah mich mit einem herausfordernden Blick an.
»Was werden Sie tun, wenn Sie den Irak verlassen und wieder in Italien sind?«, fragte sie mich.
»Ich werde über Sie schreiben«, sagte ich.
»Aber wieso, wieso sind Sie hier und wollen über unser schreckliches Schicksal schreiben?«
»Der Papst ist hier, und deswegen sind viele Journalisten hier, ich auch.«
Sie sagte: »Wenn der Papst nicht gekommen wäre, wenn er nicht den Mut gehabt hätte, hierher in diesen Hexenkessel zu kommen, dann wären Sie auch nicht gekommen, stimmt das?«
»Ja«, sagte ich, »das stimmt.«
»Dann bin ich froh«, sagte sie. »Wenigstens dieser Papst hat uns nicht vergessen. Sie werden schreiben. Aber werden uns die Menschen helfen, uns aufnehmen in Deutschland oder uns die Möglichkeit geben, irgendwo zu leben, wo wir leben dürfen wie alle anderen, obwohl wir Christen sind?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
»Schreiben Sie«, sagte sie. »Dann haben wir immerhin eine Chance. Wir haben in Mosul gedacht, dass man diesen Fanatikern das Feld nicht überlassen darf, und deswegen haben wir einfach unsere Geschäfte wieder aufgebaut. Aber dann kam eine ganze Armee, nicht mehr nur einige Extremisten, sondern eine Armee, die stark genug war, die irakische Armee wegzufegen, und das Bitterste, was ich erlebt habe, war, dass die Menschen, die ich für muslimische Freunde gehalten habe, eine Siegesfeier für diese Fanatiker organisierten, die verlangten, dass wir Christen geköpft wurden und wir Frauen in der Sklaverei abzuliefern seien.«
Es fiel mir schwer, mich von Suhair Nagit zu verabschieden. Du hast wieder einen Menschen zurückgelassen, dem du wahrscheinlich sehr viel mehr hättest helfen können, dachte ich.
In den kommenden Stunden fragten mich die Menschen immer das Gleiche: Warum hatte der Westen Mosul seinem Schicksal überlassen? Warum waren amerikanische Spezialkräfte erst nach über zwei Jahren gegen den Daesh vorgerückt? Warum hatte man ihnen, den Christen, nicht geholfen in diesem grauenvollen Jahr 2014? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und ich schämte mich dafür, dass mir, wenn ich an das Jahr 2014 dachte, als Erstes einfiel, dass Deutschland die WM in Brasilien gewonnen hatte. Das Ausmaß der Tragödie im Irak hatte ich damals nicht begriffen.
Nahezu alle Gespräche in dem riesigen Gebäude endeten immer mit dem Satz: Nur den Jesiden, vor allem den Frauen der Jesiden, erging es noch schlechter als ihnen. Bis heute verstecken sich viele von ihnen.
Es war bereits dunkel, als wir das Gebäude verließen und uns eine Pause in einem Café im Basar von Erbil gönnten. Wir schwiegen meistens, die Erzählungen hatten uns alle mitgenommen.
Nach einer Weile traute ich mich, meine Begleiter zu fragen: »Kennt ihr Jesidinnen, Frauen, die dies Zeit in Mosul überlebt hatten?«
Sie nickten. Es gab eine Wohngemeinschaft junger jesidischer Frauen, die den Terror erlebt hatten. Aber es war bereits dunkel, und meine Begleiter erklärten mir mehr oder weniger unumwunden, dass es langsam Zeit wurde, dass ich das Risiko begriff. Unser Besuch im Haus war bestimmt aufgefallen. Dass jemand, der mit dem Vatikan zu tun hatte und aus Rom gekommen war, hier herumspazierte, war sicher beobachtet worden. Meine Begleiter machten mir klar, dass ich für einige eine Trophäe sein könnte, für andere wiederum die Chance, mit einem Schlag sehr reich zu werden, da bestimmt einige Hunderttausend Dollar aus meiner Entführung herausgepresst werden könnten. Sie sahen mich ernst an und sagen dann: »Wenn dir etwas passiert, wenn dich jemand in ein Auto zerrt, dann können wir das nicht verhindern.« Ich nickte. Ich hatte verstanden.
Wir beschlossen, trotzdem in den besagten Stadtteil Erbils zu fahren und die Jesidinnen zu bitten, uns trotz der späten Stunde noch zu einem Gespräch zu empfangen. In der Dunkelheit fuhren wir durch ein Gebiet, in dem die wohlhabende Mittelschicht Erbils zu wohnen schien. Ein Haus, das von Weitem aussah wie ein Einfamilienreihenhaus, fiel dadurch auf, dass die Fenster abgedunkelt waren.
Meine Begleiter nickten mir zu. Hier war es. Ich bat sie vorzugehen und zu fragen, ob die Frauen wirklich sicher waren und ob sie mit mir sprechen wollten, aber schon nach wenigen Augenblicken kamen die beiden zurück und erklärten mir: »Sie haben uns nur gesagt, dass es besser gewesen wäre, wenn du sehr viel früher gekommen wärst.«
»Sie meinen, schon heute am Nachmittag?«
»Nein, sie meinen, Jahre früher.«
Ich betrat ein geräumiges mit dunklen Möbeln ausgestattetes Wohnzimmer. Dann kam eine attraktive Studentin nach der anderen durch eine Glastür. Es waren Ragheed Baballos, Khaleda Saido, Bubhi Sada, Basma Sulaiman, Sairi Khala, Odedel Madhhi und Nanssy Ayad, alle zwischen 20 und 26 Jahre alt.
Sie wollten wissen, was ich über die Jesiden wusste, doch das war nicht viel. Ich hatte in Kursen im Vatikan über Weltreligionen gelernt, dass die Jesiden zu den ältesten Religionen der Erde zählen. Die Religion dürfte etwa 1500 Jahre älter sein als das Christentum. Ich wusste, dass es etwa eine Million von ihnen gibt und dass sie zu den wenigen Religionen gehören, die in der Geschichte nie missioniert haben. Das Seltsame an dieser Religion ist, dass die Jesiden kein heiliges Buch besitzen. Sie kennen keine heilige Schrift, sondern beziehen sich ausschließlich auf die Geschichten ihrer Religion, die seit Jahrtausenden erzählt werden. Eine große Rolle spielt ein von Gott geschaffener Engel, der durch einen blauen Pfau symbolisiert wird. Dieser Engel ist auch an der Erschaffung Adams beteiligt, und alle Jesiden sehen sich als Nachfolger Adams, deswegen ist es auch verboten, in andere Religionsgemeinschaften hineinzuheiraten.
Eine der jungen Frauen sah mich an und sagte dann: »Unsere Religion hat der IS als Vorwand für den Völkermord genommen.«
Wir alle in dem Raum wussten, dass Frauen der Jesiden Opfer einer so perversen sexuellen Logik des IS gewesen waren, dass wir alle zunächst peinlich berührt schwiegen. Als der IS ihre Wohngebiete im Irak bei Mosul angriff, waren die Frauen der Jesiden halal. Aus Sicht der Terroristen standen Jesiden, die kein heiliges Buch kennen, nicht im Geringsten unter Gottes Schutz. Das bedeutet im IS -Terrorstaat: Es war in Ordnung, sie zu vergewaltigen und trotzdem gute Muslime des IS zu sein.
»Sie konnten in ihrem perversen Kalifat zum Scheich gehen, uns für ein paar Tage auf dem Papier heiraten und uns systematisch vergewaltigen, und sie blieben gute Gläubige. Warum sagt der Papst das nicht? Wenn er schon hier ist? Meine Cousine ist verschwunden und nie wieder aufgetaucht, wir denken jeden Tag an die Frauen, die wir kannten und die nicht mehr da sind. Warum sagt der Papst nicht, dass wir uns nicht trauen, zurück in unsere Städte zu gehen, weil die, die mit dem IS durch unsere Städte marschierten, immer noch da sind und jetzt so tun, als seien sie unbescholtene Bürger und als wäre nichts gewesen«, sagte die Jesidin Sairi Khala.
Dann fügte sie hinzu: »Als der Daesh kam, wussten wir Jesiden, dass es um Leben oder Tod gehen würde. Wir haben versucht, uns auf den Heiligen Berg zu retten nach Sindschar. Der Daesh hat uns rund um den Berg eingekesselt. Nach Schätzungen sind etwa 10 000 Menschen gestorben. Die US -Luftwaffe hat versucht, uns Jesiden aus der Luft mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen, aber am 3. August begann die systematische Ermordung durch den Islamischen Staat. Die Peschmerga-Kämpfer der Kurden, auf die wir gehofft hatten, haben uns nicht geholfen. Dankbar sind wir noch heute den Amerikanern, weil sie mit Bomben die Panzer und Lastwagen des IS angegriffen haben. Kurdische Truppen haben schließlich einen Weg frei gekämpft in Richtung Syrien, und so konnten wenigstens einige von uns fliehen.«
Es war still in dem Raum, während die jungen Frauen sprachen.
»Es wird nichts mehr so sein wie vor dem Völkermord«, sagte eine von ihnen. »Wir haben gesehen, wozu die Fanatiker des Islam fähig sind. Wir leben mit den Christen in einem Meer aus Muslimen, und wir werden von nun an immer Angst haben.«
Ich bedankte mich für das Gespräch, und bevor ich ging, sagten die Frauen noch zu mir: »Es ist gut, dass Sie gekommen sind. Es ist gut, dass jemand, der mit dem Papst gekommen ist, weiß, dass es nicht nur die Christen waren, die ausgerottet werden sollten, sondern auch die Jesiden. Vergessen Sie das nicht.«
Ich habe das nicht vergessen, auch wenn ich mir manchmal wünsche, diese Tage im Irak vergessen zu können. Aber vermutlich hat der Papst recht, dass kaum etwas so tödlich ist wie die Gleichgültigkeit, und die Erinnerung macht die Gleichgültigkeit unmöglich. Schließlich hatte auch der Papst die Jesiden nicht vergessen und all die Menschen, deren Leid ich ein bisschen zu nahe gekommen war. In Ur, dem Geburtsort Abrahams, hatte der Papst gesagt:
»Feindseligkeit, Extremismus und Gewalt entspringen nicht einer religiösen Seele – sie sind Verrat an der Religion. Und wir Gläubigen dürfen nicht schweigen, wenn der Terrorismus die Religion missbraucht. Im Gegenteil, es liegt an uns, Missverständnisse durch Klarheit aufzulösen. Lassen wir nicht zu, dass das Licht des Himmels von den Wolken des Hasses verdeckt wird! Über diesem Land brauten sich die dunklen Wolken des Terrorismus, des Krieges und der Gewalt zusammen. Alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften haben darunter gelitten. Ich möchte insbesondere an die jesidische Gemeinschaft erinnern, die den Tod vieler Männer zu beklagen hatte und mit ansehen musste, wie Tausende Frauen, Mädchen und Kinder entführt, als Sklaven verkauft sowie körperlicher Gewalt und Zwangskonvertierung unterworfen wurden. Heute beten wir für alle, die solche Leiden erfahren haben, für alle, die immer noch vermisst und entführt sind, dass sie bald nach Hause zurückkehren. Und wir beten dafür, dass die Gewissensfreiheit und die Religionsfreiheit überall respektiert und anerkannt werden: Dies sind Grundrechte, denn sie machen den Menschen frei, den Himmel zu betrachten, für den er geschaffen wurde.«
Am 7. März traf ich mich mit meinen Kollegen aus dem Vatikan-Tross in Erbil. Der Papst würde dort vor seiner Rückreise nach Rom eine Messe vor erwarteten 30 000 Gläubigen zelebrieren. Die Kollegen bestürmten mich und wollten wissen, was ich bei den Christen erlebt hatte. Aber ich wusste nicht genau, womit ich anfangen sollte. Gleichzeitig waren wir alle ziemlich nervös, weil die Militärs uns für meinen Geschmack etwas zu genau über das Risiko der Messe aufgeklärt hatten. Aus der Sicht der Militärs war ein voll besetztes Stadion mit einem Papst und Zehntausenden Christen das perfekte Ziel für die Extremisten des IS . Die Armee würde aus der Luft das ganze Gebiet per Hubschrauber kontrollieren, aber ein gewisses Risiko blieb. Der zuständige General erklärte, dass die Terroristen für einen eventuellen Angriff auf das Stadion ganz sicher Raketen einsetzen würden. Diese Raketen würden von Lkws abgeschossen, aber von Hubschraubern aus konnte man solche Lkws von ganz normalen Lastwagen nicht unterscheiden. Erst wenn die Lkws stoppten und die Abschussrampen hochfuhren, würden die Hubschrauber eine Chance haben, sie zu erkennen. Von dem Augenblick an, in dem sie stoppten und die Abschussrampen vorbereiteten, bis zum Abfeuern der Rakete vergingen mindestens 15 bis 20 Minuten. In dieser Zeit mussten die Hubschrauber sie erkennen und ausschalten, um den Raketenbeschuss des Stadions und damit ein Massaker zu verhindern.
Ich weiß noch, wie verwundert ich darüber war, was für eine festliche Stimmung im Stadion herrschte, obwohl eine Gefahr durch eine Ansteckung mit dem Virus ebenso wenig zu leugnen war wie die Gefahr eines Angriffs des IS . Dennoch feierten die Menschen den Papst, allerdings sah ich auch eine ganze Menge Kollegen immer wieder besorgt zum Himmel schauen und abwechselnd wieder auf ihre Uhr. Offensichtlich konnten sie das Ende des Gottesdienstes im Stadion kaum erwarten.
Der Papst versuchte, während des Gottesdienstes der Kirche im Irak Mut zuzusprechen. Dann erklärte er, dass es jetzt Zeit sei, nach Rom zurückzufliegen. Kurz darauf segnete er die Menschen, und ich sah, wie der beeindruckende Konvoi gepanzerter Autos den Papst in einem unglaublichen Tempo über gesperrte Straßen vom Stadion zum Flughafen brachte.
Auch ich packte meine Sachen und checkte vor dem Abflug noch einmal meine Mails. Vier Familien aus dem großen Gebäude hatten mir geschrieben und mich gefragt, ob ich Ihnen helfen könnte, irgendwie aus ihrem Elend herauszukommen. Ich habe mir damals vorgenommen zu versuchen, ihnen beizustehen, sobald ich in Rom zurück war. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich viel zu wenig getan, und ich schäme mich dafür. Soweit ich weiß, ist es nur einer Familie gelungen, sich aus diesem Haus in Erbil nach Kanada zu Verwandten abzusetzen.