E s ist jetzt 35 Jahre her, dass ich mich zum ersten Mal zu meinem Arbeitsplatz am Petersplatz im Vatikan aufmachte, und manchmal setze ich mich einfach in eine der Ecken des Platzes und denke daran, wie das alles angefangen hat. Ich erinnere mich, dass die älteren Kollegen mir, dem 24 Jahre alten Frischling, damals erklärten, dass es angebracht war, stets ein Päckchen Belga-Zigaretten dabeizuhaben. Ich hatte keine Ahnung, wozu das gut sein sollte. Es dauerte aber nicht lange, bis ich begriff, was dahintersteckte. In der päpstlichen Maschine rauchte der damalige Reisemarschall Roberto Tucci Kette und ließ sich gern eine Belga anbieten. Während er eine Zigarette nach der anderen vernichtete, plauderte er Details über die Papstreisen aus, zum Beispiel, dass es ein Planungsfehler gewesen war, Papst Johannes Paul II . während seiner ersten Australienreise nach der Landung einen Koalabär in d en Arm zu drücken . Das Tier hatte vor Schreck die weiße päpstliche Soutane auf unrühmliche Weise beschmutzt. Dadurch war das Gerücht entstanden, dass neben der Schlange im Garten Eden auch der Koalabär in Sydney Gottes Missfallen erregt habe.
Es wimmelte von Kettenrauchern in der Umgebung von Johannes Paul II . Pressechef Joaquín Navarro-Valls war ebenso ein Kettenraucher wie sein Haus-und-Hof-Fotograf Arturo Mari.
Wir im Gefolge mussten das Geheimnis Arturo Maris wahren. Denn der Papst hatte ihn einmal erwischt, als er sich im päpstlichen Appartement eine Zigarette angezündet hatte. Als der Papst überraschend den Raum betrat, hatte Mari sie einfach in den Innenhof des Vatikans geworfen. Der Papst maßregelte Arturo und war von der Wirkung dieser Predigt derart überzeugt, dass er behauptete, Arturo Mari habe nach der päpstlichen Schelte für immer mit dem Rauchen aufgehört – ein wahres Wunder. Wir wagten nicht, dem Papst zu verraten, dass Arturo in Wahrheit weiterrauchte, allerdings nur, wenn der Papst ihn nicht sah. Ich erinnere mich auch an die ersten meiner mittlerweile 50 Papstreisen. Unmittelbar vor der Landung des päpstlichen Flugzeugs schnallten sich damals trotz heftiger Proteste der Stewardessen alle Fotografen von ihren Sitzen los und stürmten zur Hintertür, bereit, sofort nach der Landung auf das Flugfeld zu stürmen. Denn eines der wichtigsten Fotos der damaligen Reisen war das erste. Die Fotografen wussten, dass sie gefragt werden würden: Hast du das Foto, auf dem der Papst die Erde küsst? Die Kollegen waren damals gezwungen, ab und zu die Waisenkinder beiseitezuschubsen, die neben der gelandeten Papstmaschine zur Begrüßung von Johannes Paul II . Fähnchen schwingen sollten, um das Foto schießen zu können.
Der Vatikan ließ damals Dutzende Koffer bedruckten Papiers in die päpstliche Maschine verladen. Jeden Morgen zwischen 4 und 5 Uhr war es den Journalisten gestattet, sich aus dem Bett zu quälen, um die Ausdrucke der päpstlichen Reden des anbrechenden Tages abzuholen. Jahrzehntelang standen zerknitterte Kollegen notdürftig gekleidet und vollkommen verschlafen vor den Hoteltüren der päpstlichen Delegation, um die Reden abzuholen. Es existierte ein Tauschhandel. Abends zahlten Kollegen das Abendessen und die Getränke, wenn sie am nächsten Morgen im Bett bleiben konnten, weil ein Kollege für sie die Reden mitbrachte und dann unter der Zimmertür des Hotels hindurchschob. Es kam vor, dass Kollegen die Zimmertür verwechselten und wildfremden Urlaubern päpstliche Reden , Stunden bevor sie gehalten wurden, unter der Tür durchschoben. Geschlafen wurde damals während der päpstlichen Reisen kaum, weil einfach alles sehr viel länger dauerte. Die Fotografenkollegen schleppten kleine Gaskocher, Pakete mit Pasta und selbst gemachten Tomatensoßen mit, denn nachts mussten sie die Maschinen kontrollieren, die drei bis vier Stunden brauchten, um über schlechte Telefonleitungen ein einziges Foto nach Rom zu übertragen. Während die Maschinen liefen, wurde auf den Fluren gekocht, gegessen und natürlich geraucht. Es herrschte eine Stimmung wie auf einer Party mit vollkommen übermüdeten Partygästen. Wir Reporter standen stundenlang vor dem einzigen funktionierenden Telefon irgendwo in Afrika oder Asien an, um endlich unseren Text diktieren zu können. Die Kolleginnen und Kollegen am anderen Ende der Leitung, die mitten in der Nacht diese Texte aufschreiben mussten, hassten diese Gespräche über verrauschte Leitungen auch wegen der komplizierten Namen und Begriffe. Wenn wir diktierten, dass der Papst gesagt habe, er wolle vom Proselytismus absehen, fragten die Kolleginnen und Kollegen: »Waaaass will er absägen?«
Wir brüllten: »Er will vom Proselytismus ABSEHEN , nicht absägen.«
»Prosely-waaas?«
Wir brüllten dann in den Hörer: »Pro-se-ly-tis-mus. Das bedeutet, er will andere nicht bekehren.«
»Dann sag das doch gleich«, kam es aus dem Hörer. Kann man dieses »Prosely-etwas nicht weglassen, sonst muss ich erst ein Lexikon suchen, um nachzuschauen, wie man das schreibt.«
Die Gespräche dauerten ewig.
Wenn Papst Johannes Paul II . eine besonders wichtige Nachricht während des Fluges in das Zielland verbreiten wollte, stellte die Alitalia Flugzeuge mit Telefonen zur Verfügung. Diese Apparate funktionierten aber nie. Deswegen schleppte ich immer ein Satellitentelefon mit. Damals erinnerten die Dinger an Waffeleisen mit einem Hörer. Man musste die Metallplatte des Telefons während des Fluges in die geschätzte Richtung des Satelliten halten, dabei konnte sich aber im schlimmsten Fall die Schubumkehr des Flugzeugs einschalten. Also konnte man nur wenige Sekunden telefonieren. Ich weiß noch, dass ich auf dem Weg nach Kuba durchgeben wollte, dass der Papst Kuba zwingen werde, das bis dahin verbotene Weihnachtsfest zu erlauben, und im Gegenzug das Ende des Embargos der USA verlangen werde. Ich rief aus der päpstlichen Maschine meine Telefonaufnahme an und brüllte: »Hier spricht Andreas Englisch, ich sitze in der Papstmaschine. Johannes Paul II . wird auf Kuba die Erlaubnis durchsetzen, Weihnachten zu feiern.« Der Kollege verstand mich nicht richtig, sagte nur: »Sie sind also der Weihnachtsmann«, und legte auf.
Dann wurde Benedikt XVI . gewählt, und in seinem Pontifikat beendete der Fortschritt der Technik endgültig die Tradition der vatikanischen Botendienste. Es war jahrzehntelang üblich gewesen, Mitgliedern der Vatikan-Delegation Filmrollen und Videokassetten heimlich zuzustecken, sobald sie eine päpstliche Veranstaltung verließen . Da sie dank des Polizeischutzes als Erste und in hohem Tempo zurück zum Apostolischen Palast gefahren wurden, warteten dort Boten, die die herausgeschmuggelte Ware in die Redaktionen fuhren, wo diese Stunden vor den Kollegen ankam.
Als schließ lich Papst Franziskus gewählt wurde, änderte sich alles. In der Amtszeit von Papst Johannes Paul II . und Benedikt XVI . galt es als ungeheures Privileg, dem Papst die Hand geben und mit ihm sprechen zu dür fen. Gewöhnlich wurde dieses Privileg immer nur den Kolleginnen und Kollegen gewährt, die zum ersten Mal im päpstlichen Flugzeug Platz nahmen oder zum letzten Mal, weil sie versetzt worden waren. Als ich Franziskus zum ersten der zahlreichen kurzen Gespräche im Papstflugzeug mit seinem Titel ansprach, wie die beiden Päpste vor ihm, nämlich mit »Heiliger Vater«, antwortete er: »Wie läuft es denn so, Heiliger Sohn?«
Franziskus schaffte es, eine kolossale Aufbruchstimmung im Vatikan zu verbreiten, und dennoch ist seine Amtszeit bisher so tragisch verlaufen. Der Petersplatz, diese imposante Arena, war zu Zeiten von Johannes Paul II . der Austragungsort einer großen Schlacht. Sie wurde nicht in Rom geschlagen, sondern überall in der ehemaligen Sowjetunion, gegen alle Organisationen der katholischen Kirche in Osteuropa. Die Gruppe der Machthaber, die sich der Oberste Sowjet in Moskau nannte, schaute mit Furcht und Argwohn auf diesen Platz und das, was dort geschah. Die Katholiken beklatschten dort einen Johannes Paul II ., der sie immer wieder anfeuerte mit seinem Motto »Habt keine Angst!«. Mit den Hunderten Ansprachen auf diesem Platz baute der Papst ganz Polen zu einer Bastion des Glaubens aus, die sich für die Sowjetunion als tödlich erweisen sollte. Die ganze Welt schaute auf den Petersplatz, als Papst Johannes Paul II . ihn beherrschte. Die Kirche hatte unter diesem Papst ihre Schwingen ausgebreitet. Um ihn scharten sich zum ersten Mal in der Geschichte der Kirchen auf der ganzen Welt Millionen von Menschen: 4,5 Millionen im Jahr 1995 in Manila, 2,2 Millionen in Krakau 2003, 2 Millionen im Jahr 2000 in Rom. Johannes Paul II . führte einen geradezu gigantischen Zuspruch für die Kirche vor. Der Petersplatz war der Platz eines Siegers über eine Weltmacht geworden. Der Feind von außen war geschlagen worden.
Als Papst Franziskus sein Amt antrat, hatte er es mit einem viel gefährlicheren Feind zu tun: einem Feind von innen. Die ganze Welt zeigte jetzt mit Fingern auf diesen Platz, auf die Zentrale einer Kirche, die am Pranger steht, als eine Organisation, die Eltern dazu bringt, ihr Kinder und Jugendliche anzuvertrauen, mit dem Versprechen, sie zum Guten zu führen, es aber zuließ, dass Täter aus den eigenen Reihen, die konsequent gedeckt wurden, diese jungen Menschen sexuell missbrauchten und zerstörten.
Der deutsche Papst Benedikt XVI ., der es liebte, auf dem Petersplatz seine theologischen Ideen auszubreiten, war nur ein Zwischenspiel gewesen. Seine übertriebene Nähe zu George W. Bush, den selbst die Öffentlichkeit der USA als einen der schlech testen Präsidenten aller Zeiten ansah, hatte dem Papst und dem Platz die politische Magie genommen.
Vor dem Amtsantritt von Joseph Ratzinger war der Petersplatz für Katholiken in aller Welt der Ring eines Kampfes des Guten gegen das Böse gewesen, und alle hatten gewusst, dass die Kirche auf der Seite des Guten stand, während die Bösen in Folterkammern und Gulags Priester und Ordensleute umbrachten.
Aber Papst Franziskus wusste, dass die Kirche ihre eigenen Folterkammern geschaffen hatte und die Folterknechte Priesterkleider trugen. Papst Johannes Paul II . hatte es mit einer Weltmacht zu tun gehabt, Papst Franziskus mit einem Monster, das die Kirche selbst geschaffen hatte – durch Wegsehen. Das war es, was diesen Papst bis ins Mark traf, denn er, der Chef einer Kirche, die jahrhundertelang ihre eigenen Sünden konsequent vertuscht hatte, wollte der Welt das Wegsehen austreiben. Es sollte Schluss sein damit, dass die Welt wegsah, wenn Menschen auf der Flucht ertranken, in ungerechten Gesellschaften verhungerten, an Krankheiten starben, nur weil sie keine Medikamente bezahlen konnten. Im Laufe der Aufdeckung des unglaublichen Ausmaß es des Missbrauchsskandals musste dieser Papst erfahren, dass er zunächst einmal seiner eigenen Kirche das Wegsehen austreiben musste.
Die Menschen kehrten der Kirche weltweit den Rücken. Wie hatte dieser Papst auf die Idee kommen können, etwas ändern zu können, ausgerechnet er, ein so konkret denkender Mann? Er gehörte nicht zu der Fraktion im Vatikan, die sich ausschließl ich dem Gott und dem Glauben widmete, er gehörte nicht zu den Leuten, die monatelang an Formulierungen feilten über die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Er war jemand, der die Armut der Slums kannte, die politischen Verbrechen und Verwicklungen, er wusste, wie es um diese Welt stand. Wie hat er auf die Idee kommen können, dass ausgerechnet er die Kraft haben könnte, etwas zu verbessern? Er hat versucht, in Myanmar einzugreifen, einer Friedensnobelpreisträgerin ins Gewissen geredet, die nichts daran geändert hatte, dass in ihrem Land der Völkermord gegen die Rohingya immer weiterging. Was hatte er also in Myanmar verbessert oder im Irak? Es war mutig gewesen, dorthin zu reisen, zweifellos, aber hungerten die Christen nicht immer noch, wurden sie nicht immer noch verfolgt, war ihre Lage nicht nach wie vor so gut wie aussichtslos? Hatte das Sterben im Mittelmeer aufgehört, obwohl seine erste Reise nach Lampedusa führte, obwohl er zweimal im Flüchtlingslager auf Lesbos gewesen war? War dieser 266. Nachfolger des heiligen Petrus persönlich einfach nicht überzeugend genug?
Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen erlebt, die versucht haben, einen Papst aus der Nähe zu verstehen. Fast alle hatten enorme Vorurteile. Die Entscheidung von Papst Johannes Paul II ., den Ausstieg aus dem Schwangerenkonfliktberatungssystem in Deutschland zu erzwingen, sorgte dafür, dass Kolleginnen und Kollegen, die für einige Jahre nach Rom kamen, einen stockkonservativen, menschenfeindlichen und vom echten Leben meilenweit entfernten Papst erwarteten. Fast alle waren maß los überrascht, wenn sie zum ersten Mal direkt mit ihm zu tun hatten. Was sie überrascht hatte, war sein Charisma. Johannes Paul II . glaubte ganz fest an etwas, was sie sich nicht vorstellen konnten, nämlich dass man Gott auf dieser Welt ganz konkret erleben konnte, dass man seine Botschaften hören, seh en, sprechen konnte. Nur diejenigen, die lange in Rom blieben, bekamen auch die versteckte Seite des Papstes mit: seine Einsamkeit.
Ich habe auch über diese Seite geschwiegen. Aber vergessen habe ich es nicht, wie Johannes Paul II . durch die Botschaft von Guatemala City ging, auf den Stock gestützt, ganz allein, ohne Hilfe, während sein Gefolge es sich bei Champa gner gut gehen ließ. Ich erinnere mich an die Besuche in seinem Appartement, als er sich nicht mehr wehren konnte und sich diebisch freute, wenn einer der Gäste endlich einmal seine ewig rechthaberischen Berater zum Schweigen brachte, die ständig übe r seinen Kopf hinweg entscheiden wollten und gegen die er sich nicht mehr durchsetzen konnte. Papst Benedikt XVI . überras chte durch seine zurückhaltende Art. Jahrzehntelang hatten die Zeitungen ihn als gnadenlosen deutschen Großinquisitor dargestellt. Dass er ein freundlicher Herr war, der seine Kirche vollkommen bedingungslos liebte, änderte für viele Besucher alles.
Aber Franziskus? Er schien ein älterer Herr zu sein, der sich eine unglaubliche Last aufgeladen hatte, und keineswegs ein Oberhaupt. Das ist das Seltsame an diesem Papst, dass er so gar nicht zu dieser Kirche zu passen schien. Die Kirche hatte makellose Lösungen in ihrer Geschichte versprochen. Wenn die Kirche eine Sünde vergab, dann war sie auch vergeben. Es gab keine Zweifel daran, kein Wenn und Aber. Was das Oberhaupt dieser Kirche lehrte, galt als unfehlbar, als sei er mehr als ein Mensch. Aber dieser Papst passt so gar nicht dazu. Bei ihm gibt es alles andere als makellose Lösungen. Er versuchte, das Leben auf dieser Welt ein ganz klein wenig zum Besseren zu wenden, und er wusste, dass er dabei ständig Niederlagen erleiden würde. Das ist das Geheimnis des Papstes und auch sein Vermächtnis. Er hat in seinem Pontifikat die Kirche von ihrer Spitze aus revolutioniert. Franziskus’ Kirche ist eine katholische Kirche, die Hilfe sucht bei Muslimen, Hindus oder Buddhisten. Sie ist eine Kirche, von der er verlangt, dass sie ihre Arroganz ablegt, dass sie sich klein machen soll. Es ist eine Kirche, die sich verantwortlich fühlt für alle Menschen, die arm sind, weil die Welt ihren Reichtum nicht teilen will.
Dieser Papst scheint das Gegenteil der Unfehlbarkeit zu sein, weil er eine Kirche der Unzulänglichkeiten lenkt. Es ist eine Kirche, die das Unmögliche probiert, nämlich für das ganze Leid auf dieser Welt Verantwortung zu tragen .
Franziskus reicht es nicht, den Nächsten zu lieben , dieser Papst will, dass wir auch den Fernsten lieben, und es ist ihm egal, welche Religion dieser Nächste oder Fernste hat.
Vielleicht hat dieser Papst die einzige Chance erkannt, die die Menschen auf dieser Welt noch haben: dass die, die guten Willens sind, sich zusammentun, ungeachtet der Grenzen, die sie zu trennen scheinen. Geradezu flehentlich sagte der Papst während des Angelusgebets am 8. Dezember 2022: »Für Gott ist nichts unmöglich. Mit der Hilfe Gottes ist auch der Frieden möglich. Aber Gott will unseren guten Willen.« Dieser Papst hat zehn Jahre lang seinen innersten Glaubenssatz zelebriert, der da heißt: Das Ü bel der Welt hat ausgerechnet in der Arroganz derer seinen Ursprung, die sich für die Guten hielten. Der Glaube daran, dass eine Kirche Gottes nie schuldig werden kann, sondern nur ihre Mitglieder, hat sich als eine Falle herausgestellt. Denn dieser Glaube hatte den Blick verstellt für das, was in der Kirche wirklich geschehen war.
Im Dezember des Jahres 2022 zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche in Deutschland sich weiter zugespitzt hatte. Nach dem dramatischen Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe im November hatte die Öffentlichkeit die Tatsache, dass die deutschen Vorschläge im Vatikan vor allem auf Ablehnung gestoßen waren, verärgert zur Kenntnis genommen. Papst Franziskus persönlich kreideten zahlreiche Medien in Deutschland an, dass er an dem letzten Treffen mit den Bischöfen nicht einmal teilgenommen hatte. Ein Großteil der Öffentlichkeit in Deutschland sah darin so etwas wie Desinteresse des Papstes für die Reformen, die der Synodale Weg in Deutschland forderte. Gleichzeitig trafen in Rom immer schlechtere Zahlen aus Deutschland ein. Die Bertelsmann-Studie hatte im Dezember 2022 einen alarmierenden Trend gemeldet. Demnach dachte jedes vierte deutsche Kirchenmitglied über einen Austritt nach, zwei Drittel von ihnen Katholiken. Für Spannung im Vatikan sorgte, dass zumindest ein Teil dieses Phänomens Franziskus persönlich angelastet wurde. Ganz besonders hoch lag die Zahl der Kirchenaustritte im Bistum Köln. Dort wurden mehr als 20 000 Anträge für einen Kirchenaustritt gezählt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing hatte entschieden darauf verwiesen, dass eine Entscheidung im Fall des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki durch den Papst absolut überfällig sei. Die Revolte im Bistum gegen den Kardinal, die ganze Situation, »sei unerträglich.« Warum hatte der Papst nicht längst entschieden?
Inmitten all dieser Querelen aus Deutschland gönnte sich der Vatikan plötzlich am 18. Dezember eine Auszeit. Der Sieg der argentinischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar sorgte zumindest einige Tage lang für eine eher gelöste Stimmung in der Vorweihnachtszeit. Statt über die Probleme der Kirche nachzugrübeln, diskutierte die Spitze der Kirchenmänner im Vatikan, ob der Papst das Endspiel wohl gesehen habe und ob er für den argentinischen Star Messi gebetet habe. Die Nachrichten über den Papst betrafen jetzt eher seine lebenslange Liebe zu dem argentinischen Fußballclub San Lorenzo in Buenos Aires, und die hohen Kirchenmänner fabulierten darüber, ob Papst Franziskus wohl Maradona gekannt habe und ob er die argentinische Nationalmannschaft im Vatikan empfangen wolle – was er nicht tat.
Aber trotz der guten Vorzeichen entwickelte sich dieses Weihnachtsfest des Jahres 2022 für Franziskus auf eine überraschende Art und Weise tragisch. Im Jahr seines Amtsantritts 2013 hatte er beschlossen, zu Weihnachten ein ganz besonderes Signal zu senden. Vor den Weihnachtsfeierlichkeiten hatte er seinem zurückgetretenen Vorgänger in dessen Wohnung im Kloster Mater Ecclesiae einen Besuch abgestattet und ein frohes Weihnachtsfest gewünscht. Das Bild war um die ganze Welt gegangen, ein Papst wünschte dem anderen Papst frohe Weihnachten. Diese friedliche Botschaft zwischen den beiden alten Männern war so positiv aufgenommen worden, dass der Papst in den kommenden Jahren diesen Besuch zu Weihnachten wiederholte. Doch in diesem Jahr 2022 hatte Franziskus auf den Besuch im Kloster von Joseph Ratzinger verzichtet. Das hing auch damit zusammen, dass sich mittlerweile nur noch schwer abwägen ließ, ob ein solcher Besuch dem 95-jährigen zurückgetretenen Papst nicht mehr eine Last sei als eine Freude. Da Joseph Ratzinger kaum noch sprechen konnte, schien der Besuch des regierenden Papstes auch eine unangenehme Anstrengung für den alten Herrn zu sein, der auf keinen der Grüße von Papst Franziskus noch verständlich reagieren konnte. Es sprach also eine Menge dafür, Joseph Ratzinger diesen Weihnachtsbesuch zu ersparen.
Am Dienstag, dem 27. Dezember, verschlechterte sich plötzlich der Gesundheitszustand des ehemaligen Papstes. Die Ärzte bemerkten, dass es ihm schwerer fiel zu atmen und die Funktion der Nieren beeinträchtigt war. Für einen Mann in diesem Alter war das ein beunruhigendes Signal. Die behandelnden Ärzte beschlossen, vor allem ein wirksameres Beatmungsgerät einzusetzen, um dem Papa emeritus das schreckliche Gefühl des Erstickens zu ersparen. Natürlich hätte eine Verlegung in das vatikanische Großkrankenhaus, die Gemelli-Klinik, die knapp 13 Kilometer vom Vatikan entfernt liegt, eine Lösung bedeutet, weil dort alle nötigen medizinischen Geräte selbstverständlich zur Verfügung standen. Doch die Ärzte hatten den allgemeinen Zustand des Papstes so eingeschätzt, dass er nicht wirklich an einer akuten Krankheit litt, sondern dass seine gesundheitlichen Probleme schlicht und einfach damit zu tun hatten, dass er ein sehr alter Mann war, der wie eine Kerze langsam erlosch. Joseph Ratzinger hatte ganz offensichtlich den Wunsch geäußert, dass keine übertriebenen lebensverlängernden Maßnahmen an ihm vorgenommen werden sollten, er wollte friedlich in seiner Umgebung der letzten Jahre, im Kloster Mater Ecclesiae, einschlafen. Da eine Verlegung ins Krankenhaus also nicht infrage kam, beantragten die Ärzte leistungsstärkere Geräte für die Beatmung, die in das Kloster Mater Ecclesiae gebracht werden sollten. Dazu war ein ganz normaler Antrag zur Beschaffung nötig, der an die Verwaltung des Vatikan gerichtet werde musste. Im Grunde verlangte ja nur ein Bewohner des Vatikan eine Ausstattung mit besserem Gerät, das geschah jeden Tag. Doch diesmal war der betroffene Bewohner ein ganz besonderer. Die Verwaltung informierte Papst Franziskus über die Notwendigkeit, besseres medizinisches Gerät in das Kloster Mater Ecclesiae zu verlegen, und dieser erkannte sofort die Dramatik der Lage. Da bahnte sich offensichtlich eine lebensbedrohliche Situation an.
Für Franziskus zeichnete sich jetzt ein ausgesprochen unangenehmes Szenario ab. Wie würde er dastehen, sollte Joseph Ratzinger jetzt sterben? Es würde so aussehen, als habe er sich um seinen schwer kranken Vorgänger überhaupt nicht gekümmert, zumal er eben auch nicht die Weihnachtsgrüße übermittelt hatte. An diesem Morgen des Mittwoch, des 28. Dezember, fasste Franziskus den Entschluss, dass er jetzt handeln müsse, dass er vor der ganzen Welt klarmachen müsse, dass er durchaus darüber informiert war, wie es um Benedikt XVI . stand. Daher entschloss sich der Papst zu einer dramatischen Geste.
In der Generalaudienz, die an diesem Morgen in der Halle Papst Paul VI . stattfand, sollte es um die Erinnerung an den heiligen Franz von Sales gehen. Während der Audienz schien alles ganz normal, der Papst interpretierte die Gedanken dieses Heiligen, erklärte, dass nach Ansicht des Franz von Sales der Herrscher nicht auf einem Thron sitze, sondern ein Kind in der Krippe war, ein machtloses Kind. Dann, kurz vor Ende der Audienz, ließ er die Bombe platzen.
Er sagte: »Ich möchte euch alle um ein besonderes Gebet bitten für den zurückgetretenen Papst Benedikt, der in der Stille die Kirche unterstützt – er ist sehr schwer krank –, wir müssen an ihn denken und den Herrn bitten, dass er ihn tröste und ihn unterstütze in seinem Zeugnis für die Liebe der Kirche, bis zum Ende.«
Diese wenigen Zeilen lösten in der katholischen Welt, wie nicht anders zu erwarten war, eine regelrechte Schockwelle aus. In den Kirchen der Welt versammelten sich Gläubige, die für Papst Benedikt zu beten begannen. Die Oberhäupter zahlreicher Bischofskonferenzen, so wie der Chef der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing, aber auch Kardinal Rainer Maria Woelki schrieben Gebete für den Papst und setzten Andachtsstunden in ihren Kirchen an. Redaktionen der ganzen Welt schickten blitzartig Reporterteams nach Rom. Innerhalb weniger Stunden tauchten Dutzende von Kamerateams vor der Peterskirche auf. Die Frage, die alle beschäftigte, war: Warum hatte der Papst das gesagt? Wenn Franziskus öffentlich sagte, dass Joseph Ratzinger sehr schwer krank sei, bedeutete das, dass sein Ableben unmittelbar bevorstand? Die meisten Reporterteams gingen davon aus, dass es nur noch eine Frage weniger Stunden sein könne, bis sie die Nachricht vom Tod Benedikts XVI . verbreiten würden. Die Frage war, was dann geschehen würde. Es gab keinerlei Vorbilder oder Regeln für einen solchen Fall. Es bestand aber durchaus die Möglichkeit, dass der Papst den zurückgetretenen Benedikt XVI . mit dem Ritual, das für einen Papst gedacht war, am Ende seines Lebens ehren wollte. In dem Fall gab es zumindest die Gewissheit, dass die Peterskirche geschlossen werden würde, um die Aufbahrung des verstorbenen Papstes vorzubereiten. Deswegen waren Dutzende Kameras auf den Eingang der Peterskirche gerichtet. Aber an diesem Donnerstag, dem 29. Dezember 2022, geschah überhaupt nichts. Im Laufe dieser Stunden wurden die Mutmaßungen über den Zustand von Joseph Ratzinger immer fantasievoller.
Für einen Mann erwies sich dieser Tag als ganz besonders tragisch. Josef Clemens gehört zu den engsten Freunden, die Joseph Ratzinger in seinem Leben begleitet haben. Sie lernten sich vor über 40 Jahren kennen. Clemens wohnte damals in dem sogenannten Prälatentrakt des Gästehauses am Deutschen Friedhof in Rom. Für die Bewohner dieses Gebäudes mit der wahrscheinlich schönsten Dachterrasse der Stadt Rom war der Aufenthalt dort nicht immer angenehm, weil nur wenige Zimmer ein eigenes Bad besitzen. Clemens arbeitete zu der Zeit an seiner Promotion in Moraltheologie über Menschenrechte und beschloss, seinen Mut zusammenzunehmen, als er hörte, dass der berühmteste deutsche Theologe der damaligen Zeit, Professor Joseph Ratzinger, in demselben Gebäude übernachtete. Joseph Ratzinger war zu dem Zeitpunkt von Papst Johannes Paul II . zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt worden, aber seine Wohnung an der Piazza della Città Leonina musste renoviert werden und war noch nicht bezugsfertig. In dem Zimmer am Campo Santo konnte der Kardinal nicht bleiben, weil er mit seiner Schwester Maria weiter zusammenleben wollte. Clemens ging also hinüber zu dem berühmten Mann, der eines der komfortablen Zimmer bewohnte, und stellte ihm seine Arbeit vor. Keiner der beiden konnte sich vorstellen, dass sie weit über 20 Jahre wie Vater und Sohn als Präfekt der Glaubenskongregation und als dessen Sekretär miteinander leben würden. Joseph Ratzinger hatte seit dem Jahr 1959 auf eine einzige echte Stütze in seinem Leben vertraut, seine ältere Schwester Maria Ratzinger. Nachmittags gingen die beiden Geschwister häufig in Rom durch den Stadtteil Borgo im Vatikan und machten Besorgungen oder tranken irgendwo einen Tee, denn sein ganzes Leben lang hatte Joseph Ratzinger nie wirklich Kaffee gemocht. Das seltsame Paar fiel auch deshalb sofort auf, weil der Präfekt der Glaubenskongregation Ratzinger kerzengerade durch die Straßen ging und seine viel kleinere Schwester neben ihm wie gebeugt wirkte, als müsse sie sich entschuldigen. Es war eine sehr innige Verbindung. Die ältere Schwester achtete auf den jüngeren Bruder. Ich erinnere mich an ein Abendessen, nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, dass Joseph Ratzinger ein kleines medizinisches Problem habe. Bei einer Einladung hatten ihm die Gastgeber die von ihm geliebte ausgesprochen herzhafte Kost serviert. Doch seine Schwester hatte sowohl das Bierglas als auch den Teller mit dem Schweinebraten weggenommen und gesagt: »Joseph, das darfst du doch nicht.« Maria war die unangefochtene Herrscherin im Hause des Präfekten der Glaubenskongregation. Besucher mussten die Schuhe ausziehen, Schmutz wurde im Haus nicht geduldet. Das ganze Ausmaß dieser geschwisterlichen Liebe zeigte sich erst in der Trauer Joseph Ratzingers nach dem Tod seiner Schwester 1991. Er schien untröstlich. Zu diesem Zeitpunkt bekam seine Freundschaft zu seinem Sekretär Josef Clemens eine ganz neue Qualität. Legendär waren die Ausflüge, die dieser organisierte. Schließlich hatte er gegenüber seinem Chef Ratzinger den Vorteil, einen Führerschein zu besitzen, während der Präfekt der Glaubenskongregation stets betonte, dass Auto zu fahren für ihn nicht zu bewältigen sei. Sobald Joseph Ratzinger und seine Gäste vor Ausflügen in den VW Golf von Josef Clemens gestiegen waren, sorgte der Sekretär dafür, dass im Kassettenrekorder das Lied »O du mein Bayernland« lief, während er über einen eigens installierten Mechanismus mit dem Fuß eine kleine Bayernflagge an der Antenne des Autos hisste.
Nur gegenüber Josef Clemens erlaubte sich der Präfekt der Glaubenskongregation Ratzinger seine seltenen Wutausbrüche. Wenn Josef Clemens wieder einmal mit einem großen Aktenstapel in das Büro seines Chefs kam, konnte es passieren, dass dieser die Akten auf den Tisch knallte und schrie: »Wann soll ich das eigentlich alles lesen?«
Im Laufe der Jahre wurde die Freundschaft zwischen diesen beiden Männern immer enger. Nach über 20 Jahren treuer Dienste zeichnete sich im Jahr 2003 ab, dass der Chef der Glaubenskongregation innerhalb der kommenden Jahre nach Deutschland zurückgehen könne. Er hatte bereits seinen Rücktritt eingereicht, der aber abgelehnt worden war. In Abstimmung mit Joseph Ratzinger beschloss die Personalverwaltung des Vatikan, Josef Clemens die Möglichkeit zu bieten, in Rom und im Kontakt mit Joseph Ratzinger zu bleiben, auch wenn er nicht mehr sein Sekretär war. Sie boten ihm den Posten des Untersekretärs in der Kongregation für die Institute des geweihten Lebens an, die für die religiösen Orden zuständig ist, den er annahm. Von dort wechselte er zum Laienrat und wurde zum Bischof geweiht, er sollte den Weltjugendtag in Köln im Jahr 2005 mit vorbereiten. Joseph Ratzinger weihte ihn persönlich in der Apsis des Petersdoms zum Bischof. Es gehört zur Tragik Joseph Ratzingers, dass er nach seiner Wahl zum Papst Josef Clemens nicht als Privatsekretär zurückholen konnte. Ein Bischof konnte aus seiner Sicht kein Sekretär sein. Er war auf einen ganz neuen Mitarbeiter angewiesen, Georg Gänswein.
An diesem 29. Dezember hatten sich die Nachrichten des kritischen Gesundheitszustandes von Joseph Ratzinger auf der ganzen Welt verbreitet, aber Josef Clemens saß in Deutschland fest. Er hatte in dem westfälischen Werl eine Predigt halten sollen. Jetzt versuchte der langjährige Sekretär alles, um so schnell wie möglich mit einem Flugzeug zurück nach Rom zu kommen, um dem Mann, der nahezu sein ganzes Leben bestimmt hatte, Auf Wiedersehen zu sagen. Clemens traf am Nachmittag des 30. Dezember in Rom ein.
Dieser Tag vor Silvester zeigte auf eindrucksvolle Weise, wie sehr sich die Medienlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten geändert hatte. Am Mittwoch hatte der Papst verkündet, dass Benedikt XVI . sehr krank sei, daher war am Mittwoch und Donnerstag eine ganze Armee von Reportern nach Rom gekommen, um den offenbar unmittelbar bevorstehenden Tod Joseph Ratzingers in der Welt zu verbreiten. Da aber am 29. Dezember nichts Dramatisches geschehen war und noch am 30. Dezember der Vatikan bestätigt hatte, dass Joseph Ratzinger bei Bewusstsein sei und an der heiligen Messe teilgenommen habe, beschlossen zahlreiche Redaktionen, die Reporter wieder zurückzurufen. Das zeigte eine drastische Veränderung im Verhalten der Medien, die immer stärker auf ihre Kosten achten müssen. Im März 2005, als Papst Johannes Paul II . dem Ende seines Lebens entgegenging, campierten Heerscharen von Reportern noch über Wochen in Rom. Jetzt war die Geduld der Redaktionen schon nach zwei Tagen erschöpft, und am Abend des 30. Dezember und am Morgen des 31., dem Silvestermorgen, reisten zahlreiche Reporter wieder ab. Das hatte auch damit zu tun, dass es noch keine bestätigten Berichte darüber gab, ob Joseph Ratzinger die sogenannte Krankensalbung empfangen hatte. Dieses Sakrament können Priester Kranken spenden, häufig vor allem sehr schwer Kranken, die dem Tod entgegensehen. Daher nannte der Volksmund dieses Sakrament auch lange »die letzte Ölung«. Aber es gab keinerlei Bestätigung dafür, dass der ehemalige Papst dieses Sakrament bereits empfangen hatte. Ein zweiter Aspekt schien darauf hinzudeuten, dass der Vatikan nicht mit dem unmittelbar bevorstehenden Tod des Papa emeritus rechnete. Der Dankgottesdienst zum Jahresende, das Te Deum, das für den Nachmittag des 31. Dezember geplant worden war, sollte stattfinden. Für diesen Gottesdienst musste aber die Peterskirche bestuhlt werden. Das bedeutete, dass fast einen ganzen Tag lang die Angestellten Tausende Stühle aufstellen mussten. Wenn der Vatikan damit rechnete, dass Joseph Ratzinger in den nächsten Stunden sterben würde, dann machte diese Bestuhlung keinen Sinn. Dann musste nämlich der Petersdom geräumt werden, um die Aufbahrung des verstorbenen ehemaligen Papstes vorzubereiten.
Es war Zufall, dass ich am Samstag, dem 31. Dezember, ausgerechnet im Palazzo Colonna in Rom war, an der Stelle, an der ich im Frühjahr des Jahres 2005 zum letzten Mal mit Joseph Ratzinger ausführlich gesprochen hatte, bevor er zum Papst gewählt wurde. Dort stellte er das letzte Buch von Papst Johannes Paul II . vor, das Erinnerung und Identität hieß. Das Buch sollte in der wunderschönen Galerie des Palastes präsentiert werden, und zufällig traf ich dort mit Joseph Ratzinger zusammen. Wir stiegen beide in den Fahrstuhl, zusammen mit dem damaligen Papstsprecher Joaquín Navarro-Valls.
»Werden Sie der nächste Papst sein«, hatte ich ihn gefragt, »oder wollen Sie nach Bayern zurückgehen, wenn Papst Johannes Paul II . gestorben ist?« Er sagte zu mir: »Papst sein, das könnte ich nie, und die Vorbereitung für die Rückkehr nach Deutschland habe ich schon getroffen.«
An diesem 31. Dezember, 17 Jahre später, stand ich vor demselben Fahrstuhl, als mein Handy piepste und ein Kollege die Nachricht übermittelte: Joseph Ratzinger ist tot, er starb um 9.34 Uhr.
Es ist wieder ein Samstag, dachte ich als Erstes. Auch Papst Johannes Paul II . war an einem Samstag gestorben, also an dem Tag, an dem die katholische Kirche sich auf den Tag Gottes, den Sonntag, vorbereitet. Wie seltsam, dachte ich, Joseph Ratzinger hatte von sich gesagt, dass er das Alte und das Neue gleichzeitig sei. Dann konnte es keinen passenderen Tag zu gehen für ihn geben als den 31. Dezember, den Tag, an dem beides gefeiert wird. Das Alte, das zu Ende geht, und das Neue, das beginnt.
Ich fuhr zum improvisierten Pressesaal des Vatikan, der in der Nähe des Hauptquartiers der Jesuiten am Vatikan lag. Meine Kollegen und ich warteten auf die offizielle Bestätigung durch den Papstsprecher Matteo Bruni, der in knappen Worten erklärte, dass Papst Benedikt XVI . bereits in den Tagen zuvor die Krankensalbung erhalten habe und am Vormittag verstorben sei.
Es war sicherlich tragisch, dass ausgerechnet Josef Clemens an diesem Tag zu spät kam. Er hatte am Vormittag des 31. Dezember nachgefragt, ob er heute vorbeikommen könne, um seinen alten Chef zu sehen, aber aus dem Kloster Mater Ecclesiae erfahren, dass Benedikt XVI . bereits gestorben war. An diesem Vormittag kam er an das Totenbett seines früheren Vorgesetzten, nicht lange nachdem der erste Besucher überhaupt gekommen war, nämlich Papst Franziskus. Der hatte es sich nicht nehmen lassen, vor allen anderen am Totenbett seines Vorgängers zu beten.
Der Vatikan veröffentlichte zu diesem Zeitpunkt Einzelheiten über die Umstände des Todes. Der ehemalige Papst habe in der Nacht zum 31. Dezember das Bewusstsein verloren und sei dann ohne Schmerzen regelrecht entschlafen. Rom erlebte an diesem Tag einen der seltsamsten Jahreswechsel seiner Geschichte. Während die Stadt sich auf die Feier zum Beginn des neuen Jahres freute, begannen im Vatikan die Vorbereitungen für das Begräbnis Joseph Ratzingers. Papst Franziskus traf an diesem 31. Dezember eine historische Entscheidung. Nie zuvor hatten zwei Päpste im Vatikan gelebt, und nur ein einziges Mal in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche hatte ein Papst einen anderen Papst zu Grabe getragen. Der einzige Papst in der Geschichte der Kirche, der vor Papst Benedikt XVI . freiwillig zurücktrat, Papst Coelestin V., der nur in dem einen Jahr 1294 auf dem Thron Petri saß, war von seinem Nachfolger, Papst Bonifatius VIII ., gefangen genommen und in einem Turm in Mittelitalien, bei Fumone, eingesperrt worden. Er erkrankte in der winzigen Zelle des Turms und starb im Jahr 1296.
Die Frage war, in welcher Art und Weise der Verstorbene geehrt werden sollte. Wer war dieser Mann? Galt er als ein zurückgetretener Papst, oder aber hatte der Rücktritt zur Folge, dass Joseph Ratzinger nichts weiter war als ein alter Priester? Franziskus traf die Entscheidung, dass der Papa emeritus mit allen Ehren wie ein Papst beigesetzt werden sollte. Dazu gehörte auch die Aufbahrung in der Peterskirche. Das war eine mutige Entscheidung, denn im Grunde war Joseph Ratzinger, seitdem das Zeichen seiner Würde, der Fischerring, annulliert worden war, eindeutig kein Papst mehr. Der Ring war nicht zertrümmert, sondern mit einem großen X ungültig gemacht worden. Im Mittelalter hatten diese Ringe der Päpste eine große Bedeutung gehabt, weil diese damit ihr Siegel in das heiße Wachs drückten und wichtige Dokumente so zu einem notariellen Akt erhoben. Der Vatikan kündigte am Samstag an, dass der Leichnam Joseph Ratzingers bis zum Montagmorgen in der Kapelle des Klosters Mater Ecclesiae aufgebahrt werde. Am Montagmorgen werde die Leiche dann in den Petersdom überführt, und für drei Tage könnten die Gläubigen jeweils von 9.00 Uhr bis abends um 19.00 Uhr von diesem Papst Abschied nehmen. Am Mittwochabend sollte dann die Peterskirche geschlossen werden, um das Begräbnis vorzubereiten.
Ich hatte an diesem Montag, dem 2. Januar 2023, um 9.00 Uhr morgens, also zufällig zur selben Zeit, im Borgo Pio am Vatikan einen Termin, als die Pforten der Peterskirche für die Pilger geöffnet wurden. Ich hatte mir zu Hause meinen Fahrradhelm und meine Batterie für mein E-Bike geschnappt und verließ meine Wohnung, als es mich plötzlich eiskalt überlief. Was war, wenn in dieser Nacht das eingetroffen sein sollte, was im April 2005 geschehen war? Auch damals hatte ich an dem ersten Tag, an dem die Pilger von einem Papst Abschied nehmen konnten, in den Vatikan fahren müssen. Der Tag gehört zu den unglaublichsten meines ganzen Lebens. Ich hatte damals mit meiner geliebten Vespa versucht, über die ganz gewöhnlichen Zufahrtsstraßen zum Vatikan zu kommen, aber die römische Innenstadt hatte sich über Nacht in ein unfassbares Chaos verwandelt. Die Straßen der Stadt, die normalerweise zwischen 400 000 und 500 000 Menschen aufnehmen müssen, wurden von über drei Millionen Pilgern überrannt. Es ging überhaupt nichts mehr. Die Erinnerung erzeugte in mir eine gewisse Panik. Ich musste unbedingt zu dem Termin am Vatikan, aber wenn auch nur annähernd das geschehen sein sollte, was damals im Jahr 2005 passiert war, hätte ich nicht die geringste Chance, innerhalb der nächsten Stunden auch nur in die Nähe des Ortes zu kommen, wo ich dringend erwartet wurde. Wenn sich die Situation tatsächlich wiederholen sollte, dann hätte ich vor Stunden, mitten in der Nacht, aufstehen müssen, um pünktlich an der vereinbarten Stelle zu sein. Damals hatten vor allem Reisebusse die Stadt so vollkommen verstopft, dass es der Polizei trotz aller Anstrengungen nicht gelang, Korridore zu schaffen.
Ich erinnere mich, dass ich damals im Pressesaal schlafen musste, weil es keine Möglichkeit gab, nach Hause zu kommen und wieder zurück an den Arbeitsplatz, und auch, dass die Millionen Menschen, die den Petersplatz umlagerten, die Reste der Lagerbestände der Restaurants und Bars vollständig aufgebraucht hatten. Die Preise schossen auf Schwarzmarkt-Höhe, und ich weiß noch, dass ich für eine Dose Cola 20 Euro bezahlen musste. Mit diesen Erinnerungen im Kopf schwang ich mich auf mein E-Bike und radelte in Richtung Peterskirche. Ich war schon ungeheuer froh, dass ich es ohne große Probleme bis zur Piazza Argentina schaffte. Von dort hätte ich zu Fuß meine Verabredung mit etwa einer halben Stunde Verspätung noch erreichen können. Aber ich konnte immer weiter radeln, ohne jedes Problem, erreichte, obwohl ich es kaum glauben konnte, zügig den Tiber und sah dann zu meiner völligen Überraschung eine nahezu leere Via della Conciliazione. Nur wenige Tausend Pilger hatten sich auf dem Petersplatz versammelt, um sich von Joseph Ratzinger zu verabschieden. Nach meinem Termin stellte ich mich auch in die Schlange und konnte es kaum glauben, dass ich weniger als 40 Minuten anstehen musste, um vor dem aufgebahrten Leichnam von Benedikt XVI . Abschied zu nehmen. Meine Journalistenkollegen warteten vor der Statue des heiligen Andreas auf mich, und wir erinnerten uns zusammen an die vielen Jahre, in denen wir Joseph Ratzinger gefolgt waren. Die nächsten Tage sollten zeigen, dass die Anteilnahme am Tod Joseph Ratzingers sich mit dem dramatischen Sterben von Papst Johannes Paul II . in keiner Weise vergleichen lassen konnte. Nach den Schätzungen des Vatikans kamen etwa 195 000 Menschen in den Petersdom, um sich von dem Papa emeritus zu verabschieden. Die Wartezeiten betrugen nie mehr als etwa eine Stunde. Zu dem aufgebahrten Leichnam in der Peterskirche von Papst Johannes Paul II . waren über drei Millionen Menschen gepilgert, die Wartezeiten hatten bei über 20 Stunden gelegen.
Dann kam der Tag des Begräbnisses, der 5. Januar 2023. Als ich an diesem Morgen durch den dichten Nebel auf den Petersplatz zuradelte, hätte ich nie für möglich gehalten, welche Überraschung mich dort erwartete. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, was in den kommenden Stunden geschehen würde. Alles war bis ins kleinste Detail geplant. Schon am Abend zuvor war der Leichnam des aufgebahrten Papstes in den dreifachen Sarg gelegt worden, wie er im Vatikan üblich ist. Der innere Sarg besteht aus Zedernholz, er wird in einen Zinksarg gelegt, der verschweißt wird, der wiederum wird schließlich in einen Eichensarg eingelassen. Der Privatsekretär des Papstes, Erzbischof Georg Gänswein, hatte das Gazetuch auf das Gesicht des Papstes gelegt. Die Plaketten seiner Regierungszeit und die Zeichen seiner Würde, die Pallien, waren in den Sarg gelegt worden. Anschließend hatte der Zeremonienmeister das sogenannte Rogitum verlesen, eine Art Zusammenfassung der Entscheidungen des Papstes. Dieser Brauch stammt noch aus dem römischen Kaiserreich, es ähnelt einem notariellen Akt. Anschließend wird der Text des Rogitum in einer Metallhülle in den Sarg des Papstes gelegt.
Es war noch nicht lange hell, als ich den Petersplatz erreichte, und alles war in dichten Nebel gehüllt, für Rom war es empfindlich kalt. Wie bei diesen Anlässen üblich, hatte der Vatikan die Terrasse auf dem sogenannten Braccio di Carlo Magno auf der linken Seite des Petersplatzes für die Journalisten reserviert. Am Tag der Beerdigung von Papst Johannes Paul II . war es zum größten Treffen der Staatschefs in der Geschichte der Erde gekommen, 200 Staatsoberhäupter und über eine Million Menschen hatten an dem Totengottesdienst teilgenommen. Nach den Schätzungen der vatikanischen Gendarmerie hatten sich an diesem Morgen auf dem Petersplatz knapp 50 000 Gläubige versammelt. Aber auch das war auf eine gewisse Art und Weise zu erwarten gewesen. Benedikt XVI . war schon seit über zehn Jahren nicht mehr im Amt, und die Verwicklungen in den Missbrauchsskandal der vergangenen Jahre hatten an seinem Image ganz erheblich gekratzt. Ein Kollege, der für eine sehr fromme italienische Agentur arbeitet, kam plötzlich auf mich zu und sagte: »Andreas, entweder ist das ein kolossal peinlicher Fehler, oder es ist eine Sensation.« Er meinte die Predigt des Papstes, die den Journalisten immer einige Stunden bevor sie gehalten wird zur Verfügung gestellt wird. Ich las sie und war vollkommen sicher, dass es ein Fehler war. Papstsprecher Matteo Bruni lief in diesem Augenblick zufällig gerade vor mir her. Ich fragte ihn: »Habt ihr da ausgerechnet am Tag des Begräbnisses die falsche Rede geschickt?«
Er sah mich einen Augenblick lang eindringlich an und sagte dann: »Nein, Andreas. Das ist die richtige Rede.«
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich gerade dabei war, eine der unglaublichsten Überraschungen in meinen 35 Jahren im Vatikan zu erleben. Was an diesem Morgen geschehen würde, hatte keiner von uns »Vaticanisti« in Zweifel gezogen. Joseph Ratzinger war tot. Papst Franziskus musste seinen Vorgänger, mit dem er sich so lange heftigste Auseinandersetzungen geliefert hatte, vor den Augen der ganzen Welt während eines Totengottesdienstes ehren. Wir waren uns sicher gewesen, dass der Papst an diesem Vormittag in seinen Reden so tun würde, als habe er ein inniges und herzliches Verhältnis mit ihm gepflegt und als habe er diesen deutschen Theologen, der ihn häufig bis aufs Messer bekämpft hatte, in Wirklichkeit über alle Maßen geschätzt. Keiner von uns hatte auch nur entfernt an die Möglichkeit gedacht, dass es anders sein könnte. Wir alle gingen davon aus, dass der Papst gar keine andere Wahl hatte. Die Welt erwartete das von ihm, die Kirche erwartete das von ihm, die Anhänger von Benedikt XVI . und die Staatsvertreter erwarteten das von ihm. Schließlich saßen auch der deutsche Bundespräsident, der deutsche Bundeskanzler, die spanische Exkönigin Sofia und der belgische König Philippe auf dem Platz. Franziskus musste eine warme persönliche Rede halten, die an den ehemaligen Papst erinnern würde, der im Jahr 2005 hier, genau an derselben Stelle, die Predigt in der Totenmesse von Papst Johannes Paul II . gehalten hatte. Joseph Ratzinger hatte in seiner Rede die Stationen im Leben von Johannes Paul II . nachgezeichnet, er hatte daran erinnert, dass der Herr ihn gerufen hatte, in das Amt des Priesters, des Bischofs, des Papstes. Ratzinger hatte seine Predigt darauf aufgebaut, den Gehorsam von Johannes Paul II . zu beschreiben. Gegen Ende der Predigt hatte er einen zutiefst emotionalen Satz gesagt, der damals die über eine Million Teilnehmer dieses Gottesdienstes, auch mich, zu Tränen gerührt hatte. Er hatte gesagt, dieser tote Papst stehe jetzt am Fenster des Hauses Gottes und schaue auf die Menge herab. Damals war eine Stille über diesen Platz gesunken, die einzigartig gewesen war. Ich hatte mir ausgemalt, wie Papst Franziskus in seiner Predigt ansetzen würde, und das wäre kein großes Problem gewesen, denn Joseph Ratzinger hatte den größten Teil seines Lebens in Rom verbracht. Hier war deutlich sein Leben dokumentiert, als Chef der Glaubenskongregation, dann seine überraschende Wahl zum Papst und dann vielleicht noch überraschender der historische Rücktritt, der für die einzigartige Situation im Vatikan sorgte, dass plötzlich zwei Päpste nebeneinander lebten. All das gab mehr als genug Stoff für eine sensationelle Predigt. Papst Franziskus konnte sich sicher sein, dass an diesem Vormittag ihm ein Großteil der Welt zuhören würde. Seine Entscheidung war dramatisch, unglaublich mutig und so einzigartig, dass ich mich frage, ob je wieder ein Papst in einem solchen Moment die Courage aufbringen könnte, einen solchen Entschluss zu fassen.
Franziskus beschloss, sich nicht zu verstellen, trotz des Drucks, trotz des Anlasses, trotz des Sargs seines Vorgängers, der vor ihm stand, und trotz der Trauernden. Er hielt eine theologische Rede, eine Rede, die er zu jedem anderen Anlass hätte halten können, in der sein Vorgänger, der Präfekt der Glaubenskongregation, der Papst des historischen Rücktritts, kaum vorkam. Ein einziges Mal, ganz zum Schluss, erwähnte er Joseph Ratzinger und sagte: »Benedikt, treuer Freund des Bräutigams, möge deine Freude vollkommen sein, wenn du seine Stimme endgültig und für immer hörst.«
Dieser Satz machte etwa ein Prozent der ganzen Predigt aus. Die Überraschung auf dem Petersplatz war zum Greifen. Stille herrschte, unter vielen Mitstreitern des Joseph Ratzinger eine geradezu bleierne Stille. Kein Wort des Dankes, keine Ehrung des Theologen, nicht einer seiner Kerngedanken, nicht einmal der, den jeder im Kopf hat, wenn er an den ehemaligen Papst denkt, nämlich: »Wer glaubt, ist nie allein«, hatte den Weg in diese Predigt gefunden. Aus Sicht seiner Anhänger war das überhart. Seltsamerweise sollten die Politiker, die nach dem Gottesdienst ihre Kommentare abgaben, auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, immer nur von der herzlichen Atmosphäre und dem feierlichen Gottesdienst sprechen. Dass der Papst in seiner Predigt Benedikt so gut wie nicht erwähnt hatte, übergingen sie. Auch ich war getroffen, überrascht, aber ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn ich jemals einen Menschen eine wirklich unfassbar mutige Rede habe halten hören, mit einer geradezu schonungslosen Ehrlichkeit, dann war das an diesem Tag. Ich bin mir sicher, dass es Franziskus schwergefallen ist. Sie waren anderer Meinung gewesen, sie hatten an völlig anderen Fronten gekämpft.
Eine Epoche ging jetzt zu Ende. Papst Franziskus hatte sein Amt in einer historisch einzigartigen Situation angetreten, ein zurückgetretener Papst hatte mit ihm im Vatikan gelebt und ihm einen erbitterten Kampf mit der Hilfe seiner Getreuen geliefert. Jetzt war diese einzigartige Phase in der Geschichte der Kirche zu Ende. Sie hatte Papst Franziskus alles abverlangt, sein ganzes Pontifikat geprägt. Die Kämpfe waren hart gewesen, seine Versuche, den Zölibat schrittweise abzuschaffen, waren am Widerstand der Ratzinger-Anhänger gescheitert, und auch seine Bemühungen, wiederverheirateten Geschiedenen den vollständigen Zugang zu den Sakramenten zu verschaffen, waren torpediert worden. Der Papst der Armen hatte einstecken müssen, und genau das würde seinen Platz in der Geschichte sichern. Vielleicht wären schon vor langer Zeit Historiker auf die Frage gekommen: Was würde im Vatikan eigentlich geschehen, wenn ein traditionsbewusster Papst zurücktreten sollte und ein Reformer sein Nachfolger würde? Die Antwort auf diese Frage hat Papst Franziskus in das dicke Buch der langen Geschichte der katholischen Kirche geschrieben.